15.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss14.06.2019

"Hexenprozess": Verletzung der Meinungs­freiheit durch fälschliche Einordnung einer Äußerung als SchmähkritikHinsichtlich des Vorliegens von Schmähkritik sind strenge Maßstäbe anzuwenden

Das Bundes­verfassungs­gericht hat der Verfassungs­beschwerde eines wegen Beleidigung Verurteilten stattgegeben, der die Verhand­lungs­führung einer Amtsrichterin mit national­sozialistischen Sondergerichten und Hexenprozessen verglichen hatte. Das Bundes­verfassungs­gericht entschied, dass die Fachgerichte dies unzutreffend als Schmähkritik eingeordnet hatten, obwohl es sich nicht um eine reine Herabsetzung der Betroffenen handelte, sondern ein sachlicher Bezug zu dem vom Beschwer­de­führer geführten Zivilprozess bestand.

Der Beschwer­de­führer des zugrunde liegenden Falls war Kläger eines amtsge­richt­lichen Zivilprozesses. In der Begründung eines Ableh­nungs­gesuchs schilderte er ausführlich seinen Eindruck, die Richterin habe einen vom Beklagten benannten Zeugen einseitig zu seinen Lasten vernommen und diesem die von ihr erwünschten Antworten gleichsam in den Mund gelegt. Er führte weiter aus, "die Art und Weise der Beeinflussung der Zeugen und der Verhand­lungs­führung durch die Richterin sowie der Versuch, den Kläger von der Verhandlung auszuschließen" erinnerten stark an "einschlägige Gerichts­ver­fahren vor ehemaligen natio­nal­so­zi­a­lis­tischen deutschen Sondergerichten". Die gesamte Verhand­lungs­führung der Richterin habe "eher an einen mittel­al­ter­lichen Hexenprozess als an ein nach rechts­s­taat­lichen Grundsätzen geführtes Verfahren" erinnert. Wegen dieser Äußerungen verurteilte das Amtsgericht den Beschwer­de­führer wegen Beleidigung zu einer Gesamt­geldstrafe in Höhe von 30 Tagessätzen. Berufung, Revision und Anhörungsrüge des Beschwer­de­führers blieben erfolglos.

Anlass und Kontext einer Äußerung muss grundsätzlich ermittelt werden

Das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts gab der Verfas­sungs­be­schwerde des Mannes statt. Grundsätzlich sei über die Frage, ob eine Äußerung als Beleidigung zu bestrafen ist oder von der Meinungsfreiheit geschützt ist, im Wege einer Abwägung zu entscheiden. Bei Einordnung einer Äußerung als Schmähkritik trete demgegenüber die Meinungs­freiheit von vornherein zurück; es bedürfe hier ausnahmsweise keiner Abwägung im Einzelfall. Deshalb seien hinsichtlich des Vorliegens von Schmähkritik strenge Maßstäbe anzuwenden, so das Bundes­ver­fas­sungs­gericht. Maßgeblich sei hierfür nicht einfach eine wertende Gesamt­be­trachtung, sondern die Frage, ob die Äußerung einen Sachbezug hat. Nur wenn eine Äußerung der Sache nach allein auf die Diffamierung einer Person als solche, etwa im Rahmen einer Privatfehde zielt, komme eine Beurteilung als Schmähung in Betracht; insoweit seien stets Anlass und Kontext der Äußerung zu ermitteln. Stehe die Äußerung hingegen - wie in der Regel - im Kontext einer Sachaus­ein­an­der­setzung, bedürfe es einer Abwägung, die die Bedeutung der Äußerung unter den konkreten Umständen des Einzelfalls gewichtet.

Entscheidung des BVerfG:

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass die Entscheidungen der Gerichte den Beschwer­de­führer in seinem Grundrecht auf Meinungs­freiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG verletzen. Die Äußerungen fallen in den Schutzbereich des Grundrechts auf Meinungs­freiheit, da die polemische oder verletzende Formulierung einer Aussage diese grundsätzlich nicht dem Schutzbereich des Grundrechts entzieht.

Scharfe Kritik der öffentlichen Gewalt ohne Furcht vor staatlichen Sanktionen gehört zum Kernbereich der Meinungs­freiheit

Das Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gilt nicht vorbehaltlos, sondern findet nach Art. 5 Abs. 2 GG seine Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, namentlich in dem der hier angegriffenen Verurteilung zugrunde liegenden § 185 StGB. Steht ein Äußerungsdelikt in Frage, so verlangt Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG grundsätzlich eine Gewichtung der Beein­träch­tigung, die der Meinungs­freiheit des sich Äußernden einerseits und der persönlichen Ehre des von der Äußerung Betroffenen andererseits droht. Das Recht, Maßnahmen der öffentlichen Gewalt ohne Furcht vor staatlichen Sanktionen auch scharf kritisieren zu können, gehört zum Kernbereich der Meinungs­freiheit, weshalb deren Gewicht insofern besonders hoch zu veranschlagen ist. Sie erlaubt es insbesondere nicht, den Beschwer­de­führer auf das zur Kritik am Rechtsstaat Erforderliche zu beschränken und ihm damit ein Recht auf polemische Zuspitzung abzusprechen.

Hinsichtlich des möglichen Vorliegens von Formal­be­lei­di­gungen und Schmähkritik sind strenge und eigenständige Maßstäbe anzuwenden

Einen Sonderfall bei der Auslegung und Anwendung der §§ 185ff. StGB bilden herabsetzende Äußerungen, die sich als Formal­be­lei­digung oder Schmähung darstellen. Dann ist ausnahmsweise keine Abwägung zwischen der Meinungs­freiheit und dem Persön­lich­keitsrecht notwendig, weil die Meinungs­freiheit regelmäßig hinter den Ehrenschutz zurücktreten wird. Diese für die Meinungs­freiheit einschneidende Folge gebietet es aber, hinsichtlich des Vorliegens von Formal­be­lei­di­gungen und Schmähkritik strenge und eigenständige Maßstäbe anzuwenden. Die Qualifikation einer ehrenrührigen Aussage als Schmähkritik und der damit begründete Verzicht auf eine Abwägung zwischen Meinungs­freiheit und Ehre richten sich nach dem Kriterium des sachlichen Bezugs. Solange ein Bezug zu einer Sachaus­ein­an­der­setzung besteht und sich die Äußerungen damit nicht - wie etwa im Fall der Privatfehde - auf eine bloße persönliche Diffamierung oder Herabsetzung der von der Äußerung Betroffenen beschränken, sind sie nicht als Schmähung einzustufen, sondern können sie nur nach Maßgabe einer umfassenden und einzel­fa­ll­be­zogenen Abwägung mit der Meinungs­freiheit als Beleidigung bestraft werden. Ob ein solcher sachlicher Bezug gegeben ist, ist unter Berück­sich­tigung von Anlass und Kontext der Äußerung zu ermitteln.

Äußerungen im zugrunde liegenden Fall stellen keine Schmähkritik dar

Diesen Maßstäben genügen die Entscheidungen nicht. Bedeutung und Tragweite der Meinungs­freiheit sind schon dann verkannt, wenn eine Äußerung unzutreffend als Formal­be­lei­digung oder Schmähkritik eingestuft wird mit der Folge, dass sie dann nicht im selben Maß am Schutz des Grundrechts teilnimmt wie Äußerungen, die als Werturteil ohne beleidigenden oder schmähenden Charakter anzusehen sind. So liegt der Fall hier; die inkriminierten Äußerungen stellen keine Schmähkritik dar. Mit seinen Vergleichen richtete sich der Beschwer­de­führer gegen die Verhand­lungs­führung der Richterin in dem von ihm betriebenen Zivilverfahren. Dieses bildete den Anlass der Äußerungen, die im Kontext der umfangreichen Begründung eines Befan­gen­heits­gesuchs getätigt wurden. Die Äußerungen entbehren daher insofern nicht eines sachlichen Bezugs. Sie lassen sich wegen der auf die Verhand­lungs­führung und nicht auf die Richterin als Person gerichteten Formulierungen nicht sinnerhaltend aus diesem Kontext lösen und erscheinen daher nicht als bloße Herabsetzung der Betroffenen. Historische Vergleiche mit dem Natio­nal­so­zi­a­lismus oder Vorwürfe einer "mittel­al­ter­lichen" Gesinnung können besonderes Gewicht im Rahmen der Abwägung haben, begründen aber nicht schon für sich besehen die Annahme des Vorliegens von Schmähkritik.

Beschwer­de­führer darf unter Berück­sich­tigung der Meinungs­freiheit nicht auf das zur Begründung der Rechtsansicht Erforderliche beschränkt werden

Die Ausführungen, mit denen das Landgericht eine Wahrnehmung berechtigter Interessen nach § 193 StGB verneint, nehmen die unzutreffende Einordnung der Äußerung als Schmähung nicht zurück, sondern bauen auf ihr auf. Zwar hebt das Landgericht insoweit zutreffend das besondere Interesse des Beschwer­de­führers an der Verteidigung seiner Rechtsansichten im "Kampf ums Recht" hervor und berücksichtigt zu seinen Gunsten, dass die Äußerungen Dritten gegenüber nicht bekannt wurden. Indem es demgegenüber dann aber geltend macht, dass die gewählten Formulierungen für die Verteidigung der Rechtsansichten nicht erforderlich gewesen seien, knüpft es an seinem unzutreffenden Verständnis des Begriffs der "Schmähung" als Ehrbe­ein­träch­tigung, die durch die Sache nicht mehr geboten ist, an und verkennt, dass der Beschwer­de­führer unter Berück­sich­tigung seiner Meinungs­freiheit nicht auf das zur Begründung seiner Rechtsansicht Erforderliche beschränkt werden darf.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online (pm/kg)

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