14.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss10.03.2016

Meinungs­freiheit schützt auch emoti­o­na­li­sierte ÄußerungenBeschuldigte hat nach unmittelbar vorangegangenem Angriff auf ihre Ehre "Recht auf Gegenschlag"

Das Bundes­verfassungs­gericht hat entschieden, dass die Meinungs­freiheit auch die Freiheit umfasst, ein Geschehen subjektiv und sogar emotionalisiert darzustellen, insbesondere als Erwiderung auf einen unmittelbar vorangegangenen Angriff auf die Ehre, der gleichfalls in emoti­o­na­li­sie­render Weise erfolgt ist. Das Gericht gab damit der Verfassungs­beschwerde einer Beschwer­de­führerin statt, die sich gegen eine zivil­ge­richtliche Unterlassungs­verurteilung gewandt hatte.

Der Kläger des Ausgangs­ver­fahrens war mit der Beschwer­de­führerin liiert, bis sie ihn Anfang des Jahres 2010 wegen Vergewaltigung und gefährlicher Körper­ver­letzung anzeigte. Im darauf folgenden Strafprozess vor dem Landgericht wurde der Kläger freigesprochen, da ihm eine Straftat nicht nachgewiesen werden konnte. Am Tag des Freispruchs sowie am Tag darauf äußerten sich die Anwälte des Klägers in Fernseh­sen­dungen über die Beschwer­de­führerin. Etwa eine Woche nach der Verkündung des freisprechenden Urteils erschien zudem ein Interview mit dem Kläger, in dem er über die Beschwer­de­führerin sprach. Daraufhin gab auch die Beschwer­de­führerin ein Interview, das eine Woche nach der Veröf­fent­lichung des Interviews mit dem Kläger erschien.

In der Folgezeit begehrte der Kläger von der Beschwer­de­führerin die Unterlassung mehrerer Äußerungen, die sie im Rahmen dieses Interviews getätigt hatte. Das Landgericht verurteilte die Beschwer­de­führerin antragsgemäß. Die Berufung zum Oberlan­des­gericht und die Nicht­zu­las­sungs­be­schwerde zum Bundes­ge­richtshof blieben ohne Erfolg. Mit der Verfas­sungs­be­schwerde wendet sich die Beschwer­de­führerin gegen alle drei Entscheidungen und rügt im Wesentlichen die Verletzung ihrer Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG).

BVerfG bejaht Verletzung der Meinungs­freiheit

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass die angegriffenen Entscheidungen die Beschwer­de­führerin in ihrer Meinungs­freiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG verletzen. Die Urteile des Landgerichts und des Oberlan­des­ge­richts berühren den Schutzbereich der Meinungs­freiheit der Beschwer­de­führerin. Die Einordnung der Äußerungen als Werturteile und Tatsa­chen­be­haup­tungen ist verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden. Die Tatsa­chen­be­haup­tungen sind nicht erwiesen unwahr. Im Strafverfahren konnte nicht geklärt werden, ob die Angaben der Beschwer­de­führerin oder die des Klägers der Wahrheit entsprechen. Nach dem Freispruch des Klägers stellen sich deshalb die verschiedenen Wahrnehmungen als subjektive Bewertungen eines nicht aufklärbaren Geschehens dar, die nicht als Tatsa­chen­be­haup­tungen, sondern als Meinungen zu behandeln sind.

Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Meinungs­freiheit der Beschwer­de­führerin. Die Untersagung der streit­ge­gen­ständ­lichen Äußerungen bewegt sich nicht mehr im fachge­richt­lichen Wertungsrahmen.

Persönliche Wahrnehmung von Ungerechtigkeit darf sich in emotionaler Äußerung widerspiegeln

Das Grundrecht auf freie Meinung­s­äu­ßerung ist als subjektive Freiheit des unmittelbaren Ausdrucks der menschlichen Persönlichkeit ein grundlegendes Menschenrecht. Sie umfasst nicht zuletzt die Freiheit, die persönliche Wahrnehmung von Ungerech­tig­keiten in subjektiver Emotionalität in die Welt zu tragen. Dabei kann insbesondere bei Vorliegen eines unmittelbar vorangegangenen Angriffs auf die Ehre eine diesem Angriff entsprechende, ähnlich wirkende Erwiderung gerechtfertigt sein. Wer im öffentlichen Meinungskampf zu einem abwertenden Urteil Anlass gegeben hat, muss eine scharfe Reaktion auch dann hinnehmen, wenn sie das persönliche Ansehen mindert.

Gerichte verkennen bei Entscheidung Freiheit der Betroffenen zur Bewertung eines Geschehen in subjektiver und sogar emotionalisiert Weise

Die angegriffenen Entscheidungen genügen diesen verfas­sungs­recht­lichen Maßstäben nicht. Zwar haben die Gerichte zutreffend einerseits das große Infor­ma­ti­o­ns­in­teresse der Öffentlichkeit und andererseits den Freispruch berücksichtigt, der dazu führt, dass die schweren Vorwürfe, die Gegenstand des Strafverfahrens waren, nicht unbegrenzt wiederholt werden dürfen. Auch haben sie berücksichtigt, wieweit die Äußerungen sich auf öffentliche Angelegenheiten bezogen. Indem die Gerichte davon ausgingen, dass sich die Beschwer­de­führerin auf eine sachliche Wiedergabe der wesentlichen Fakten zu beschränken habe, und hierfür auf das öffentliche Infor­ma­ti­o­ns­in­teresse abstellen, verkennen sie die durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG auch unabhängig von einem solchen Interesse geschützte Freiheit, ein Geschehen subjektiv und sogar emotionalisiert zu bewerten. Zugleich übersieht diese Sichtweise das öffentliche Interesse an einer Diskussion der Konsequenzen und Härten, die ein rechts­s­taat­liches Straf­pro­zessrecht aus Sicht möglicher Opfer haben kann.

Beschwer­de­führerin steht "Recht auf Gegenschlag" zu

Zu Gunsten der Beschwer­de­führerin war in die Abwägung zudem einzustellen, dass sie sich in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu dem (noch nicht rechtskräftigen) Freispruch äußerte und lediglich wiederholte, was der Öffentlichkeit aufgrund der umfänglichen Berich­t­er­stattung zu dem Strafverfahren bereits bekannt war. Die Gerichte haben überdies das vorangegangene Verhalten des Klägers nicht in der gebotenen Weise berücksichtigt. Der Beschwer­de­führerin steht ein "Recht auf Gegenschlag" zu und dabei ist sie nicht auf eine sachliche, am Interview des Klägers orientierte Erwiderung beschränkt, weil auch der Kläger und seine Anwälte sich nicht sachlich, sondern gleichfalls in emoti­o­na­li­sie­render Weise äußerten. Der Kläger, der auf diese Weise an die Öffentlichkeit trat, muss eine entsprechende Reaktion der Beschwer­de­führerin hinnehmen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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