21.11.2024
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Dokument-Nr. 30203

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Beschluss24.03.2021Bundesverfassungsgericht1 BvR 2656/18, 1 BvR 96/20, 1 BvR 78/20, 1 BvR 288/20, 1 BvR 96/20 und 1 BvR 78/20
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Bundesverfassungsgericht Beschluss24.03.2021

Verfassungs­beschwerden gegen das Klima­schutz­gesetz teilweise erfolgreichKlima­schutz­gesetz teilweise verfas­sungs­rechts­widrig

Das Bundes­verfassungs­gerichts hat entschieden, dass die Regelungen des Klima­schutz­ge­setzes vom 12. Dezember 2019 (Klima­schutz­gesetz ) über die nationalen Klima­schutzziele und die bis zum Jahr 2030 zulässigen Jahres­emissions­mengen insofern mit Grundrechten unvereinbar sind, als hinreichende Maßgaben für die weitere Emissi­ons­re­duktion ab dem Jahr 2031 fehlen. Im Übrigen wurden die Verfassungs­beschwerden zurückgewiesen.

Das Klimaschutzgesetz verpflichtet dazu, die Treib­h­aus­ga­s­e­mis­sionen bis zum Jahr 2030 um 55 % gegenüber 1990 zu mindern und legt durch sekto­ren­be­zogene Jahres­e­mis­si­ons­mengen die bis dahin geltenden Reduktionspfade fest (§ 3 Abs. 1 und § 4 Abs. 1 Satz 3 KSG in Verbindung mit Anlage 2). Zwar kann nicht festgestellt werden, dass der Gesetzgeber mit diesen Bestimmungen gegen seine grund­recht­lichen Schutzpflichten, die Beschwer­de­füh­renden vor den Gefahren des Klimawandels zu schützen, oder gegen das Klimaschutzgebot des Art. 20a GG verstoßen hat.

Verletzung von Freiheits­rechten nach 2030 bereits jetzt schon absehbar

Die zum Teil noch sehr jungen Beschwer­de­füh­renden sind durch die angegriffenen Bestimmungen aber in ihren Freiheits­rechten verletzt. Die Vorschriften verschieben hohe Emissi­ons­min­de­rungs­lasten unumkehrbar auf Zeiträume nach 2030. Dass Treib­h­aus­ga­s­e­mis­sionen gemindert werden müssen, folgt auch aus dem Grundgesetz. Das verfas­sungs­rechtliche Klimaschutzziel des Art. 20a GG ist dahingehend konkretisiert, den Anstieg der globalen Durch­schnitt­stem­peratur dem sogenannten „Paris-Ziel“ entsprechend auf deutlich unter 2 °C und möglichst auf 1,5 °C gegenüber dem vorin­dus­triellen Niveau zu begrenzen. Um das zu erreichen, müssen die nach 2030 noch erforderlichen Minderungen dann immer dringender und kurzfristiger erbracht werden.

Gesetzliche Maßgaben für die Fortschreibung des Reduktionspfads ab 2031 nicht ausreichend

Von diesen künftigen Emissi­ons­min­de­rungs­pflichten ist praktisch jegliche Freiheit potenziell betroffen, weil noch nahezu alle Bereiche menschlichen Lebens mit der Emission von Treibhausgasen verbunden und damit nach 2030 von drastischen Einschränkungen bedroht sind. Der Gesetzgeber hätte daher zur Wahrung grundrechtlich gesicherter Freiheit Vorkehrungen treffen müssen, um diese hohen Lasten abzumildern. Zu dem danach gebotenen rechtzeitigen Übergang zu Klima­neu­tralität reichen die gesetzlichen Maßgaben für die Fortschreibung des Reduktionspfads der Treib­h­aus­ga­s­e­mis­sionen ab dem Jahr 2031 nicht aus. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, die Fortschreibung der Minderungsziele der Treib­h­aus­ga­s­e­mis­sionen für Zeiträume nach 2030 bis zum 31. Dezember 2022 näher zu regeln.

Verletzung der Schutzpflichten nicht erkennbar

Die Verfas­sungs­be­schwerden haben teilweise Erfolg. Soweit die Beschwer­de­füh­renden natürliche Personen sind, sind ihre Verfas­sungs­be­schwerden zulässig. Die beiden Umweltverbände sind hingegen nicht beschwer­de­befugt. Sie machen aufgrund von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 3 GG und Art. 20a GG im Lichte des Art. 47 GRCh als „Anwälte der Natur“ geltend, der Gesetzgeber habe keine geeigneten Maßnahmen zur Begrenzung des Klimawandels ergriffen und hierdurch verbindliche unions­rechtliche Vorgaben zum Schutz der natürlichen Lebens­grundlagen missachtet. Eine solche Beschwer­de­be­fugnis sehen das Grundgesetz und das Verfas­sungs­pro­zessrecht nicht vor. Dass Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 14 Abs. 1 GG wegen der Gefahren des Klimawandels verletzt sind, kann nicht festgestellt werden.

Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit schließt Schutz vor Beein­träch­ti­gungen durch Umwelt­be­las­tungen ein

Der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schließt den Schutz vor Beein­träch­ti­gungen durch Umwelt­be­las­tungen ein, gleich von wem und durch welche Umstände sie drohen. Die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgende Schutzpflicht des Staates umfasst auch die Verpflichtung, Leben und Gesundheit vor den Gefahren des Klimawandels, etwa vor klimabedingten Extrem­wet­te­re­r­eig­nissen wie Hitzewellen, Wald- und Flächenbränden, Wirbelstürmen, Starkregen, Überschwem­mungen, Lawinenabgängen oder Erdrutschen, zu schützen. Sie kann eine objek­ti­v­rechtliche Schutz­ver­pflichtung auch in Bezug auf künftige Generationen begründen. Da infolge des Klimawandels Eigentum, zum Beispiel landwirt­schaftlich genutzte Flächen und Immobilien, etwa aufgrund steigenden Meeresspiegels oder wegen Dürren Schaden nehmen können, schließt auch das Grundrecht auf Eigentum aus Art. 14 Abs. 1 GG eine Schutzpflicht des Staates hinsichtlich der Eigen­tums­ge­fahren des Klimawandels ein.

Entschei­dungs­spielraum durch Gesetzgeber nicht überschritten

Eine Verletzung dieser Schutzpflichten lässt sich angesichts des dem Gesetzgeber bei der Erfüllung zukommenden Spielraums nicht feststellen. Zum grundrechtlich gebotenen Schutz vor den Gefahren des Klimawandels offensichtlich ungeeignet wäre ein Schutzkonzept, das nicht das Ziel der Klima­neu­tralität verfolgte; die Erderwärmung könnte dann nicht aufgehalten werden, weil jede Erhöhung der CO2-Konzentration in der Atmosphäre zur Erderwärmung beiträgt und einmal in die Atmosphäre gelangtes CO2 dort weitestgehend verbleibt und absehbar kaum wieder entfernt werden kann. Völlig unzulänglich wäre zudem, dem Klimawandel freien Lauf zu lassen und den grund­recht­lichen Schutzauftrag allein durch sogenannte Anpas­sungs­maß­nahmen umzusetzen. Beides ist hier nicht der Fall. Im Ergebnis kann auch nicht festgestellt werden, dass der Gesetzgeber seinen Entschei­dungs­spielraum überschritten hat, indem er das „Paris-Ziel“ zugrunde gelegt hat, wonach der Anstieg der globalen Durch­schnitt­stem­peratur auf deutlich unter 2 °C und möglichst auf 1,5 °C zu begrenzen ist. Hierbei ist auch von Bedeutung, dass zum Schutz der Grundrechte vor den Gefahren des Klimawandels ein ergänzender Schutz durch Anpas­sungs­maß­nahmen prinzipiell möglich ist. Es kann offen bleiben, ob grundrechtliche Schutzpflichten den deutschen Staat auch gegenüber den in Bangladesch und Nepal lebenden Beschwer­de­füh­renden verpflichten, gegen diese drohenden und bereits eingetretenen Beein­träch­ti­gungen durch den globalen Klimawandel vorzugehen. Denn die Verletzung einer grund­recht­lichen Schutzpflicht könnte im Ergebnis auch insoweit nicht festgestellt werden.

Es fehlt an Vorkehrungen zur Gewährleistung eines freiheits­scho­nenden Übergangs in die Klima­neu­tralität

Grundrechte sind aber dadurch verletzt, dass die nach § 3 Abs. 1 Satz 2 und § 4 Abs. 1 Satz 3 KSG in Verbindung mit Anlage 2 bis zum Jahr 2030 zugelassenen Emissionsmengen die nach 2030 noch verbleibenden Emissi­ons­mög­lich­keiten erheblich reduzieren und dadurch praktisch jegliche grundrechtlich geschützte Freiheit gefährdet ist. Als intertemporale Freiheits­si­cherung schützen die Grundrechte die Beschwer­de­füh­renden hier vor einer umfassenden Freiheits­ge­fährdung durch einseitige Verlagerung der durch Art. 20a GG aufgegebenen Treib­h­aus­gas­min­de­rungslast in die Zukunft. Der Gesetzgeber hätte Vorkehrungen zur Gewährleistung eines freiheits­scho­nenden Übergangs in die Klima­neu­tralität treffen müssen, an denen es bislang fehlt. Die angegriffenen Regelungen entfalten eingriff­s­ähnliche Vorwirkung auf die durch das Grundgesetz umfassend geschützte Freiheit. Die Möglichkeiten, von dieser Freiheit in einer Weise Gebrauch zu machen, die direkt oder indirekt mit CO2-Emissionen verbunden ist, stoßen an verfas­sungs­rechtliche Grenzen, weil CO2-Emissionen nach derzeitigem Stand weitestgehend irreversibel zur Erwärmung der Erde beitragen, der Gesetzgeber einen ad infinitum forts­chrei­tenden Klimawandel aber von Verfassungs wegen nicht tatenlos hinnehmen darf. Vorschriften, die jetzt CO2-Emissionen zulassen, begründen eine unumkehrbar angelegte rechtliche Gefährdung künftiger Freiheit, weil sich mit jeder CO2-Emissionsmenge, die heute zugelassen wird, die in Einklang mit Art. 20a GG verbleibenden Emissi­ons­mög­lich­keiten verringern; entsprechend wird CO2-relevanter Freiheits­ge­brauch immer stärkeren, auch verfas­sungs­rechtlich gebotenen Restriktionen ausgesetzt sein. Zwar müsste CO2-relevanter Freiheits­ge­brauch, um den Klimawandel anzuhalten, ohnehin irgendwann im Wesentlichen unterbunden werden, weil sich die Erderwärmung nur stoppen lässt, wenn die anthropogene CO2-Konzentration in der Erdatmosphäre nicht mehr weiter steigt. Ein umfangreicher Verbrauch des CO2-Budgets schon bis 2030 verschärft jedoch das Risiko schwerwiegender Freiheits­einbußen, weil damit die Zeitspanne für technische und soziale Entwicklungen knapper wird, mit deren Hilfe die Umstellung von der heute noch umfassend mit CO2-Emissionen verbundenen Lebensweise auf klimaneutrale Verhal­tens­weisen freiheits­schonend vollzogen werden könnte.

Emissi­ons­men­gen­re­ge­lungen dürfen nicht zu unver­hält­nis­mäßigen Belastungen der künftigen Freiheit der Beschwer­de­füh­renden führen

Die Verfas­sungs­mä­ßigkeit dieser nicht bloß faktischen, sondern rechtlich vermittelten eingriff­s­ähn­lichen Vorwirkung aktueller Emissi­ons­men­gen­re­ge­lungen setzt zum einen voraus, dass sie mit dem objek­ti­v­recht­lichen Klima­schutzgebot des Art. 20a GG vereinbar ist. Grund­recht­s­ein­griffe lassen sich verfas­sungs­rechtlich nur rechtfertigen, wenn die zugrun­de­lie­genden Regelungen den elementaren Grund­ent­schei­dungen und allgemeinen Verfas­sungs­grund­sätzen des Grundgesetzes entsprechen. Das gilt angesichts der eingriff­s­ähn­lichen Vorwirkung auf grundrechtlich geschützte Freiheit auch hier. Zu den zu beachtenden Grundsätzen zählt auch Art. 20a GG. Zum anderen setzt die verfas­sungs­rechtliche Rechtfertigung voraus, dass die Emissi­ons­men­gen­re­ge­lungen nicht zu unver­hält­nis­mäßigen Belastungen der künftigen Freiheit der Beschwer­de­füh­renden führen. Derzeit kann nicht festgestellt werden, dass § 3 Abs. 1 Satz 2 und § 4 Abs. 1 Satz 3 KSG in Verbindung mit Anlage 2 gegen Art. 20a GG verstoßen. Art. 20a GG verpflichtet den Staat zum Klimaschutz und zielt auf die Herstellung von Klima­neu­tralität. Der Klimaschutz genießt keinen unbedingten Vorrang gegenüber anderen Belangen, sondern ist im Konfliktfall in einen Ausgleich mit anderen Verfas­sungs­rechts­gütern und Verfas­sungs­prin­zipien zu bringen. Wegen der nach heutigem Stand weitestgehenden Unumkehrbarkeit des Klimawandels wären Verhal­tens­weisen, die zu einer Überschreitung der nach dem verfas­sungs­recht­lichen Klimaschutzziel maßgeblichen Tempe­ra­tur­schwelle führten, jedoch nur unter engen Voraussetzungen – etwa zum Schutz von Grundrechten – zu rechtfertigen. Dabei nimmt das relative Gewicht des Klima­schutz­gebots in der Abwägung bei forts­chrei­tendem Klimawandel weiter zu. Der Klima­schutz­ver­pflichtung aus Art. 20a GG steht nicht entgegen, dass Klima und Erderwärmung globale Phänomene sind und die Probleme des Klimawandels daher nicht durch die Klima­schutz­beiträge eines Staates allein gelöst werden können. Der Klima­schutz­auftrag des Art. 20a GG hat eine besondere internationale Dimension. Art. 20a GG verpflichtet den Staat, eine Lösung des Klima­schutz­problems gerade auch auf überstaatlicher Ebene zu suchen. Der Staat könnte sich seiner Verantwortung nicht durch den Hinweis auf die Treib­h­aus­ga­s­e­mis­sionen in anderen Staaten entziehen. Aus der spezifischen Angewiesenheit auf die internationale Staaten­ge­mein­schaft folgt vielmehr umgekehrt die verfas­sungs­rechtliche Notwendigkeit, eigene Maßnahmen zum Klimaschutz tatsächlich zu ergreifen und für andere Staaten keine Anreize zu setzen, das erforderliche Zusammenwirken zu unterlaufen. Auch der offene Normgehalt von Art. 20a GG und die dort explizit formulierte Verweisung auf die Gesetzgebung schließen eine verfas­sungs­ge­richtliche Kontrolle der Einhaltung des Klima­schutz­gebots nicht aus; Art. 20a GG ist eine justiziable Rechtsnorm, die den politischen Prozess zugunsten ökologischer Belange auch mit Blick auf die besonders betroffenen künftigen Generationen binden soll.

Enthaltenen Unsicherheiten in der Berechnung des Restbudgets stellen keine hinreichende Grundlage für eine verfas­sungs­ge­richtliche Beanstandung dar

Indem der Gesetzgeber das Paris-Ziel in § 1 Satz 3 KSG zur Grundlage erklärt hat, hat er in Wahrnehmung seines Konkre­ti­sie­rungs­auftrags und seiner Konkre­ti­sie­rungs­prä­ro­gative das Klimaschutzziel des Art. 20a GG zulässig dahingehend konkretisiert, den Anstieg der globalen Durch­schnitt­stem­peratur auf deutlich unter 2 °C und möglichst auf 1,5 °C gegenüber dem vorin­dus­triellen Niveau zu begrenzen. Dies ist auch der verfas­sungs­ge­richt­lichen Prüfung zugrundezulegen. Unter Berück­sich­tigung des Spielraums des Gesetzgebers ist derzeit nicht festzustellen, dass die Regelungen des § 3 Abs. 1 Satz 2 und § 4 Abs. 1 Satz 3 KSG in Verbindung mit Anlage 2 das verfas­sungs­rechtliche Klima­schutzgebot aus Art. 20a GG verletzen. Die verfas­sungs­rechtlich maßgebliche Tempe­ra­tur­schwelle von deutlich unter 2 °C und möglichst 1,5 °C kann prinzipiell in ein globales CO2-Restbudget umgerechnet werden, das sich dann auf die Staaten verteilen lässt. Der Inter­go­ver­n­mental Panel on Climate Change (IPCC) hat für verschiedene Tempe­ra­tur­schwellen und verschiedene Eintritts­wahr­schein­lich­keiten aufgrund eines quali­täts­si­chernden Verfahrens unter Offenlegung der verbleibenden Unsicherheit konkrete globale CO2-Restbudgets benannt. Auf dieser Grundlage hat der Sachver­stän­di­genrat für Umweltfragen auch für Deutschland ein ab 2020 verbleibendes konkretes nationales Restbudget ermittelt, das mit dem Paris-Ziel vereinbar wäre. Aufgrund der hierin enthaltenen Ungewissheiten und Wertungen kann die ermittelte Budgetgröße zwar derzeit kein zahlengenaues Maß für die verfas­sungs­ge­richtliche Kontrolle bieten. Dem Gesetzgeber bleibt Entschei­dungs­spielraum. Diesen darf er jedoch nicht nach Verstoß gegen diese Sorgfalts­pflicht nicht festgestellt politischem Belieben ausfüllen. Besteht wissen­schaftliche Ungewissheit über umweltrelevante Ursachen­zu­sam­menhänge, erlegt Art. 20a GG dem Gesetzgeber eine besondere Sorgfalts­pflicht auf. Danach müssen bereits belastbare Hinweise auf die Möglichkeit gravierender oder irreversibler Beein­träch­ti­gungen berücksichtigt werden. Derzeit kann ein Verstoß gegen diese Sorgfalts­pflicht nicht festgestellt werden. Zwar folgt daraus, dass Schätzungen des IPCC zur Größe des verbleibenden globalen CO2-Restbudgets zu berücksichtigen sind, obwohl darin Ungewissheiten enthalten sind. Durch die in § 4 Abs. 1 Satz 3 KSG in Verbindung mit Anlage 2 geregelten Emissionsmengen würde das vom Sachver­stän­di­genrat für Umweltfragen auf der Grundlage der Schätzungen des IPCC ermittelte Restbudget bis zum Jahr 2030 weitgehend aufgebraucht. Das Maß an Verfehlung bildete jedoch verglichen mit den derzeit in der Berechnung des Restbudgets enthaltenen Unsicherheiten keine hinreichende Grundlage für eine verfas­sungs­ge­richtliche Beanstandung. § 3 Abs. 1 Satz 2 und § 4 Abs. 1 Satz 3 KSG in Verbindung mit Anlage 2 genügen jedoch nicht dem aus dem Gebot der Verhält­nis­mä­ßigkeit folgenden Erfordernis, die nach Art. 20a GG verfas­sungs­rechtlich notwendigen Reduktionen von CO2-Emissionen bis hin zur Klima­neu­tralität vorausschauend in grund­rechts­scho­nender Weise über die Zeit zu verteilen. Danach darf nicht einer Generation zugestanden werden, unter vergleichsweise milder Reduktionslast große Teile des CO2-Budgets zu verbrauchen, wenn damit zugleich den nachfolgenden Generationen eine radikale Reduktionslast überlassen und deren Leben umfassenden Freiheits­einbußen ausgesetzt würde. Künftig können selbst gravierende Freiheits­einbußen zum Schutz des Klimas verhältnismäßig und verfas­sungs­rechtlich gerechtfertigt sein; gerade deshalb droht dann die Gefahr, erhebliche Freiheits­einbußen hinnehmen zu müssen. Weil die Weichen für künftige Freiheits­be­las­tungen bereits durch die aktuelle Regelung zulässiger Emissionsmengen gestellt werden, müssen die Auswirkungen auf künftige Freiheit aber aus heutiger Sicht verhältnismäßig sein. Auch der objek­ti­v­rechtliche Schutzauftrag des Art. 20a GG schließt die Notwendigkeit ein, mit den natürlichen Lebens­grundlagen so sorgsam umzugehen und sie der Nachwelt in solchem Zustand zu hinterlassen, dass nachfolgende Generationen diese nicht nur um den Preis radikaler eigener Enthaltsamkeit weiter bewahren könnten.

Übergang zu Klima­neu­tralität ist rechtzeitig einzuleiten

Die nach 2030 verfas­sungs­rechtlich gebotene Treib­h­aus­gas­min­de­rungslast wird erheblich sein. Ob sie so einschneidend ausfällt, dass damit aus heutiger Sicht unzumutbare Grund­rechts­be­ein­träch­ti­gungen verbunden wären, lässt sich zwar nicht feststellen. Das Risiko gravierender Belastungen ist jedoch hoch und kann mit den künftig betroffenen Freiheits­grund­rechten nur in Einklang gebracht werden, wenn dies mit Vorkehrungen zur grund­rechts­scho­nenden Bewältigung der nach 2030 drohenden Reduktionslast verbunden ist. Das verlangt auch, den Übergang zu Klima­neu­tralität rechtzeitig einzuleiten. Konkret erforderlich ist, dass frühzeitig transparente Maßgaben für die weitere Ausgestaltung der Treib­h­aus­gas­re­duktion formuliert werden, die für die notwendigen Entwicklungs- und Umset­zungs­prozesse Orientierung bieten und diesen ein hinreichendes Maß an Entwick­lungsdruck und Planungs­si­cherheit vermitteln. Verfas­sungs­rechtlich unerlässlich ist dafür zum einen, dass weitere Reduk­ti­o­ns­maßgaben rechtzeitig über das Jahr 2030 hinaus und zugleich hinreichend weit in die Zukunft hinein festgelegt werden. Zum anderen müssen weitere Jahres­e­mis­si­ons­mengen und Reduk­ti­o­ns­maßgaben so differenziert festgelegt werden, dass eine hinreichend konkrete Orientierung entsteht. Der Gesetzgeber hat die Fortschreibung des Treib­h­aus­gas­re­duk­ti­o­nspfads in § 4 Abs. 6 Satz 1 KSG verfas­sungs­rechtlich unzureichend geregelt. Zwar kann nicht verlangt werden, dass die absinkenden Emissionsmengen bereits jetzt bis zur Erreichung der für 2050 angestrebten Klima­neu­tralität konkret bestimmt werden. Jedoch genügt es nicht, die Bundesregierung lediglich dazu zu verpflichten, einmal – im Jahr 2025 – durch Rechts­ver­ordnung eine weitere Festlegung zu treffen. Vielmehr müsste zumindest geregelt werden, in welchen Zeitabständen weitere Festlegungen transparent zu treffen sind. Mit dem in § 4 Abs. 6 KSG geregelten Vorgehen ist zudem nicht gesichert, dass der weitere Reduktionspfad rechtzeitig erkennbar ist. So erscheint bereits zweifelhaft, dass die erste weitere Festlegung von Jahres­e­mis­si­ons­mengen in Zeiträumen nach 2030 im Jahr 2025 rechtzeitig käme. Auch über diese erste Festlegung hinaus ist die Rechtzeitigkeit nicht gesichert, weil § 4 Abs. 6 Satz 1 KSG nicht gewährleistet, dass die Festlegungen weit genug in die Zukunft reichen. Der Gesetzgeber müsste dem Verord­nungsgeber, sofern er an dessen Einbindung festhält, weiterreichende Festlegungen aufgeben; insbesondere müsste er ihn schon vor 2025 zur ersten weiteren Festlegung verpflichten oder ihm wenigstens deutlich früher durch gesetzliche Regelung vorgeben, wie weit in die Zukunft die Festlegungen im Jahr 2025 reichen müssen. Wenn der Gesetzgeber die Fortschreibung des Reduktionspfads vollständig übernimmt, muss er selbst alles Erforderliche entsprechend rechtzeitig weit genug in die Zukunft hinein regeln. § 4 Abs. 6 KSG genügt bislang auch nicht den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen aus Art. 80 Abs. 1 GG und dem Grundsatz des Geset­zes­vor­behalts. Der Gesetzgeber muss jedenfalls die Größe der festzulegenden Jahres­e­mis­si­ons­mengen für Zeiträume nach 2030 selbst bestimmen oder nähere Maßgaben zu deren konkreten Bestimmung durch den Verord­nungsgeber treffen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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