18.10.2024
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Dokument-Nr. 24637

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Entscheidung12.07.2017Bundesverfassungsgericht1 BvR 2222/12, 1 BvR 1106/13
Vorinstanzen zu 1 BvR 2222/12:
  • Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss11.09.2012, 22 ZB 12.1843
  • Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss30.07.2012, 22 ZB 11.1518
  • Verwaltungsgericht Augsburg, Urteil05.05.2011, Au 2 K 09.743
Vorinstanzen zu 1 BvR 1106/13:
  • Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss05.02.2013, 8 A 1190/12.Z
  • Verwaltungsgericht Kassel, Urteil20.04.2012, 3 K 1741/10.KS
ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Entscheidung12.07.2017

Pflicht­mit­glied­schaft in Industrie- und Handelskammer: Verfas­sungs­be­schwerden erfolglosBeitragspflicht verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden

Die an die Pflicht­mit­glied­schaft in Industrie- und Handelskammern gebundene Beitragspflicht ist verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden. Dies hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschieden und damit die Verfas­sungs­be­schwerden zurückgewiesen.

In den vorliegenden Verfahren machten zwei Kammer­mit­glieder geltend, dass die gesetzlich normierte Pflichtmitgliedschaft in den Industrie- und Handelskammern und die daraus resultierende Beitragspflicht nicht mit dem Grundgesetz vereinbar seien.

Gewer­be­trei­bender ist automatisch Pflichtmitglied in Industrie- und Handelskammer

Die Industrie- und Handelskammern sind als Körperschaften des öffentlichen Rechts organisiert, an die die Kammer­mit­glieder Beiträge zahlen müssen. Pflichtmitglied ist, wer im Bezirk der jeweils regional zuständigen Industrie- und Handelskammer einen Gewerbebetrieb betreibt. Auch die beiden Beschwer­de­füh­re­rinnen wurden zu einem Kammerbeitrag herangezogen und haben gegen die Beitrags­be­scheide erfolglos geklagt. Mit ihren Verfas­sungs­be­schwerden wenden sie sich gegen die Beitrags­be­scheide und gegen die Bestimmungen des Gesetzes über die Industrie- und Handelskammer (IHKG) zur Pflicht­mit­glied­schaft. Diese verletze sie in ihren Rechten aus Art. 9 Abs. 1 GG, jedenfalls aber aus Art. 2 Abs. 1 GG.

Prüfungsmaßstab ergibt aus Grundrecht der allgemeinen Handlungs­freiheit

Erwägungen des Gerichts:

1. Der Prüfungsmaßstab für den Schutz vor Pflicht­mit­glied­s­chaften in „unnötigen“ Körperschaften ergibt sich aus dem Grundrecht der allgemeinen Handlungs­freiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), nicht aus dem Grundrecht der Verei­ni­gungs­freiheit (Art. 9 Abs. 1 GG). Denn Art. 9 Abs. 1 GG zielt auf freiwillige Zusam­men­schlüsse zu frei gewählten Zwecken, während eine gesetzliche Eingliederung in eine öffentlich-rechtliche Körperschaft private Akteure für öffentliche Aufgaben in Anspruch nimmt.

Beitrags­er­hebung und Pflicht­mit­glied­schaft grundsätzlich Eingriffe in allgemeine Handlungs­freiheit

2. Sowohl die Beitrags­er­hebung als auch die Pflicht­mit­glied­schaft sind Eingriffe in die nach Art. 2 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Handlungs­freiheit. Bereits die Pflicht­mit­glied­schaft als solche ist nicht lediglich rechtlich vorteilhaft oder eingriffs­neutral. Daher ist die Gründung einer öffentlich-rechtlichen Pflicht­kör­per­schaft, die nicht unmittelbar im Grundgesetz bestimmt ist, nur auf gesetzlicher Grundlage und durch Organi­sa­ti­o­nsakte möglich, die den Vorgaben des Grundgesetzes genügen.

Inter­es­sens­ver­tretung, Förderung von Verwal­tungs­aufgaben legitimer Zweck für Pflicht­mit­glied­schaft

a) Die Einbindung in die Industrie- und Handelskammern im Wege der Pflicht­mit­glied­schaft ist gerechtfertigt. Die in § 1 IHKG normierten Aufgaben entsprechen der für die wirtschaftliche Selbst­ver­waltung typischen Verbindung von Inter­es­sen­ver­tretung, Förderung und Verwal­tungs­aufgaben, die vom Bundes­ver­fas­sungs­gericht bereits mehrfach als legitimer Zweck für die Pflicht­mit­glied­schaft angesehen wurde. Gerade die Pflicht­mit­glied­schaft sichert, dass alle regional Betroffenen ihre Interessen einbringen können und diese fachkundig vertreten werden. Dies ist auch mit Blick auf die weiteren Aufgaben der Industrie- und Handelskammern, Prüfungen abzunehmen und Bescheinigungen zu erteilen, gefragt.

Beiträge ermöglichen Erfüllung von Aufgaben

b) Die Regelungen zur Pflicht­mit­glied­schaft sind geeignet, diese Zwecke zu erreichen, und damit eine taugliche Grundlage für die Erhebung von Beiträgen. Zwar könnte der Gesetzgeber sich auch für ein Konzept freiwilliger Mitgliedschaft bei Erhalt der Kammern im Übrigen entscheiden. Doch steht das Grundgesetz nicht entgegen, wenn mit der Pflicht­mit­glied­schaft aller Gewer­be­trei­benden eines Bezirks die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, ein Gesamtinteresse zu ermitteln, das tatsächlich alle Betriebe und Unternehmen berücksichtigt. Die an die Pflicht­mit­glied­schaft gebundene Beitragspflicht trägt dazu bei, den Kammern - bei angemessener Höhe und ordnungsgemäßer Verwendung - die Erfüllung ihrer Aufgaben zu ermöglichen. Der Gesetzgeber darf sich auch für die Organisation in Bezirken entscheiden. Die Einschätzung, dass auch in einer europäisierten und globalisierten Wirtschaft wichtige Handlungs­impulse von der lokalen oder regionalen Ebene kommen können und sollen, stößt auf keine durchgreifenden Bedenken.

Gesam­t­in­ter­es­sens­ver­tretung der regionalen Wirtschaft erfordert vollständige Erfassung von Gewer­be­trei­benden

c) Der Eingriff in die allgemeine Handlungs­freiheit der Beschwer­de­füh­re­rinnen erscheint unter Berück­sich­tigung des weiten Einschät­zungs­spielraums des Gesetzgebers erforderlich. Es ist nicht ersichtlich, dass den Industrie- und Handelskammern Aufgaben zugewiesen wurden, die unnötige Kosten nach sich ziehen, oder dass es andere Möglichkeiten gebe, finanzielle Mittel mit geringerer Eingriffs­wirkung gleichermaßen verlässlich von den Betroffenen zu erheben. Eine freiwillige Mitgliedschaft ist keine verfas­sungs­rechtlich eindeutig weniger belastende Alternative. Die Zielsetzung des Gesetzgebers, das Gesamtinteresse der regionalen Wirtschaft zu erfassen, ist notwendig mit einer möglichst vollständigen Erfassung der Gewer­be­trei­benden und ihrer Interessen verbunden, die nach § 1 Abs. 1 IHKG „abwägend und ausgleichend“ zu berücksichtigen sind.

Durch Pflicht­mit­glied­schaft verliehene Rechte berechtigt Erhebung der Kammerumlage

d) Die Pflicht­mit­glied­schaft ist auch zumutbar, um die legitimen Ziele des Gesetzgebers zu erreichen, und kann die Beitragspflicht tragen. Die Belastung der Betriebe durch die nach dem Gewerbeertrag gestaffelte Beitragspflicht und die Pflicht­mit­glied­schaft in einer regionalen Industrie- und Handelskammer wiegen nicht sehr schwer. Bundesweit hat sich die Beitragspflicht in den letzten Jahren auch eher verringert als erhöht. Zudem verleiht die Pflicht­mit­glied­schaft den Kammer­zu­ge­hörigen Rechte zur Beteiligung und Mitwirkung an den Kammeraufgaben. Bereits dieser Vorteil aus den Mitglied­s­chafts­rechten berechtigt zur Erhebung der Kammerumlage. Die Pflicht­mit­glied­schaft zwingt insbesondere nicht dazu, es hinnehmen zu müssen, wenn der Pflichtverband und seine Organe die gesetzlich zugewiesenen Aufgaben überschreiten; dagegen kann jedes Mitglied fachgerichtlich vorgehen.

§ 1 Abs. 1 IHKG beinhaltet keine reine Inter­es­sens­ver­tretung

Die Wahrnehmung des Gesam­t­in­teresses gelingt allerdings nur, wenn abweichende Interessen einzelner Mitglieder oder grundlegende Inter­es­sen­kon­flikte, die für einzelne Mitglieder von erheblicher Bedeutung sind, in den Industrie- und Handelskammern berücksichtigt werden. § 1 Abs. 1 IHKG beinhaltet ein Abwägungsgebot und gerade nicht die Aufgabe der reinen Inter­es­sen­ver­tretung. Daraus folgt auch ein Minder­hei­ten­schutz. Abweichende Interessen oder grundlegende Inter­es­sen­kon­flikte dürfen nicht unterschlagen werden. Das kann es erforderlich machen, unter­schiedliche Positionen in der Darstellung des Abwägungs­ma­terials zu benennen, diese ausführlich auszuweisen oder auch ein echtes Minder­hei­tenvotum zu ermöglichen.

Beitragspflicht mit Demokra­tie­prinzip vereinbar

3. Die Beitragspflicht auf der Grundlage der Pflicht­mit­glied­schaft in den Kammern ist auch mit den Anforderungen des Demokra­tie­prinzips (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) vereinbar.

Aufgaben hinreichend demokratisch legitimiert

a) Die Wahrnehmung der Aufgaben der Industrie- und Handelskammern ist hinreichend demokratisch legitimiert. Sie nehmen in einem abgegrenzten Bereich eigen­ver­ant­wortlich öffentliche Aufgaben wahr, indem sie private Interessen gebündelt zur Geltung bringen, zielen aber nicht auf Eingriffe in Rechte Dritter und mit Ausnahme der Erhebung der Beiträge auch nicht auf Eingriffs­be­fugnisse zu Lasten der Mitglieder. Die Anforderungen sind in den gesetzlichen Regelungen in der fachrechtlichen Auslegung hinreichend vorgeprägt. Das gilt im Zusammenspiel mit der Rechtsaufsicht für die Beitragsordnung auch für die Beitragspflicht.

Keine verfas­sungs­recht­lichen Bedenken gegen Binnen­ver­fassung

b) Darüber hinaus ergeben sich aus dem Demokratieprinzip keine durchgreifenden verfas­sungs­recht­lichen Bedenken gegen die Binnen­ver­fassung der Industrie- und Handelskammern. Nach den Regelungen zu den Wahlen zur Vollversammlung der Kammern werden die betroffenen Interessen durch ausreichende institutionelle Vorkehrungen angemessen berücksichtigt. Es ist im Lichte der Aufga­ben­stellung der Kammern vom politischen Gestal­tungs­spielraum des Gesetzgebers gedeckt, zur Spiegelung der Wirtschaftss­truktur des Kammerbezirks die Gruppenwahl vorzugeben. Sie modifiziert zwar den Zählwert einer Stimme, dient aber legitimen Zielen, da so versucht wird, eine Bevorzugung von Parti­ku­la­r­in­teressen zu verhindern und die Betriebe im Verhältnis zu ihrer wirtschaft­lichen Bedeutung im Bezirk zu berücksichtigen. Der Gesetzgeber regelt die wesentlichen Fragen insbesondere mit der Zuordnungsregel des § 5 Abs. 3 Satz 2 IHKG in hinreichendem Maße selbst, und dazu kommt die Rechtsaufsicht (§ 11 IHKG). Im Übrigen gilt für die Industrie- und Handelskammern auch im Lichte des Demokra­tie­prinzips das Gebot, schutzwürdige Interessen der Verbands­mit­glieder nicht willkürlich zu vernachlässigen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ ra-online

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