18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss02.11.2016

Polizeiliche Maßnahmen zur Identitäts­feststellung gegen gesamte Gruppe von Versammlungs­teilnehmern zulässigVerfassungs­beschwerde gegen Identitäts­feststellung und Freiheits­ent­ziehung im Rahmen einer Versammlung erfolglos

Das Bundes­verfassungs­gericht hat eine Verfassungs­beschwerde gegen die polizeiliche Identitäts­feststellung und die damit verbundene Freiheits­ent­ziehung durch Einkesselung bei einer Demonstration in Frankfurt am Main nicht zur Entscheidung angenommen. Zwar erfordert der Verdacht einer Straftat eine hinreichend objektive Tatsa­chen­grundlage und muss auf einen konkreten Versammlungs­teilnehmer bezogen sein. Dies schließt allerdings nicht aus, dass auch gegen eine ganze Gruppe von Versammlungs­teilnehmern polizeiliche Maßnahmen zur Identitäts­feststellung getroffen werden, wenn sich aus deren Gesamtauftreten ein Verdacht auch gegenüber den einzelnen Mitgliedern der Gruppe ergibt und das Vorgehen die übrigen Versammlungs­teilnehmer so weit wie möglich ausspart.

Der Beschwer­de­führer des zugrunde liegenden Verfahrens nahm im Juni 2013 an einer Demonstration zum Thema "Europäische Solidarität gegen das Krisenregime von EZB und Troika" in Frankfurt am Main teil. Einzelne Versamm­lungs­teil­nehmer hatten bereits vor Beginn des Aufzugs Vermummung angelegt. Nach Beginn des Aufzugs stellte sich ein Teil der Versammlung in einer U-Formation auf, die mit Hilfe von mitgebrachten Seilen und Holzstangen, Schutzschilden, zusam­men­ge­knoteten Transparenten und Regenschirmen nach außen abschirmt wurde. Im weiteren Verlauf der Demonstration wurden aus diesem Teil der Versammlung Pyrotechnik und mit Farbe gefüllte Flaschen und Beutel auf polizeiliche Einsatzkräfte geworfen. Um 12.49 Uhr stoppte die Polizei diesen Teil der Versammlung und trennte ihn von dem übrigen Aufzug ab, indem 943 Personen, darunter der Beschwer­de­führer, durch einen sogenannten Polizeikessel eingeschlossen wurden. Im Einvernehmen mit der Versamm­lungs­behörde schloss die Polizei die Personen von der Versammlung aus. Der Beschwer­de­führer konnte die Einkesselung an einer der 15 - mit einer Video­über­wachung versehenen - Durch­lass­stellen nach Feststellung seiner Identität, Durchsuchung der mitgeführten Sachen und erken­nungs­dienst­licher Behandlung (Videografierung) gegen 17.30 Uhr verlassen. Das gegen ihn eingeleitete Ermitt­lungs­ver­fahren wurde in der Folge eingestellt. Sein Antrag auf Feststellung der Rechts­wid­rigkeit der Freiheitsentziehung, der Identitätsfeststellung und der Durchsuchung blieb ohne Erfolg.

Maßnahmen gegen eine ganze Gruppe von Versamm­lungs­teil­nehmern unter bestimmten Voraussetzungen möglich

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, die Verfas­sungs­be­schwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwer­de­führer nicht in seinen Grundrechten. Die Verfassung gewährleistet das Recht, sich "friedlich und ohne Waffen zu versammeln". Ist nicht damit zu rechnen, dass eine Demonstration im Ganzen einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf nimmt, muss für die friedlichen Teilnehmer der Schutz der Versammlungsfreiheit auch dann erhalten bleiben, wenn einzelne Demonstranten Ausschreitungen begehen. Zwar schließt die Versamm­lungs­freiheit nicht aus, gegen Teile der Versammlung repressive Maßnahmen der Strafverfolgung zu ergreifen. Bei solchen Grund­recht­s­ein­griffen haben die staatlichen Organe aber die grund­rechts­be­schrän­kenden Normen der Straf­pro­zess­ordnung im Lichte der Bedeutung der Versamm­lungs­freiheit im freiheitlich demokratischen Staat auszulegen und sich bei ihren Maßnahmen auf das zu beschränken, was zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter notwendig ist. Für Maßnahmen zur Identi­täts­fest­stellung bei Verdacht einer Straftat (§ 163 b Abs. 1 StPO) bedeutet dies, dass der Verdacht auf einer hinreichenden objektiven Tatsa­chen­grundlage beruhen sowie im Hinblick auf einen konkreten Versamm­lungs­teil­nehmer bestehen muss. Nicht genügend für den Verdacht ist die bloße Teilnahme an einer Versammlung, aus der heraus durch einzelne oder eine Minderheit Gewalttaten begangen werden. Maßnahmen gegen eine ganze Gruppe von Versamm­lungs­teil­nehmern sind dann nicht ausgeschlossen, wenn sich aus deren Gesamtauftreten ein Verdacht auch gegenüber den einzelnen Mitgliedern der Gruppe ergibt und das Vorgehen die übrigen Versamm­lungs­teil­nehmer so weit wie möglich ausspart.

Polizei durfte Anfangsverdacht gegen alle Mitglieder einer Gruppe als begründet ansehen

Diesen Maßgaben werden die fachge­richt­lichen Entscheidungen gerecht. Es verstößt nicht gegen verfas­sungs­rechtliche Vorgaben, wenn die Polizei einen Anfangsverdacht gegen alle Mitglieder einer Gruppe als begründet ansieht, die sich aufgrund dichtgedrängter Staffelung, Sichtschutz und Vermummung vom übrigen Versamm­lungs­ge­schehen abhebt und aus der heraus eine Vielzahl von Straftaten und Ordnungs­wid­rig­keiten begangen werden. Die zu diesem Teil des Aufzugs gehörenden Personen zeigen ein planvoll-systematisches Zusammenwirken mit einer Vielzahl von Gewalttätern und erwecken den Eindruck der Geschlossenheit, so dass die Einsatzkräfte als Grundlage einer Identi­täts­fest­stellung davon ausgehen durften, dass Gewalttäter in ihren Entschlüssen und Taten bestärkt würden.

Gruppen­teil­nehmer haben selbst durch eigenes Verhalten zur Verlängerung der polizeilichen Maßnahmen beigetragen

Auch die fachge­richtliche Feststellung, ein Festhalten des Beschwer­de­führers sei allein bis zum Passieren einer der Video-Durch­lass­stellen und damit nicht länger als zur Feststellung der Identität unerlässlich erfolgt (§ 163 c Abs. 1 Satz 1 StPO), begegnet keinen verfas­sungs­recht­lichen Bedenken. Insbesondere hat die Polizei 15 Durch­lass­stellen eingerichtet, die die Feststellung der Identität von drei Personen pro Minute und noch vor Ort ermöglichten. Dabei haben Teile der von der polizeilichen Maßnahme betroffenen Gruppe durch erhebliche körperliche Wider­stands­hand­lungen gegen die eingesetzten Polizeikräfte selbst zu einer Verlängerung der Gesamtdauer der durchgeführten Maßnahmen beigetragen.

BVerfG bejaht Zulässigkeit der Identi­täts­fest­stellung

Die angegriffenen Entscheidungen verletzen auch nicht die Grundrechte des Beschwer­de­führers, indem sie davon ausgegangen sind, dass eine unverzügliche Vorführung vor den Richter zum Zwecke der Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheits­ent­ziehung unterbleiben konnte. Im Falle einer nicht auf richterliche Anordnung beruhenden Freiheits­ent­ziehung ist die richterliche Entscheidung unverzüglich, das heißt ohne jede Verzögerung, die sich nicht aus sachlichen Gründen rechtfertigen lässt, nachzuholen (Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG). Die Ausnahme von der Vorführpflicht für den Fall, dass bis zur Erlangung der richterlichen Entscheidung voraussichtlich längere Zeit vergeht als bis zur Feststellung der Identität (§ 163 c Abs. 1 Satz 2 StPO), ist verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden. Da die Identi­täts­fest­stellung noch vor Ort, mittels 15 Durch­lass­stellen für 943 Personen erfolgte, das Verlassen des Kessels sich also unmittelbar an die Identi­täts­fest­stellung anschloss, durfte von der Zulässigkeit einer Identi­täts­fest­stellung vor Ergehen einer richterlichen Entscheidung ausgegangen werden.

Heranziehung polizeilichen Videomaterials nicht erforderlich

Die Fachgerichte haben auch nicht dadurch gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 GG verstoßen, dass sie es unterlassen haben, das polizeiliche Videomaterial beizuziehen. Nach der nicht zu beanstandenden Rechts­auf­fassung der Fachgerichte musste ein Verdacht gegen den Beschwer­de­führer nicht daran scheitern, dass dieser tatsächlich keine Straftaten oder Ordnungs­wid­rig­keiten begangen hat. Ausreichend war insoweit bereits seine Zugehörigkeit zu einer sich vom übrigen Demon­s­tra­ti­o­ns­ge­schehen deutlich abhebenden Gruppe, aus der heraus eine Vielzahl von Straftaten und Ordnungs­wid­rig­keiten begangen wurden.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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