15.11.2024
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Dokument-Nr. 9772

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Bundesverfassungsgericht Beschluss12.05.2010

Polizeiliche Durchsuchung sämtlicher Versamm­lungs­teil­nehmer aufgrund mangelhafter Gefah­ren­prognose verfas­sungs­widrigVerletzung des Grundrechts der Versamm­lungs­freiheit

Der Polizei ist es nicht gestattet, vor Beginn einer Demonstration alle Versamm­lungs­mit­glieder zu durchsuchen. Dies ist nur dann zulässig, wenn konkrete Anhaltspunkte für eine Gefahr bestehen. Bloße Verdachts­momente werden den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen für die Gefah­ren­prognose im Rahmen von § 15 Abs. 1 VersG nicht gerecht und verletzen das Grundrecht der Versamm­lungs­freiheit. Dies entschied das Bundes­ver­fas­sungs­gericht.

Der Beschwer­de­führer meldete für den 2. März 2002 in Bielefeld die Versammlung unter dem Motto „Die Soldaten der Wehrmacht waren Helden, keine Verbrecher“ an. Anlass war die in Bielefeld gezeigte Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht, Dimensionen des Vernich­tungs­krieges 1941 - 1944“ (Wehrmachts­ausstellung). Im Folgenden ordnete das Polizei­prä­sidium die Auflage an, dass die Teilnehmer der vom Beschwer­de­führer geplanten Versammlung vor Beginn der Veranstaltung polizeilich durchsucht werden. Hiergegen klagte der Beschwer­de­führer vor den Verwal­tungs­ge­richten und legte eidesstattliche Versicherungen von zwei Teilnehmern einer früheren, ebenfalls gegen die Wehrmachts­ausstellung gerichteten Versammlung der NPD vor. Darin schilderten diese, dass ihnen auf jener Versammlung die Aufgabe zugefallen sei, den Lautspre­cherwagen gegen eventuelle Übergriffe gewaltsamer Gegen­de­mon­s­tranten zu sichern. Des Weiteren legte der Beschwer­de­führer die eidesstattliche Versicherung eines Teilnehmers einer (ebenfalls rechts­ge­richteten) Versammlung am 1. September 2001 in Leipzig vor. Darin schilderte dieser, dass die Versammlung von linken Demonstranten mit Steinen, Flaschen und anderen Gegenständen beworfen worden sei. Das auf Feststellung der Rechts­wid­rigkeit der Auflage gerichtete Rechts­schutz­be­gehren des Beschwer­de­führers blieb in allen Instanzen erfolglos. Hierbei stützten die Verwal­tungs­ge­richte sich im Hinblick auf die nach § 15 Abs. 1 VersG anzustellende Gefah­ren­prognose auf die genannten eidess­tatt­lichen Versicherungen.

Beschwer­de­führer in Grundrecht der Versamm­lungs­freiheit verletzt

Mit seiner Verfas­sungs­be­schwerde rügt der Beschwer­de­führer insbesondere eine Verletzung seines Grundrechts der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat die Verfas­sungs­be­schwerde zur Entscheidung angenommen und die verwal­tungs­ge­richt­lichen Entscheidungen aufgehoben. Diese werden den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen für die Gefah­ren­prognose im Rahmen von § 15 Abs. 1 VersG nicht gerecht und verletzen den Beschwer­de­führer in seinem Grundrecht der Versamm­lungs­freiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG, da die Verwal­tungs­ge­richte keine hinreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für eine von der Versammlung selbst ausgehende - und damit die Auflage rechtfertigende - Gefahr für die öffentliche Sicherheit aufgezeigt haben.

Verwal­tungs­ge­richte stützen sich bei Gefah­ren­prognose auf Vermutungen

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde: Der Sache nach haben sich die Verwal­tungs­ge­richte bei ihrer Gefah­ren­prognose allein auf die - nicht ausgesprochene - Vermutung gestützt, die Teilnehmer der vom Beschwer­de­führer veranstalteten Versammlung könnten durch frühere Störungen von gewalttätigen linken Gegen­de­mon­s­tranten gereizt nunmehr zum Präventivschlag ausholen.

Aussagen privater Personen stellen keine nachvoll­ziehbaren tatsächlichen Anhaltspunkte für Gefah­ren­prognose dar

Die zwei Teilnehmer der NPD-Versammlung haben in ihren eidess­tatt­lichen Versicherungen, auf die sich das Gericht im Wesentlichen stützt, lediglich organi­sa­to­rische Vorsichts­maß­nahmen auf Veran­stal­terseite gegen eventuelle Übergriffe gewaltbereiter linker Gegen­de­mon­s­tranten beschrieben. Diese Aussagen privater Personen zu ihrerseits lediglich verdachts­ge­leiteten Handlungen stellen keine nachvoll­ziehbaren tatsächlichen Anhaltspunkte dar, wie sie für eine Gefah­ren­prognose im Rahmen des § 15 Abs. 1 VersG erforderlich sind. Vor allem lässt sich diesen Aussagen nicht entnehmen, dass sich die Teilnehmer der vom Beschwer­de­führer geplanten Versammlung bei dieser Gelegenheit nicht rechtstreu verhalten haben. Auch die eidesstattliche Versicherung über die Versammlung am 1. September 2001 in Leipzig bezieht sich lediglich auf Übergriffe gewalttätiger linker Gegen­de­mon­s­tranten.

Vermutungen ohne Tatsa­chen­grundlagen reichen für Gefah­ren­prognose nicht aus

Derartige Vermutungen ohne hinreichende konkrete Tatsa­chen­grundlage reichen für die Gefah­ren­prognose im Rahmen des § 15 Abs. 1 VersG nicht aus. Der Umstand, dass bei der von dem Beschwer­de­führer veranstalteten Versammlung Störungen der öffentlichen Sicherheit durch gewaltbereite linke Gegen­de­mon­s­tranten zu befürchten waren, hätte den zuständigen Behörden Anlass sein müssen, zuvörderst gegen die angekündigten Gegen­de­mon­s­tra­tionen Maßnahmen zu ergreifen. Das durch gewaltbereite Gegen­de­mon­s­tranten drohende Gefah­ren­po­tential ist der von dem Beschwer­de­führer veranstalteten Versammlung nicht zurechenbar.

Als Nichtstörerin hätte die vom Beschwer­de­führer veranstaltete Versammlung daher nur im Wege des polizeilichen Notstandes in Anspruch genommen werden können. Hierzu fehlt es den angegriffenen Entscheidungen jedoch an den erforderlichen tatsächlichen Feststellungen und Ansätzen für deren notwendige rechtliche Würdigung.

Quelle: ra-online, Bundesverfassungsgericht

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