18.10.2024
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Dokument-Nr. 5783

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Beschluss11.03.2008Bundesverfassungsgericht1 BvR 256/08
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • MMR 2008, 303Zeitschrift: Multimedia und Recht (MMR), Jahrgang: 2008, Seite: 303
  • WM 2008, 706Wertpapier-Mitteilungen Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht (WM), Jahrgang: 2008, Seite: 706
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ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Beschluss11.03.2008

Eilantrag: Bundes­ver­fas­sungs­gericht schränkt "Vorrats­da­ten­spei­cherung" einDaten­spei­cherung nur unter strengen Auflagen

Das Gesetz zur massenhaften Speicherung von Telefon- und Inter­net­ver­bin­dungen wurde vom Bundes­ver­fas­sungs­gericht teilweise außer Kraft gesetzt. Der Staat darf auf Vorrat gespeicherte Telefon­ver­bin­dungsdaten vorerst nur zur Verfolgung schwerer Straftaten nutzen, entschieden die Karlsruher Richter.

Das Gesetz zur Neuregelung der Telekom­mu­ni­ka­ti­o­ns­über­wachung vom 21. Dezember 2007 dient unter anderem dazu, die Richtlinie der Europäischen Union über die Vorratsdatenspeicherung in deutsches Recht umzusetzen. Zu diesem Zweck enthält sein Art. 2 Änderungen des Telekom­mu­ni­ka­ti­o­ns­ge­setzes (TKG).

Acht Bürger erhoben Verfas­sungs­be­schwerde

Gegenstand der von acht Bürgern erhobenen Verfassungsbeschwerde sind die neu geschaffenen §§ 113a, 113b TKG. § 113 a TKG regelt die Speiche­rungs­pflicht für Daten. Anbieter von Telekom­mu­ni­ka­ti­o­ns­diensten werden verpflichtet, bestimmte Verkehrs- und Standortdaten, die bei der Nutzung von Telefon, Handy, E-Mail und Internet anfallen, für einen Zeitraum von sechs Monaten zu speichern. § 113 b TKG regelt die Verwendung der gespeicherten Daten. Danach kann der bevorratete Datenbestand zum Zwecke der Verfolgung von Straftaten, der Abwehr erheblicher Gefahren für die öffentliche Sicherheit und der Erfüllung nachrich­ten­dienst­licher Aufgaben abgerufen werden. Die Norm enthält keine eigenständige Abrufbefugnis, sie setzt vielmehr gesonderte gesetzliche Bestimmungen über einen Datenabruf unter Bezugnahme auf § 113 a TKG voraus. Bislang nimmt lediglich die Straf­pro­zess­ordnung (§ 100 g StPO) auf § 113 a TKG Bezug und ermöglicht zum Zweck der Strafverfolgung ein Auskunft­s­er­suchen über solche Telekom­mu­ni­kations-Verkehrsdaten, die ausschließlich aufgrund der in § 113 a TKG geregelten Bevor­ra­tungs­pflicht gespeichert sind.

Beschwer­de­führer haben teilweise Erfolg mit dem Antrag, das Gesetz außer Kraft zu setzen

Der Antrag der Beschwer­de­führer, §§ 113a, 113b TKG im Wege der einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung über die Verfas­sungs­be­schwerde außer Kraft zu setzen, hatte teilweise Erfolg. Der Erste Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts ließ die Anwendung von § 113 b TKG, soweit er die Verwendung der gespeicherten Daten zum Zweck der Strafverfolgung regelt, bis zur Entscheidung in der Hauptsache nur modifiziert zu. Aufgrund eines Abrufersuchens einer Straf­ver­fol­gungs­behörde hat der Anbieter von Telekom­mu­ni­ka­ti­o­ns­diensten die verlangten Daten zwar zu erheben und zu speichern. Sie sind jedoch nur dann an die Straf­ver­fol­gungs­behörde zu übermitteln, wenn Gegenstand des Ermitt­lungs­ver­fahrens eine schwere Straftat im Sinne des § 100 a Abs. 2 StPO ist, die auch im Einzelfall schwer wiegt, der Verdacht durch bestimmte Tatsachen begründet ist und die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise wesentlich erschwert oder aussichtslos wäre (§ 100 a Abs. 1 StPO). In den übrigen Fällen ist von einer Übermittlung der Daten einstweilen abzusehen. Zugleich wurde der Bundesregierung aufgegeben, dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht zum 1. September 2008 über die praktischen Auswirkungen der Daten­spei­che­rungen und der vorliegenden einstweiligen Anordnung zu berichten. Im Übrigen lehnte der Erste Senat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ab; insbesondere lehnte er die Aussetzung des Vollzugs von § 113 a TKG, der allein die Speiche­rungs­pflicht für Daten regelt, ab.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht darf von seiner Befugnis, das Inkrafttreten oder den Vollzug eines Gesetzes auszusetzen, nur mit größter Zurückhaltung Gebrauch machen, da der Erlass einer solchen einstweiligen Anordnung stets ein erheblicher Eingriff in die Gestal­tungs­freiheit des Gesetzgebers ist. Der Prüfungsmaßstab ist noch weiter verschärft, wenn eine einstweilige Anordnung begehrt wird, durch die der Vollzug einer Rechtsnorm ausgesetzt wird, soweit sie zwingende Vorgaben des Gemein­schafts­rechts in das deutsche Recht umsetzt. Eine solche einstweilige Anordnung droht über die Entschei­dungs­kom­petenz des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts in der Hauptsache hinauszugehen und kann zudem das Gemein­schafts­in­teresse an einem effektiven Vollzug des Gemein­schafts­rechts stören.

Ob und unter welchen Voraussetzungen das Bundes­ver­fas­sungs­gericht den Vollzug eines Gesetzes aussetzen kann, soweit es zwingende gemein­schafts­rechtliche Vorgaben umsetzt, bedarf hier keiner abschließenden Entscheidung. Eine derartige einstweilige Anordnung setzt aber zumindest voraus, dass aus der Vollziehung des Gesetzes den Betroffenen ein besonders schwerwiegender und irreparabler Schaden droht, dessen Gewicht das Risiko hinnehmbar erscheinen lässt, im Eilverfahren über die Entschei­dungs­kom­petenz des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts in der Hauptsache hinauszugehen und das Gemein­schafts­in­teresse an einem effektiven Vollzug des Gemein­schafts­rechts schwerwiegend zu beeinträchtigen. Nach diesen Maßstäben ist dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nur teilweise stattzugeben.

Daten dürfen vorerst weiterhin gespeichert werden

I. Eine Aussetzung des Vollzugs von § 113 a TKG (Speiche­rungs­pflicht) scheidet aus. Ein besonders schwerwiegender und irreparabler Nachteil, der es rechtfertigen könnte, den Vollzug der Norm ausnahmsweise im Wege einer einstweiligen Anordnung auszusetzen, liegt in der Daten­spei­cherung allein nicht. Zwar kann die umfassende und anlasslose Bevorratung sensibler Daten über praktisch jedermann für staatliche Zwecke, die sich zum Zeitpunkt der Speicherung der Daten nicht im Einzelnen absehen lassen, einen erheblichen Einschüch­te­rungs­effekt bewirken. Der in der Vorrats­da­ten­spei­cherung für den Einzelnen liegende Nachteil für seine Freiheit und Privatheit verdichtet und konkretisiert sich jedoch erst durch einen Abruf seiner Daten zu einer möglicherweise irreparablen individuellen Beein­träch­tigung.

Richter schränken Nutzung der Daten ein

II. Hingegen ist die in § 113 b Satz 1 Nr. 1 TKG ermöglichte Nutzung der bevorrateten Daten zu Zwecken der Strafverfolgung bis zur Entscheidung über die Verfas­sungs­be­schwerde teilweise auszusetzen. Die erforderliche Folgenabwägung ergibt, dass das öffentliche Interesse am Vollzug der Norm hinter den Nachteilen, die durch den Normvollzug drohen, teilweise zurückstehen muss.

1. Erginge keine einstweilige Anordnung, erwiese sich die Verfas­sungs­be­schwerde aber später als begründet, so drohten Einzelnen und der Allgemeinheit in der Zwischenzeit Nachteile von ganz erheblichem Gewicht. In dem Verkehrs­da­te­nabruf selbst liegt ein schwerwiegender und nicht mehr rückgängig zu machender Eingriff in das Grundrecht aus Art. 10 Abs. 1 GG (Schutz des Telekom­mu­ni­ka­ti­o­ns­ge­heim­nisses). Ein solcher Datenabruf ermöglicht es, weitreichende Erkenntnisse über das Kommu­ni­ka­ti­o­ns­ver­halten und die sozialen Kontakte des Betroffenen zu erlangen. Zudem werden in vielen Fällen die durch den Verkehrs­da­te­nabruf erlangten Erkenntnisse die Grundlage für weitere Ermitt­lungs­maß­nahmen bilden. Schließlich können die abgerufenen Verkehrsdaten sowie die durch weitere Ermitt­lungs­maß­nahmen, die an den Verkehrs­da­te­nabruf anknüpfen, erlangten Erkenntnisse Grundlage eines Strafverfahrens oder gegebenenfalls einer straf­recht­lichen Verurteilung des Betroffenen werden, die ohne die Daten­be­vor­ratung und den Datenabruf nicht möglich gewesen wäre.

2. Erginge eine auf den Abruf der bevorrateten Daten bezogene einstweilige Anordnung, erwiesen sich die angegriffenen Normen jedoch später als verfas­sungsgemäß, so könnten sich Nachteile für das öffentliche Interesse an einer effektiven Strafverfolgung ergeben. Diese Nachteile wiegen allerdings teilweise weniger schwer und sind hinzunehmen, wenn nicht das Abrufersuchen ausgeschlossen, sondern lediglich die Übermittlung und Nutzung der auf das Ersuchen hin von dem zur Speicherung Verpflichteten erhobenen Daten ausgesetzt werden. Sollten die mit der Verfas­sungs­be­schwerde angegriffenen Normen sich als verfas­sungsgemäß erweisen, so könnten anschließend diese Daten in vollem Umfang zum Zweck der Strafverfolgung genutzt werden. Eine Vereitelung der Strafverfolgung durch die zwischen­zeitliche Löschung der bevorrateten Daten ist dann nicht zu besorgen.

Nutzung der gespeicherten Daten ist vorerst nur zur Aufklärung von schweren Straftaten erlaubt

Die Übermittlung und Nutzung der von einem Diensteanbieter auf ein Abrufersuchen hin erhobenen Daten sind allerdings in den Fällen nicht zu beschränken, in denen Gegenstand des Ermitt­lungs­ver­fahrens eine schwere Straftat im Sinne des § 100 a Abs. 2 StPO ist, die auch im Einzelfall schwer wiegt, der Verdacht durch bestimmte Tatsachen begründet ist und die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise wesentlich erschwert oder aussichtslos wäre (§ 100 a Abs. 1 StPO). Im verfas­sungs­ge­richt­lichen Eilverfahren ist von der Einschätzung des Gesetzgebers auszugehen, nach der die in § 100 a Abs. 2 StPO genannten Straftaten so schwer wiegen, dass sie auch gewichtige Eingriffe in das Grundrecht aus Art. 10 Abs. 1 GG rechtfertigen können. In diesen Fällen hat das öffentliche Straf­ver­fol­gungs­in­teresse daher grundsätzlich ein derartiges Gewicht, dass eine Verzögerung durch eine einstweilige Anordnung nicht hingenommen werden kann. Dabei ist im Verfahren über den Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zu klären, ob der deutsche Gesetzgeber durch die Richtlinie 2006/24/EG verpflichtet war, sämtliche der in § 100 a Abs. 2 StPO aufgeführten Straftaten in die Abrufer­mäch­tigung des § 100 g StPO einzubeziehen.

Liegen diese Voraussetzungen hingegen nicht vor, ist die Übermittlung und Nutzung der bevorrateten Verkehrsdaten einstweilen auszusetzen. Insbesondere in den Fällen, in denen die Abrufer­mäch­tigung der Straf­pro­zess­ordnung (§ 100 g StPO) Verkehrs­da­te­n­abrufe bei Verdacht auf sonstige "Straftaten von im Einzelfall erheblicher Bedeutung" oder auf Straftaten mittels Telekom­mu­ni­kation ermöglicht, ist das Risiko hinzunehmen, dass eine Verzögerung der Datennutzung das Ermitt­lungs­ver­fahren insgesamt vereitelt. Die Nichtaufnahme in den Katalog des § 100 a Abs. 2 StPO indiziert, dass der Gesetzesgeber den verbleibenden Straftaten im Hinblick auf Eingriffe in das Grundrecht aus Art. 10 Abs. 1 GG geringere Bedeutung beigemessen hat. Dementsprechend geringer zu gewichten sind die Nachteile durch eine Aussetzung der Datennutzung, die im Rahmen der Folgenabwägung der Beein­träch­tigung der Grundrechte der Betroffenen gegenüber zu stellen sind.

III. Für eine einstweilige Anordnung über die Datennutzung zu präventiven Zwecken (§ 113 b Satz 1 Nr. 2 und 3 TKG) besteht kein Anlass, da bislang keine fachrechtlichen Abrufer­mäch­ti­gungen bestehen, die ausdrücklich auf § 113 a TKG Bezug nehmen.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 37/08 des BVerfG vom 19.03.2008

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