21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss04.11.2009

Bundes­ver­fas­sungs­gericht erklärt den verschärften Volks­ver­het­zungs­pa­ragraf für verfas­sungsgemäߧ 130 Abs. 4 StGB ist mit Art. 5 Abs. 1 und 2 GG vereinbar

§ 130 Abs. 4 StGB, der die Verherrlichung des Nazi-Regimes unter Strafe stellt, ist mit dem Schutz der Meinungs­freiheit vereinbar. Dies entschied das Bundes­ver­fas­sungs­gericht. Die Verfas­sungs­richter billigten nachträglich das Verbot eines Neonazi-Aufmarschs in Wunsiedel im Jahr 2005. Die Neona­zi­ver­sammlung wurde damals mit der Begründung untersagt, dass Verstöße gegen diese Vorschrift zu befürchten seien. Die Karlsruher Richter wiesen mit ihrer Entscheidung die Verfas­sungs­be­schwerde des am 29. Oktober 2009 gestorbenen Recht­s­ex­tre­misten Jürgen Rieger als unbegründet zurück.

Der Beschwer­de­führer meldete im Voraus bis in das Jahr 2010 jährlich wiederkehrend, darunter auch für den 20. August 2005, eine Veranstaltung unter freiem Himmel in der Stadt Wunsiedel mit dem Thema „Gedenken an Rudolf Heß“ an. Die geplante Versammlung wurde - gestützt auf § 15 Abs. 1 VersG in Verbindung mit § 130 Abs. 4 StGB - unter Anordnung der sofortigen Vollziehung verboten. Die Anträge auf vorläufigen Rechtsschutz und die daraufhin erhobene Klage blieben durch alle Instanzen erfolglos.

Rieger rügte Verstoß gegen Versammlungs- und Meinungs­freiheit

Mit seiner Verfassungsbeschwerde wandte sich der am 29. Oktober 2009 verstorbene Beschwer­de­führer sowohl gegen § 130 Abs. 4 StGB selbst als auch gegen dessen Auslegung durch das Bundes­ver­wal­tungs­gericht im konkreten Fall und rügte - unter anderem - eine Verletzung seiner Grundrechte der Versammlungs- und Meinungs­freiheit sowie einen Verstoß gegen den Bestimmt­heits­grundsatz.

Der Erste Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts wies die Verfas­sungs­be­schwerde - unter anderem - im Hinblick auf Art. 8 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 und 2 GG und Art. 103 Abs. 2 GG als unbegründet zurück.

Bundes­ver­fas­sungs­gericht entscheidet trotz Tod des Beschwer­de­führers

Über die Verfas­sungs­be­schwerde kann aufgrund der objektiven Funktion der Verfas­sungs­be­schwerde, das Verfas­sungsrecht zu wahren, auszulegen und fortzubilden, trotz des Todes des Beschwer­de­führers entschieden werden. Die erstrebte Entscheidung soll über die höchst­per­sönliche Betroffenheit des Beschwer­de­führers hinaus Klarheit über die Rechtslage für Meinung­s­äu­ße­rungen bei einer Vielzahl zukünftiger Versammlungen und öffentlicher Auftritte schaffen und ist von allgemeiner verfas­sungs­recht­licher Bedeutung. Überdies war die Sache im Zeitpunkt des Todes des Beschwer­de­führers entschei­dungsreif, der Senat hatte sie beraten und das Verfahren stand unmittelbar vor seinem Abschluss. § 130 Abs. 4 StGB greift in den Schutzbereich der Meinungs­freiheit ein, weil die Norm an die Meinung­s­äu­ße­rungen der Billigung, Verherrlichung und Rechtfertigung der natio­nal­so­zi­a­lis­tischen Gewalt und Willkür­herr­schaft anknüpft und diese unter weiteren Voraussetzungen unter Strafe stellt.

Grundsätzlich sind Eingriffe in die Meinungs­freiheit nur zulässig auf der Basis eines allgemeinen Gesetzes gemäß Art. 5 Abs. 2 Alternative 1 GG. Ein meinungs­be­schrän­kendes Gesetz ist unzulässiges Sonderrecht, wenn es nicht hinreichend offen gefasst ist und sich von vornherein nur gegen bestimmte Überzeugungen, Haltungen oder Ideologien richtet. Dies gilt auch für Bestimmungen zum Schutz der Jugend und der persönlichen Ehre nach Art. 5 Abs. 2 Alternativen 2 und 3 GG. Die Allgemeinheit des Gesetzes verbürgt damit entsprechend dem Verbot der Benachteiligung wegen politischer Anschauungen nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 Alternative 9 GG für Eingriffe in die Meinungs­freiheit ein spezifisches und striktes Diskri­mi­nie­rungs­verbot gegenüber bestimmten Meinungen.

Das Grundgesetz vertraut auf die Kraft der freien Ausein­an­der­setzung als wirksamste Waffe auch gegen die Verbreitung totalitärer und menschen­ver­ach­tender Ideologien. Dementsprechend fällt selbst die Verbreitung natio­nal­so­zi­a­lis­tischen Gedankenguts als radikale Infragestellung der geltenden Ordnung nicht von vornherein aus dem Schutzbereich der Meinungs­freiheit heraus. Den damit verbundenen Gefahren entge­gen­zu­treten, weist die freiheitliche Ordnung des Grundgesetzes primär bürger­schaft­lichem Engagement im freien politischen Diskurs zu.

Zwar ist die Vorschrift des § 130 Abs. 4 StGB kein allgemeines Gesetz im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Alternative 1 GG, weil sie nicht dem Schutz von Gewalt- und Willküropfern allgemein dient und bewusst nicht auf die Billigung, Verherrlichung und Rechtfertigung der Gewalt und Willkür­herr­schaft totalitärer Regime insgesamt abstellt, sondern auf positive Äußerungen allein in Bezug auf den Natio­nal­so­zi­a­lismus begrenzt ist.

Volks­ver­het­zungs­pa­ragraf mit Meinungs­freiheit vereinbar

§ 130 Abs. 4 StGB ist aber auch als nichta­ll­ge­meines Gesetz ausnahmsweise mit Art. 5 Abs. 1 und 2 GG vereinbar. Angesichts des Unrechts und Schreckens, die die natio­nal­so­zi­a­lis­tische Herrschaft verursacht hat, ist Art. 5 Abs. 1 und 2 GG für Bestimmungen, die der propa­gan­dis­tischen Gutheißung der historischen natio­nal­so­zi­a­lis­tischen Gewalt- und Willkür­herr­schaft Grenzen setzen, eine Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts immanent. Das Grundgesetz kann weithin geradezu als Gegenentwurf zu dem Totalitarismus des natio­nal­so­zi­a­lis­tischen Regimes gedeutet werden. Die Erfahrungen aus der Zerstörung aller zivili­sa­to­rischen Errun­gen­schaften durch die natio­nal­so­zi­a­lis­tische Gewalt- und Willkür­herr­schaft prägen die gesamte Nachkriegs­ordnung und die Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in die Völker­ge­mein­schaft bis heute nachhaltig.

Diese Ausnahme nimmt die Meinungs­freiheit indes nicht auch inhaltlich zurück. Die Meinungs­freiheit gewährleistet, dass sich Gesetze nicht gegen rein geistige Wirkungen von Meinung­s­äu­ße­rungen richten. Das Ziel, Äußerungen wegen ihrer Unvereinbarkeit mit sozialen oder ethischen Auffassungen zu behindern, hebt das Prinzip der Meinungs­freiheit selbst auf und ist illegitim. Das Grundgesetz rechtfertigt deshalb auch kein allgemeines Verbot der Verbreitung rechtsradikalen oder natio­nal­so­zi­a­lis­tischen Gedankenguts schon in Bezug auf die geistige Wirkung seines Inhalts.

Verhält­nis­mä­ßig­keits­grundsatz ist gewahrt

§ 130 Abs. 4 StGB genügt den Anforderungen des Verhält­nis­mä­ßig­keits­grund­satzes. Die Vorschrift verfolgt mit dem Schutz des öffentlichen Friedens einen legitimen Zweck. Der Schutz des öffentlichen Friedens ist hierbei in einem begrenzten Sinn als Schutz der Friedlichkeit der öffentlichen Ausein­an­der­setzung zu verstehen, nicht aber als Schutz vor einer „Vergiftung des geistigen Klimas“ oder einer Kränkung des Rechts­be­wusstseins der Bevölkerung durch totalitäre Ideologien oder eine offenkundig falsche Interpretation der Geschichte. Der öffentliche Friede zielt auf einen vorgelagerten Rechts­gü­ter­schutz, der an sich abzeichnende Gefahren anknüpft. Dabei ist es eine verfas­sungs­rechtlich tragfähige Einschätzung des Gesetzgebers, dass ein Gutheißen der Gewalt und Willkür­herr­schaft dieser Zeit der Bevölkerung heute regelmäßig als Aggression und als Angriff gegenüber denjenigen erscheint, die sich in ihrem Wert und ihren Rechten erneut in Frage gestellt sehen, und angesichts der geschichtlichen Realität mehr bewirkt als eine bloße Konfrontation mit einer demokratie und freiheits­feind­lichen Ideologie. § 130 Abs. 4 StGB ist in seiner Ausgestaltung auch geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne. Weder verbietet er generell eine zustimmende Bewertung von Maßnahmen des natio­nal­so­zi­a­lis­tischen Regimes, noch ein positive Anknüpfung an Tage, Orte oder Formen, denen ein an diese Zeit erinnernder Sinngehalt mit gewichtiger Symbolkraft zukommt. Seine Verwirklichung setzt vielmehr die Gutheißung des Natio­nal­so­zi­a­lismus als historisch real gewordene Gewalt- und Willkür­herr­schaft voraus. Diese kann auch in der glori­fi­zie­renden Ehrung einer historischen Person liegen, wenn sich aus den konkreten Umständen ergibt, dass diese als Symbolfigur für die natio­nal­so­zi­a­lis­tische Gewalt- und Willkür­herr­schaft als solche steht.

§ 130 Abs. 4 StGB steht auch mit Art. 103 Abs. 2 GG in Einklang

Zwar kann die Vereinbarkeit der „Störung des öffentlichen Friedens“ als straf­be­grün­dendes Tatbe­stands­merkmal in Straf­tat­be­ständen mit Art. 103 Abs. 2 GG Zweifeln ausgesetzt sein, da dieser Begriff vielfältig offen und anfällig für ein Verständnis ist, das der grundlegenden Bedeutung der Freiheitsrechte in der grund­ge­setz­lichen Ordnung nicht hinreichend Rechnung trägt. Allerdings bestehen gegen das Tatbe­stands­merkmal der „Störung des öffentlichen Friedens“ in einer Strafnorm nach dem Bestimmt­heits­grundsatz des Art. 103 GG dann keine Bedenken, wenn dieses durch andere Tatbe­stands­merkmale konkretisiert wird, die bereits für sich allein die Strafdrohung zu tragen imstande sind. Es wirkt dann als ein Korrektiv, das es erlaubt, grund­recht­lichen Wertungen im Einzelfall Geltung zu verschaffen. Insofern durfte der Gesetzgeber die öffentlich oder in einer Versammlung zum Ausdruck gebrachte Billigung, Verherrlichung oder Rechtfertigung der historischen natio­nal­so­zi­a­lis­tischen Gewalt und Willkür­herr­schaft schon für sich jedenfalls grundsätzlich als strafwürdig und hinreichend bestimmt ansehen.

Die Bestätigung des Verbots einer Versammlung zum „Gedenken an Rudolf Heß“ durch die angegriffene Entscheidung des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts hält sich im fachge­richt­lichen Wertungsrahmen. Insbesondere unterliegt die Beurteilung des konkreten Falls, nach der die vom Beschwer­de­führer geplante Versammlung zum „Gedenken an Rudolf Heß“ eine Billigung der natio­nal­so­zi­a­lis­tischen Gewalt und Willkür­herr­schaft bedeutet hätte, keinen verfas­sungs­recht­lichen Bedenken.

Quelle: ra-online, Bundesverfassungsgericht

der Leitsatz

1. § 130 Abs. 4 StGB ist auch als nichta­ll­ge­meines Gesetz mit Art. 5 Abs. 1 und 2 GG vereinbar. Angesichts des sich allgemeinen Kategorien entziehenden Unrechts und des Schreckens, die die natio­nal­so­zi­a­lis­tische Herrschaft über Europa und weite Teile der Welt gebracht hat, und der als Gegenentwurf hierzu verstandenen Entstehung der Bundesrepublik Deutschland ist Art. 5 Abs. 1 und 2 GG für Bestimmungen, die der propa­gan­dis­tischen Gutheißung der natio­nal­so­zi­a­lis­tischen Gewalt- und Willkür­herr­schaft Grenzen setzen, eine Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts für meinungs­be­zogene Gesetze immanent.

2. Die Offenheit des Art. 5 Abs. 1 und 2 GG für derartige Sonder­be­stim­mungen nimmt den materiellen Gehalt der Meinungs­freiheit nicht zurück. Das Grundgesetz rechtfertigt kein allgemeines Verbot der Verbreitung rechtsradikalen oder auch natio­nal­so­zi­a­lis­tischen Gedankenguts schon in Bezug auf die geistige Wirkung seines Inhalts.

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