18.10.2024
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Dokument-Nr. 18022

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Beschluss26.03.2014Bundesverfassungsgericht1 BvR 3185/09
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • NJW 2014, 1874Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2014, Seite: 1874
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Bundesverfassungsgericht Beschluss26.03.2014

Verfassungs­beschwerde gegen den gewerk­schaft­lichen Aufruf zu einer "Flashmob-Aktion" im Einzelhandel erfolglosBundes­verfassungs­gericht erklärt Flashmobs während eines Streiks im Einzelhandel für generell zulässig

Das Bundes­verfassungs­gericht hat die Verfassungs­beschwerde eines Arbeit­geber­verbandes gegen gewerk­schaftlich organisierte, streik­be­gleitende Flashmob-Aktionen im Einzelhandel nicht zur Entscheidung angenommen. Die Beschwer­de­führer wandten sich gegen arbeits­ge­richtliche Entscheidungen, die einen solchen Aufruf im konkreten Fall für zulässig hielten. Das Bundes­verfassungs­gericht verwies darauf, dass die fachge­richtliche Auslegung des Arbeits­kampfrechts die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Koali­ti­o­ns­freiheit des Beschwer­de­führers hinreichend berücksichtigt; daher ist die Verfassungs­beschwerde unbegründet.

Die im Ausgangs­ver­fahren beklagte Gewerkschaft veröffentlichte während eines Streiks im Einzelhandel im Jahr 2007 ein virtuelles Flugblatt mit der Frage "Hast Du Lust, Dich an Flashmob-Aktionen zu beteiligen?", bat Interessierte um die Handy-Nummer, um diese per SMS zu informieren, wenn man gemeinsam "in einer bestreikten Filiale, in der Streikbrecher arbeiten, gezielt einkaufen gehen" wolle, "z. B. so: Viele Menschen kaufen zur gleichen Zeit einen Pfennig-Artikel und blockieren damit für längere Zeit den Kassenbereich. Viele Menschen packen zur gleichen Zeit ihre Einkaufswagen voll (bitte keine Frischware!!!) und lassen sie dann stehen."

Klage auf Untersagung der Flashmob-Aktionen bleibt vor den Arbeits­ge­richten erfolglos

Im Dezember 2007 führte die Gewerkschaft in einer Filiale eines Einzel­han­dels­un­ter­nehmens eine solche Flashmob-Aktion durch. Es beteiligten sich etwa 40 bis 50 Personen; die Aktion dauerte zwischen 45 und 60 Minuten. Der Beschwer­de­führer ist ein Arbeitgeberverband für den Einzelhandel. Seine Klage mit dem Ziel, der Gewerkschaft den Aufruf zu weiteren derartigen Flashmobs zu untersagen, blieb vor den Arbeits­ge­richten in allen Instanzen erfolglos. Dagegen richtet sich die Verfas­sungs­be­schwerde.

Koali­ti­o­ns­freiheit des Beschwer­de­führers nicht verletzt

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass die angegriffenen fachge­richt­lichen Entscheidungen nicht die in Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Koali­ti­o­ns­freiheit des Beschwer­de­führers verletzen.

Die Wahl der Mittel für Arbeits­kampf­maß­nahmen freigestellt

Der Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG ist nicht auf Streik und Aussperrung als die traditionell anerkannten Formen des Arbeitskampfs beschränkt. Die Wahl der Mittel, die die Koalitionen zur Erreichung ihrer koali­ti­o­nss­pe­zi­fischen Zwecke für geeignet halten, überlässt Art. 9 Abs. 3 GG grundsätzlich ihnen selbst. Das Grundgesetz schreibt nicht vor, wie die gegensätzlichen Grund­rechts­po­si­tionen im Einzelnen abzugrenzen sind; es verlangt keine Optimierung der Kampf­be­din­gungen. Umstrittene Arbeits­kampf­maß­nahmen werden unter dem Gesichtspunkt der Propor­ti­o­nalität überprüft; durch den Einsatz von Arbeits­kampf­maß­nahmen soll kein einseitiges Übergewicht bei Tarif­ver­hand­lungen entstehen. Die Orientierung des Bundes­a­r­beits­ge­richts am Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit ist insofern nicht zu beanstanden.

Auslegungen und Entscheidungen der Fachgerichte nicht zu beanstanden

Danach lässt sich eine Verletzung des Beschwer­de­führers in seiner Koali­ti­o­ns­freiheit durch die angegriffenen Urteile nicht feststellen. Das Bundes­a­r­beits­gericht berücksichtigt insbesondere, dass sich durch die Teilnahme Dritter an Flashmob-Aktionen die Gefahr erhöhen kann, dass diese außer Kontrolle geraten, weil Dritte weniger beeinflussbar sind. Es setzt der - im Ausgangs­ver­fahren auch tatsächlich eingeschränkten - Teilnahme Dritter daher auch rechtliche Grenzen. So muss der Flashmob als gewerk­schaftlich getragene Arbeits­kampf­maßnahme erkennbar sein, was auch für Schaden­s­er­satz­for­de­rungen der Arbeitgeber bei rechtswidrigen Aktionen von Bedeutung ist. Das Bundes­a­r­beits­gericht hat sich auch mit der Frage nach wirksamen Gegenmaßnahmen der Arbeit­ge­berseite gegen einen streik­be­glei­tenden Flashmob intensiv ausein­an­der­gesetzt. Es ist nicht Aufgabe des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts, eine eigene Einschätzung zur praktischen Wirksamkeit von Reakti­o­ns­mög­lich­keiten der Arbeit­ge­berseite an die Stelle derjenigen der Fachgerichte zu setzen, solange diese nicht einer deutlichen Fehlein­schätzung folgen. Eine solche ist hier nicht erkennbar. Das Bundes­a­r­beits­gericht berücksichtigt insbesondere auch die Interessen der Arbeit­ge­berseite. Gegen die fachge­richtliche Einschätzung, das Hausrecht und die vorübergehende Betrie­bs­s­till­legung seien als wirksame Vertei­di­gungs­mittel anzusehen, ist verfas­sungs­rechtlich daher nichts zu erinnern.

Beschwer­de­führer nicht in Grundrechten verletzt

Der Beschwer­de­führer kann zudem nicht mit Erfolg geltend machen, er sei in seinen Grundrechten aus Art. 9 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG verletzt, weil die angegriffenen Urteile die verfas­sungs­recht­lichen Grenzen richterlicher Rechts­fort­bildung missachteten. Die Gerichte sind aufgrund des Justi­z­ge­währ­leis­tungs­an­spruchs verpflichtet, wirkungsvollen Rechtsschutz zu bieten. Sie müssen bei unzureichenden gesetzlichen Vorgaben mit den anerkannten Methoden der Rechtsfindung aus den bestehenden Rechts­grundlagen ableiten, was im Einzelfall gilt. Entschieden die Gerichte für Arbeitssachen arbeits­kampfrechtliche Streitigkeiten mit Hinweis auf fehlende gesetzliche Regelungen nicht, verhielten sie sich ihrerseits verfas­sungs­widrig.

Beurteilung der Flashmob-Aktionen als zulässig unterliegt keinen verfas­sungs­recht­lichen Bedenken

Es unterliegt von Verfassungs wegen auch keinen Bedenken, dass das Bundes­a­r­beits­gericht die Flashmob-Aktionen auf der Grundlage geltenden Rechts nach Maßgabe näherer Ableitungen aus dem Verhält­nis­mä­ßig­keits­grundsatz nicht als generell unzulässig beurteilt.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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