15.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss08.02.2017

Schmähkritik: Falsche Einordnung verkürzt grund­recht­lichen Schutz der Meinungs­freiheitGesamtumstände müssen berücksichtigt werden

Wegen seines die Meinungs­freiheit verdrängenden Effekts ist der Begriff der Schmähkritik von Verfassungs wegen eng zu verstehen. Auch eine überzogene oder gar ausfällige Kritik macht eine Äußerung für sich genommen noch nicht zur Schmähung. Die Annahme einer Schmähung hat wegen des mit ihr typischerweise verbundenen Unterbleibens einer Abwägung gerade in Bezug auf Äußerungen, die als Beleidigung beurteilt werden, ein eng zu handhabender Sonderfall zu bleiben. Dies hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts mit heute veröf­fent­lichtem Beschluss entschieden und damit einer Verfas­sungs­be­schwerde gegen die straf­ge­richtliche Verurteilung des Beschwer­de­führers wegen Beleidigung stattgegeben.

Im vorliegenden Fall war der Beschwer­de­führer Versamm­lungs­leiter einer ordnungsgemäß angemeldeten Demonstration aus dem rechten Spektrum in Köln. Die Demonstration stieß auf zahlreiche Gegen­de­mon­s­tranten. Unter diesen war auch ein Bundes­tags­ab­ge­ordneter der Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor Ort, um die Durchführung des Aufzuges aktiv zu verhindern. Er bezeichnete die Teilnehmer der Demonstration mehrfach wörtlich und sinngemäß als "braune Truppe" und "rechtsextreme Idioten". Der Beschwer­de­führer äußerte sich über den Bundes­tags­ab­ge­ordneten wörtlich wie folgt:

"Ich sehe hier einen aufgeregten grünen Bundes­tags­ab­ge­ordneten, der Kommandos gibt, der sich hier als Obergauleiter der SA-Horden, die er hier auffordert. Das sind die Kinder von Adolf Hitler. Das ist dieselbe Ideologie, die haben genauso angefangen."

Beschwer­de­führer rügt Verletzung seiner Meinungs­freiheit

Das Amtsgericht verurteilte den Beschwer­de­führer wegen Beleidigung in Form einer Schmähkritik zu einer Geldstrafe. Auf die Berufung des Beschwer­de­führers verwarnte das Landgericht den Beschwer­de­führer und behielt sich die Verurteilung zu einer Geldstrafe vor. Die Revision zum Oberlan­des­gericht blieb erfolglos. Mit seiner Verfas­sungs­be­schwerde wendet sich der Beschwer­de­führer gegen die gerichtlichen Entscheidungen und rügt im Wesentlichen die Verletzung seiner Meinungsfreiheit.

Pointierte, polemische oder überspitzte Kritik von Meinungs­freiheit geschützt

Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwer­de­führer in seinem Grundrecht auf Meinungs­freiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.

1. Das Grundrecht auf Meinungs­freiheit schützt nicht nur sachlich-differenzierte Äußerungen. Vielmehr darf Kritik auch pointiert, polemisch und überspitzt erfolgen. Einen Sonderfall bilden hingegen herabsetzende Äußerungen, die sich als Formal­be­lei­digung oder Schmähung darstellen. Dann ist ausnahmsweise keine Abwägung zwischen der Meinungs­freiheit und dem Persönlichkeitsrecht notwendig, weil die Meinungs­freiheit regelmäßig hinter den Ehrenschutz zurücktritt. Bedeutung und Tragweite der Meinungs­freiheit sind auch dann verkannt, wenn eine Äußerung unzutreffend als Tatsachenbehauptung, Formal­be­lei­digung oder Schmähkritik eingestuft wird mit der Folge, dass sie dann nicht im selben Maß am Schutz des Grundrechts teilnimmt wie Äußerungen, die als Werturteil ohne beleidigenden oder schmähenden Charakter anzusehen sind.

Keine Abwägung zwischen Meinungs­freiheit und allgemeinem Persön­lich­keitsrecht bei Urteilsfindung der Vorinstanzen erfolgt

2. Die Gerichte ordnen die Äußerung des Beschwer­de­führers in verfas­sungs­rechtlich nicht mehr tragbarer Weise als Schmähkritik ein und unterlassen die verfas­sungs­rechtlich gebotene Abwägung zwischen der Meinungs­freiheit des Beschwer­de­führers und dem allgemeinen Persön­lich­keitsrecht des von der Äußerung Betroffenen. Die angegriffenen Entscheidungen verkennen, dass der Beschwer­de­führer mit seiner Äußerung auch das Handeln des Geschädigten kommentierte, der sich maßgeblich an der Blockade der vom Beschwer­de­führer als Versamm­lungs­leiter angemeldeten Versammlung beteiligte und die Teilnehmenden auch seinerseits als "braune Truppe" und "rechtsextreme Idioten" beschimpft hatte. Es ging dem Beschwer­de­führer nicht ausschließlich um die persönliche Herabsetzung des Geschädigten. Bereits die unzutreffende Einordnung verkennt Bedeutung und Tragweite der durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützten Meinungs­freiheit.

Entschei­dungs­fehler basiert auf unzutreffende Einordnung

3. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf diesem Fehler. Wie diese Abwägung ausgeht, ist verfas­sungs­rechtlich nicht vorgegeben. Bei erneuter Befassung wird auf der einen Seite das Vorverhalten des Geschädigten, der aktiv eine Demonstration verhindern wollte, wie auf der anderen Seite das schwere Gewicht einer Ehrverletzung zu berücksichtigen sein, das in einem individuell adressierten Vergleich mit Funkti­o­ns­trägern des natio­nal­so­zi­a­lis­tischen Unrechtsregimes liegt.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ ra-online

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