21.11.2024
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Dokument-Nr. 20470

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Beschluss02.12.2014Bundesverfassungsgericht1 BvR 3106/09
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • NJW 2015, 610Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2015, Seite: 610
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Bundesverfassungsgericht Beschluss02.12.2014

Übermittlung von Daten aus Gerichtsakten an eine nicht verfahrens­beteiligte Behörde muss gerichtlich überprüfbar seinFachgerichte müssen Recht­schutz­möglichkeiten zur Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes auslegen

Das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz verlangt, dass die Übermittlung von Akten­be­stand­teilen während eines zivil­ge­richt­lichen Verfahrens an eine nicht an diesem Verfahren beteiligte Behörde gerichtlich überprüfbar ist. Dies entschied das Bundes­verfassungs­gericht. Die Fachgerichte haben die vom Gesetzgeber bereit­ge­stellten Recht­schutz­möglichkeiten so auszulegen und anzuwenden, dass dem Ziel genügt wird, wirkungsvollen Rechtsschutz zu gewährleisten. Eine Auslegung, die zu Lücken in dem vom Gesetzgeber als umfassend konzipierten Rechtsschutz führt, wird den Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 GG nicht gerecht.

Der Beschwer­de­führer des zugrunde liegenden Verfahrens war als Beamter mit der Bearbeitung von Asylanträgen betraut. Über eine Kontaktanzeige lernte er eine Frau kennen, die erfolglos Asyl beantragt hatte. Zwischen dem Beschwer­de­führer und dieser Frau kam es zu mehreren Treffen, bei denen eine gemeinsame Tochter gezeugt wurde. Da der Beschwer­de­führer die Vaterschaft nicht anerkannte, strengte die Kindesmutter ein famili­en­ge­richt­liches Verfahren zur Feststellung der Vaterschaft an, das vor dem Amtsgericht und dem Oberlan­des­gericht geführt wurde.

Amtsgericht bejaht Aushändigung von Kopien des OLG-Beschlusses mit geschwärzten Namen an Dienstbehörde

Die Dienstbehörde des Beschwer­de­führers bat das Amtsgericht um Mitteilung, ob Presseberichte über einen Beschluss des Oberlan­des­ge­richts zuträfen, dass der Beschwer­de­führer sich „durch wahrheits­widrige Behauptungen Vorteile verschaffen“ habe wollen. Das Ersuchen erfolge im Hinblick auf die Prüfung dienst­recht­licher Maßnahmen. Der am Amtsgericht mit dem famili­en­ge­richt­lichen Verfahren befasste Richter verfügte daraufhin ohne weitere Begründung, der Dienstbehörde „unter Bezugnahme auf die Anfrage“ Kopien des Beschlusses des Oberlan­des­ge­richts mit geschwärztem Namen der Mutter zu übersenden.

Beschwer­de­führer hält Weitergabe von Akten­be­stand­teilen für rechtswidrig

Der Beschwer­de­führer beantragte beim Oberlan­des­gericht daraufhin die Feststellung, dass die Weitergabe von Akten­be­stand­teilen aus seinem nicht öffentlich verhandelten famili­en­recht­lichen Verfahren an die nicht verfah­rens­be­teiligte Dienstbehörde rechtswidrig gewesen sei. Das Oberlan­des­gericht wies den Antrag als unzulässig zurück; das Verfahren nach §§ 23 ff. des Einfüh­rungs­ge­setzes zum Gerichts­ver­fas­sungs­gesetz (EGGVG) sei vorliegend nicht eröffnet. Gegen diesen Beschluss richtet sich die Verfas­sungs­be­schwerde.

BVerfG rügt Eingriff in Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass die angegriffene Entscheidung des Oberlan­des­ge­richts den Beschwer­de­führer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verletzt. Entgegen der Ansicht des Oberlan­des­ge­richts kann dem Beschwer­de­führer Rechtsschutz nicht mit dem Hinweis darauf verweigert werden, dass die Übermittlung von Akten­be­stand­teilen an eine nicht verfah­rens­be­teiligte Behörde während eines Verfahrens spruch­rich­terliche Tätigkeit sei.

Art. 19 Abs. 4 GG enthält ein Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen gerichtlichen Schutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt. Nicht zur öffentlichen Gewalt im Sinne dieser Bestimmung gehören allerdings Akte der Rechtsprechung. Der Begriff der recht­spre­chenden Gewalt wird maßgeblich von der konkreten sachlichen Tätigkeit her bestimmt; typischerweise handelt es sich hierbei um die letzt­ver­bindliche Klärung der Rechtslage in einem Streitfall im Rahmen besonders geregelter Verfahren.

Erteilung von Auskünften an Behörde ist als Verwal­tung­s­tä­tigkeit anzusehen und unterliegt daher dem effektiven Rechtschutz

Zwar ist die Entscheidung des Rechtsstreits zwischen dem Beschwer­de­führer und der Mutter seiner Tochter um die Anerkennung der Vaterschaft Rechtsprechung in diesem Sinne. Da die Übersendung des oberlan­des­ge­richt­lichen Beschlusses an die nicht verfah­rens­be­teiligte Dienstbehörde auf deren Ersuchen der Erfüllung ihrer eigenen behördlichen Aufgaben, nicht aber der Entscheidung des Rechtsstreits zwischen dem Beschwer­de­führer und der Kindesmutter diente, kann die Übersendung nicht allein deshalb, weil sie aus einem laufenden Rechtsstreit heraus erfolgte, als spruch­rich­terliche Tätigkeit qualifiziert werden. Ebenso wenig geht es bei einer solchen Mitteilung um Streitbeilegung oder die letzt­ver­bindliche Klärung der Rechtslage in dem zugrun­de­lie­genden Rechtsstreit und damit um Rechtsprechung. Die im vorliegenden Fall erfolgte Erteilung von Auskünften an eine Behörde im Rahmen von Art. 35 Abs. 1 GG ist deshalb im Ergebnis als Verwal­tung­s­tä­tigkeit anzusehen, die grundsätzlich von der Garantie des Art. 19 Abs. 4 GG umfasst ist.

Wirkungsvoller Rechtsschutz in unzumutbarer Weise verwehrt

Die Auslegung und Anwendung des maßgeblichen Verfah­rens­rechts durch das Oberlan­des­gericht verwehren dem Beschwer­de­führer wirkungsvollen Rechtsschutz in unzumutbarer Weise. Die in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgte Effektivität des Rechtsschutzes wird in erster Linie von den Prozess­ord­nungen gesichert. Ebenso wie der Gesetzgeber bei der normativen Ausgestaltung der Prozess­ord­nungen müssen die Gerichte bei der Auslegung und Anwendung dieser Normen das Ziel der Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG verfolgen. Insbesondere dürfen sie den Zugang zu den Rechtsuchenden eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu recht­fer­ti­gender Weise erschweren. Von solchen rechts­schutz­freund­lichen Ausle­gungs­grund­sätzen muss sich das Gericht auch bei der Antwort auf die Frage leiten lassen, ob der vom Gesetzgeber grundsätzlich bereitgestellte Rechtsschutz im Einzelfall eröffnet ist.

Dem wird die Entscheidung des Oberlan­des­ge­richts nicht gerecht. Der Gesetzgeber stellt hier Rechts­schutz­mög­lich­keiten bereit, deren Auslegung und Anwendung durch das Oberlan­des­gericht dem Ziel der Gewährleistung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes nicht genügen.

OLG nimmt eine jeglichen Rechtsweg ausschließende Auslegung der Sachlage vor

Die Übermittlung von perso­nen­be­zogenen Daten aus den Akten zivil­ge­richt­licher Verfahren an private Dritte und an andere Gerichte oder an Behörden und der hiergegen eröffnete Rechtsschutz sind nicht einheitlich und an verschiedenen Stellen geregelt. Den einschlägigen Vorschriften ist jedoch gemein, dass für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Übermittlung im Verfahren nach §§ 23 ff. EGGVG der Rechtsweg zum Oberlan­des­gericht eröffnet wird, sofern kein anderer Rechtsweg zur Verfügung steht. Dies legt die Intention des Gesetzgebers nahe, in allen genannten Konstellationen eine Möglichkeit zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Daten­über­mittlung zu eröffnen. Daher hätte eine Auslegung der maßgeblichen Vorschriften, die auch dem Beschwer­de­führer den Rechtsweg nach §§ 23 ff. EGGVG eröffnet hätte, dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes entsprochen und die Grenze zulässiger Auslegung einfachen Rechts nicht überschritten. Demgegenüber hat das Oberlan­des­gericht eine Auslegung vorgenommen, die gerade und allein für den Fall, dass Daten aus schwebenden Verfahren an öffentliche Stellen auf deren Ersuchen übermittelt werden, jeglichen Rechtsweg ausschließt. Dies steht in Widerspruch zu Art. 19 Abs. 4 GG.

Dienstbehörde erhält Kenntnis von höchst­per­sön­lichen Daten, bevor der Beschwer­de­führer Rechtsschutz erlangen kann

Der Hinweis des Oberlan­des­ge­richts, der Beschwer­de­führer könne in einem gerichtlichen Verfahren gegen eine möglicherweise ergehende Diszi­pli­na­r­ver­fügung ein etwaiges verfas­sungs­recht­liches Verwer­tungs­verbot geltend machen, ist hier nicht tragfähig. Die Dienstbehörde erhält schon durch die Übermittlung Kenntnis von höchst­per­sön­lichen Daten, bevor der Beschwer­de­führer Rechtsschutz erlangen oder sich überhaupt äußern kann. Selbst der nachgelagerte Rechtsschutz steht dem Beschwer­de­führer nur dann offen, wenn es tatsächlich zu einer Verwertung der übermittelten Daten kommt. Verwertet die Dienstbehörde die übermittelten Daten nicht oder unterbleibt eine im Rechtsweg angreifbare Diszi­pli­na­rent­scheidung aus anderen Gründen, hat der Beschwer­de­führer keine Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit der Übermittlung gerichtlich überprüfen zu lassen.

Verfahren zur erneuten Entscheidung an das Oberlan­des­gericht zurückverwiesen

Das Verfahren wird zur erneuten Entscheidung an das Oberlan­des­gericht zurückverwiesen. Hierbei wird zu berücksichtigen sein, dass die Übermittlung, die einen Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbst­be­stimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG des Beschwer­de­führers begründet, nicht allein auf Art. 35 Abs. 1 GG gestützt werden kann, sondern einfach­ge­setzlich geregelt sein muss. Ebenso wird das Oberlan­des­gericht die verfas­sungs­recht­lichen Bewer­tungs­maßstäbe in den Blick zu nehmen haben, die bei der Weitergabe von höchst­per­sön­lichen Akteninhalten an die Dienstbehörde zu beachten sind.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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