24.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss18.04.2016

Präventive Ingewahr­samnahme in Zusammenhang mit Castortransport zulässigVerfassungs­beschwerde erfolglos - BVerfG verneint Verletzung des Rechts auf Freiheit der Person

Das Bundes­verfassungs­gericht hat zwei Verfassungs­beschwerden gegen präventive Ingewahr­samnahmen zur Verhinderung von Straftaten nicht zur Entscheidung angenommen. Die angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts verletzen die Beschwer­de­führer nicht in ihrem Recht auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und 2 GG), da die zur Rechtfertigung präventiver Freiheits­ent­ziehung gebotene strikte Beachtung des Verhältnis­mäßigkeits­grundsatzes vom Landgericht ausreichend berücksichtigt wurde. Ein anderes Ergebnis ergibt sich auch nicht unter Berück­sich­tigung der Wertungen der Europäischen Menschen­rechts­konvention.

Während eines Castor­transports traf die Polizei am 26. November 2011 gegen 11.32 Uhr auf dem Gleisbett in der Nähe des nieder­säch­sischen Ortes Dannenberg eine Gruppe von 30 Personen beim sogenannten "Schottern" an. 14 Personen, darunter die Beschwer­de­führer, wurden von der Polizei einer Identi­täts­fest­stellung unterzogen, festgenommen und in die Gefan­ge­nen­sam­mel­stelle verbracht. Am frühen Morgen des 27. November 2011 ordnete das Amtsgericht - nach Anhörung der Beschwer­de­führer - jeweils die Ingewahrsamnahme bis zum Eintreffen des Castor­transports im Verladebahnhof Dannenberg an. Am 28. November 2011 um 03.47 Uhr, nachdem der Castortransport den Verladebahnhof Dannenberg erreicht hatte, wurden die Beschwer­de­führer aus dem Gewahrsam entlassen.

Beschwer­de­führer rügen Verletzung ihres Rechts auf Freiheit der Person

Die von den Beschwer­de­führern zum Landgericht erhobenen Beschwerden gegen die amtsge­richt­lichen Beschlüsse blieben erfolglos. Mit ihren Verfas­sungs­be­schwerden wenden sich die Beschwer­de­führer gegen die Beschlüsse des Amts- und des Landgerichts und rügen im Wesentlichen die Verletzung ihres Rechts auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und 2 GG).

BVerfG verneint Verletzung des Grundrechts auf Freiheit der Person

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass die Verfas­sungs­be­schwerden nicht zur Entscheidung anzunehmen sind. Soweit die Beschwer­de­führer die amtsge­richt­lichen Beschlüsse angreifen, sind die Verfas­sungs­be­schwerden unzulässig. Die landge­richt­lichen Entscheidungen verletzen die Beschwer­de­führer nicht in ihren Grundrechten auf Freiheit der Person. Die Freiheit der Person ist unverletzlich (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG). Diese verfas­sungs­rechtliche Grund­ent­scheidung kennzeichnet das Freiheitsrecht als ein besonders hohes Rechtsgut, das nur aus besonders gewichtigem Grund angetastet werden darf. Die Einschränkung dieser Freiheit ist stets der strengen Prüfung am Grundsatz der Verhält­nis­mä­ßigkeit zu unterziehen. Dies gilt in besonderem Maße für präventive Eingriffe, die nicht dem Schuldausgleich dienen.

Freiheits­ent­ziehung verlangt grundsätzlich vorherige richterliche Anordnung

In die Freiheit der Person darf nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorge­schriebenen Formen eingegriffen werden. Für die Freiheits­ent­ziehung fügt Art. 104 Abs. 2 GG dem Vorbehalt des Gesetzes den verfah­rens­recht­lichen Vorbehalt einer richterlichen Entscheidung hinzu. Die Freiheits­ent­ziehung verlangt danach grundsätzlich eine vorherige richterliche Anordnung. Eine nachträgliche richterliche Entscheidung genügt nur, wenn der mit der Freiheits­ent­ziehung verfolgte verfas­sungs­rechtlich zulässige Zweck nicht erreichbar wäre. In diesen Fällen ist die richterliche Entscheidung unverzüglich nachzuholen.

Freiheits­ent­zie­hungen zur Vermeidung einer Straftat

Die Anforderungen an die Rechtfertigung von Freiheits­ent­zie­hungen werden durch die Wertungen von Art. 5 EMRK verstärkt. Demnach hat jede Person das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Zur Rechtfertigung des präventiven Gewahrsams zur Verhinderung einer Straftat kommt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - anders als von einigen Fachgerichten angenommen - nur Art. 5 Abs. 1 Satz 2 b) EMRK in Betracht. Demnach ist die Freiheits­ent­ziehung zur "Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung" zulässig. Nicht ausreichend ist die allgemeine Verpflichtung, sich an Gesetze zu halten. Geht es um die Verpflichtung, keine Straftat zu begehen, muss diese Straftat bereits hinreichend bestimmt sein und der Betroffene muss sich unwillig gezeigt haben, sie zu unterlassen. Diesen Anforderungen ist genügt, wenn Ort und Zeit der bevorstehenden Tatbegehung sowie das potentielle Opfer hinreichend konkretisiert sind und der Betroffene, nachdem er auf die konkret zu unterlassende Handlung hingewiesen worden ist, eindeutige und aktive Schritte unternommen hat, die darauf hindeuten, dass er der konkretisierten Verpflichtung nicht nachkommen wird.

Ungeachtet des hohen Ranges des Freiheits­grund­rechts ist die Auslegung von Inhalt und Reichweite eines freiheits­be­schrän­kenden Gesetzes und seiner Formvor­schriften in erster Linie Aufgabe der Fachgerichte. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht kann erst korrigierend eingreifen, wenn das fachge­richtliche Ausle­gungs­er­gebnis über die vom Grundgesetz gezogenen Grenzen hinausgreift.

Milderes Mittel zur Verhinderung der Begehung weiterer Straftaten nicht erforderlich

Die Einschätzung des Landgerichts, die angeordnete Ingewahr­samnahme der Beschwer­de­führer sei unerlässlich gewesen, um die mit an Sicherheit grenzender Wahrschein­lichkeit in allernächster Zeit bevorstehende Begehung einer Straftat zu verhindern, wird der zur Rechtfertigung präventiver Freiheits­ent­zie­hungen gebotenen strikten Beachtung des Verhält­nis­mä­ßig­keits­grund­satzes angesichts der festgestellten Gesamtumstände jedenfalls noch gerecht. Die Beschwer­de­führer hatten sich bereits der Begehung eines gleichartigen Delikts hinreichend verdächtig gemacht. Die Störung des Castor­transports durch die Begehung von Straftaten war ihnen sowohl im Zeitpunkt der Ingewahr­samnahme als auch im Zeitpunkt der amtsge­richt­lichen Anordnung weiter möglich. Unter diesen Umständen bedurfte keiner weiteren Prüfung, ob nicht ein milderes Mittel - etwa die Erteilung eines Platzverweises oder Aufent­halts­verbotes nach der erken­nungs­dienst­lichen Behandlung - ausgereicht hätte, um die Beschwer­de­führer von der Begehung weiterer Straftaten abzuhalten.

Ingewahr­samnahme zur Verhinderung weiterer Straftaten am Gleisbett gerechtfertigt

Auch mit den Wertungen aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 b) EMRK waren die Ingewahr­samnahmen der Beschwer­de­führer vereinbar. Insbesondere dienten sie nicht der Durchsetzung der allgemeinen Pflicht, sich an Gesetze zu halten, sondern der spezifischen und konkreten Verpflichtung, während der Dauer des Castor­transports keine weiteren Straftaten am Gleisbett zu begehen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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