24.11.2024
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Dokument-Nr. 31413

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Beschluss10.02.2022Bundesverfassungsgericht1 BvR 2649/21
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Bundesverfassungsgericht Beschluss10.02.2022

Bundes­ver­fassungs­gericht: Eilantrag gegen Pflege-Impfpflicht gescheitert - Corona-Pflege-Impfpflicht kann zunächst in Kraft tretenErfolgloser Eilantrag zur Außer­voll­zug­setzung der „einrichtungs- und unternehmens­bezogenen Nachweispflicht" nach § 20 a Infektions­schutzgesetz

Der Erste Senat des Bundes­ver­fassungs­gerichts hat einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt, mit dem die Beschwer­de­füh­renden begehrten, den Vollzug von § 20 a und § 73 Abs. 1a Nr. 7e bis 7h Infektions­schutzgesetz (IfSG) ("einrichtungs- und unternehmens­bezogene Nachweispflicht") vorläufig auszusetzen.

Die Einführung der einrichtungs- und unter­neh­mens­be­zogenen Pflicht zum Nachweis einer Impfung, Genesung oder Kontra­in­di­kation in § 20 a IfSG als solche begegnet zum Zeitpunkt der Entscheidung zwar keinen durchgreifenden verfas­sungs­recht­lichen Bedenken. Es bestehen aber jedenfalls Zweifel an der Verfas­sungs­mä­ßigkeit der in § 20 a IfSG gewählten gesetzlichen Regelungs­technik einer doppelten dynamischen Verweisung, da die Vorschrift auf die COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnah­men­ver­ordnung verweist, die ihrerseits wiederum auf Internetseiten des Paul-Ehrlich-Instituts und des Robert Koch-Instituts verweist. Die abschließende Prüfung der Verfas­sungs­mä­ßigkeit bleibt jedoch dem Haupt­sa­che­ver­fahren vorbehalten. Die deshalb gebotene Folgenabwägung rechtfertigt den Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht. Die hier den Beschwer­de­füh­renden drohenden Nachteile überwiegen in ihrem Ausmaß und ihrer Schwere nicht diejenigen Nachteile, die bei einer vorläufigen Außer­kraft­setzung der angegriffenen Regelung für vulnerable Menschen zu besorgen wären.

Sachverhalt

Nach § 20 a Abs. 1 Satz 1 IfSG müssen die in bestimmten Einrichtungen oder Unternehmen des Gesund­heits­wesens und der Pflege tätigen Personen ab dem 15. März 2022 geimpft oder genesen sein. Bis zum Ablauf des 15. März 2022 haben sie daher der Leitung der Einrichtung oder des Unternehmens einen Impf- oder Genese­nen­nachweis oder aber ein ärztliches Zeugnis über das Bestehen einer medizinischen Kontra­in­di­kation vorzulegen. Der Impf- oder Genese­nen­nachweis muss den Anforderungen des § 2 Nr. 3 und 5 COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnah­men­ver­ordnung in ihrer jeweils geltenden Fassung entsprechen, wobei die Verordnung ihrerseits zur Konkretisierung der Anforderungen an den Nachweis auf die Internetseiten des Paul-Ehrlich-Instituts und des Robert Koch-Instituts verweist.

Die meisten Beschwer­de­füh­renden sind in den von § 20 a Abs. 1 Satz 1 IfSG erfassten medizinischen und pflegerischen Einrichtungen und Unternehmen selbständig, angestellt oder verbeamtet tätig. Sie sind überwiegend ungeimpft oder lehnen jedenfalls weitere Impfungen ab; einige waren bereits an COVID-19 erkrankt. Weitere Beschwer­de­führende sind Leiter einer Einrichtung oder eines Unternehmens im Sinne des § 20 a Abs. 1 Satz 1 IfSG, die weiterhin ungeimpfte Personen beschäftigen wollen. Die übrigen Beschwer­de­füh­renden befinden sich bei ungeimpften Ärzten, Zahnärzten oder sonstigen medizinischen Dienstleistern in Behandlung.

Mit ihrem mit der Verfas­sungs­be­schwerde verbundenen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begehren sie im Wesentlichen, den Vollzug des § 20 a IfSG vorläufig auszusetzen.

Wesentliche Erwägungen des Senats

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung bleibt ohne Erfolg.

I. Wird die Aussetzung des Vollzugs eines Gesetzes begehrt, gelten dafür besonders hohe Hürden, weil dies einen erheblichen Eingriff in die originäre Zuständigkeit des Gesetzgebers darstellt. Müssen die für eine vorläufige Regelung sprechenden Gründe schon im Regelfall so schwer wiegen, dass sie den Erlass einer einstweiligen Anordnung unabdingbar machen, so müssen sie, wenn beantragt ist, den Vollzug eines Gesetzes auszusetzen, darüber hinaus ganz besonderes Gewicht haben.

II. Gemessen an diesen strengen Anforderungen hat der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung keinen Erfolg.

1. Die Verfas­sungs­be­schwerde ist nicht offensichtlich unbegründet.

Zwar begegnet die Einführung einer einrichtungs- und unter­neh­mens­be­zogenen Nachweispflicht in § 20 a IfSG als solche unter Berück­sich­tigung der in diesem Verfahren eingeholten Stellungnahmen vor allem der sachkundigen Dritten zum Zeitpunkt dieser Entscheidung keinen durchgreifenden verfas­sungs­recht­lichen Bedenken. Es bestehen aber jedenfalls Zweifel an der Verfas­sungs­mä­ßigkeit der in § 20 a IfSG gewählten gesetzlichen Regelungs­technik. Es handelt sich hier um eine doppelte dynamische Verweisung, da zunächst der Gesetzgeber auf die COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnah­men­ver­ordnung verweist, die ihrerseits aber dann zur Konkretisierung der Anforderungen an den vorzulegenden Impf- oder Genese­nen­nachweis auf Internetseiten des Paul-Ehrlich-Instituts und des Robert Koch-Instituts verweist. Insoweit stellt sich die Frage, ob und inwieweit eine bindende Außenwirkung der dynamisch in Bezug genommenen Regelwerke der genannten Bundesinstitute hier noch eine hinreichende Grundlage im Gesetz findet. Sollte dies der Fall sein, bedarf es weiterer Aufklärung, ob und inwieweit ein tragfähiger Sachgrund auch dafür vorliegt, dass nicht dem Verord­nungsgeber selbst die Konkretisierung des vorzulegenden Impf- oder Genese­nen­nach­weises übertragen ist, sondern dies den genannten Bundes­in­stituten überlassen wird.

2. Die danach gebotene Folgenabwägung rechtfertigt aber nicht den Erlass einer einstweiligen Anordnung.

a) Erginge die einstweilige Anordnung nicht und hätte die Verfas­sungs­be­schwerde später Erfolg, sind die Nachteile, die sich aus der Anwendung der angegriffenen Regelungen ergeben, von besonderem Gewicht. Kommen Betroffene der ihnen in § 20 a Abs. 2 Satz 1 IfSG auferlegten Nachweispflicht nach und willigen in eine Impfung ein, löst dies körperliche Reaktionen aus und kann ihr körperliches Wohlbefinden jedenfalls vorübergehend beeinträchtigen. Im Einzelfall können auch schwerwiegende Impfne­ben­wir­kungen eintreten, die im extremen Ausnahmefall auch tödlich sein können. Eine erfolgte Impfung ist auch im Falle eines Erfolgs der Verfas­sungs­be­schwerde irreversibel. Allerdings verlangt das Gesetz den Betroffenen nicht unausweichlich ab, sich impfen zu lassen. Für jene, die eine Impfung vermeiden wollen, kann dies zwar vorübergehend mit einem Wechsel der bislang ausgeübten Tätigkeit oder des Arbeitsplatzes oder sogar mit der Aufgabe des Berufs verbunden sein. Dass die in der begrenzten Zeit bis zur Entscheidung über die Verfas­sungs­be­schwerde möglicherweise eintretenden beruflichen Nachteile irreversibel oder auch nur sehr erschwert revidierbar sind oder sonst sehr schwer wiegen, haben die Beschwer­de­füh­renden jedoch nicht dargelegt; dies ist auch sonst – jedenfalls für den genannten Zeitraum – nicht ersichtlich. Wirtschaftliche Nachteile, die Einzelnen durch den Vollzug eines Gesetzes entstehen, sind daneben grundsätzlich nicht geeignet, die Aussetzung der Anwendung von Normen zu begründen.

b) Erginge dagegen die beantragte einstweilige Anordnung und hätte die Verfas­sungs­be­schwerde keinen Erfolg, sind die Nachteile, die sich aus der Nichtanwendung der angegriffenen Regelungen ergeben, ebenfalls von besonderem Gewicht. Hochaltrige Menschen sowie Menschen mit Vorerkrankungen, einem geschwächten Immunsystem oder mit Behinderungen (vulnerable Gruppen) wären dann in der Zeit bis zur Entscheidung über die Verfas­sungs­be­schwerde einer deutlich größeren Gefahr ausgesetzt, sich mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 zu infizieren und deshalb schwer oder gar tödlich zu erkranken. Nach der weitgehend überein­stim­menden Einschätzung der angehörten sachkundigen Dritten ist davon auszugehen, dass COVID-19-Impfungen einen relevanten – wenngleich mit der Zeit deutlich nachlassenden – Schutz vor einer Infektion auch mit Blick auf die Omikronvariante des Virus bewirken. Würde die einrichtungs- und unter­neh­mens­be­zogene Nachweispflicht nun vorläufig außer Vollzug gesetzt, ginge dies aber mit einer geringeren Impfquote in den betroffenen Einrichtungen und Unternehmen und damit einer erhöhten Gefahr einher, dass sich die dort Tätigen infizieren und sie dann das Virus auf vulnerable Personen übertragen. In der Folge müsste damit gerechnet werden, dass sich auch in der begrenzten Zeit bis zu einer Entscheidung über die Verfas­sungs­be­schwerde mehr Menschen, die den vulnerablen Gruppen zuzurechnen sind, irreversibel mit dem Virus infizieren, schwer an COVID-19 erkranken oder gar versterben, als wenn die einstweilige Anordnung nicht erlassen würde.

c) Vor diesem Hintergrund überwiegen letztlich die Nachteile, mit denen bei einer vorläufigen Außer­kraft­setzung der angegriffenen Regelung für den Zeitraum bis zur Entscheidung in der Hauptsache zu rechnen wäre. Schwerwiegende Nebenwirkungen oder gravierende Folgen, die über die durch die Verabreichung des Impfstoffes induzierte Immunantwort hinausgehen, sind nach derzeitigem Kenntnisstand sehr selten. Ungeachtet dessen bleibt es den von der Nachweispflicht betroffenen Personen unbenommen, sich gegen eine Impfung zu entscheiden. Dass die damit verbundenen beruflichen Nachteile in der begrenzten Zeit bis zur Entscheidung über die Hauptsache sehr schwer wiegen, ist nicht zu besorgen.

Nach wie vor ist die Pandemie jedoch durch eine besondere Infek­ti­o­ns­dynamik mit hohen Fallzahlen geprägt, mit der eine große Infek­ti­o­ns­wahr­schein­lichkeit und dadurch ein entsprechend hohes Gefähr­dungs­po­tential für vulnerable Personen einhergeht. Für diese ist auch im Hinblick auf die Omikronvariante des Virus weiterhin eine möglichst frühzeitige Unterbrechung von Übertra­gungs­ketten besonders wichtig, zu der ausweislich der weitgehend überein­stim­menden Stellungnahmen der angehörten sachkundigen Dritten eine COVID-19-Impfung in einem relevanten Maß beitragen kann. Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass sich gerade vulnerable Personen grundsätzlich nur eingeschränkt selbst gegen eine Infektion schützen können und sie zudem auf die Inanspruchnahme der Leistungen, die die der Gesundheit und Pflege dienenden Einrichtungen und Unternehmen erbringen, angewiesen sind.

d) Der sehr geringen Wahrschein­lichkeit von gravierenden Folgen einer Impfung steht die deutlich höhere Wahrschein­lichkeit einer Beschädigung von Leib und Leben vulnerabler Menschen gegenüber. Bei der Folgenabwägung der jeweils zu erwartenden Nachteile muss daher das Interesse der Beschwer­de­füh­renden zurücktreten, bis zur Entscheidung über die Verfas­sungs­be­schwerde weiterhin ungeimpft in den betroffenen Einrichtungen und Unternehmen tätig sein zu können.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/pt)

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