23.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss13.06.2007

Roman "Esra" von Maxim Billler darf weiterhin nicht veröffentlicht werdenSchutz der Intimsphäre setzt der Kunstfreiheit Grenzen

Im Jahr 2003 erschien im Verlag der Beschwer­de­führerin der Roman "Esra" von Maxim Biller. Er erzählt bis in intimste Details die Liebesbeziehung zwischen Esra und dem Ich-Erzähler, dem Schriftsteller Adam. Der Liebesbeziehung stellen sich Umstände aller Art in den Weg: Esras Familie, insbesondere ihre herrschsüchtige Mutter Lale, Esras Tochter aus der ersten, gescheiterten Ehe, und vor allem Esras passiver schick­sal­s­er­gebener Charakter.

Auf Klage der ehemaligen Freundin des Autors und deren Mutter, die sich in den Romanfiguren Esra und Lale wieder erkennen und geltend machten, das Buch stelle eine Biographie ohne wesentliche Abweichung von der Wirklichkeit dar, untersagten die Zivilgerichte dem Verlag die Veröf­fent­lichung und Verbreitung des Romans. Der Bundes­ge­richtshof bestätigte das Verbot (BGH, Urteil v. 21.06.2005 - VI ZR 122/04 -). Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde des Verlages war teilweise erfolgreich. Der Erste Senat des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts stellte fest, dass die angegriffenen Entscheidungen die Beschwer­de­führerin in ihrem Grundrecht auf Kunstfreiheit verletzen, soweit sie der Klägerin zu 2 (Mutter) einen Unterlassungsanspruch zusprechen. Soweit die Entscheidungen der Klägerin zu 1 (ehemalige Freundin) einen Unter­las­sungs­an­spruch in Form eines Gesamtverbotes des Romans zubilligen, sind sie hingegen verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden.

Die Richterin Hohmann-Dennhardt und der Richter Gaier sowie der Richter Hoffmann-Riem haben der Entscheidung eine abweichende Meinung angefügt.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Der Roman "Esra" stellt ein Kunstwerk dar. Auch wenn wesentlicher Gegenstand des Rechtsstreits das Ausmaß ist, in dem der Autor in seinem Werk wirklich existierende Personen schildert, ist jedenfalls der Anspruch des Autors deutlich, diese Wirklichkeit künstlerisch zu gestalten. Die Kunstfreiheit ist aber nicht schrankenlos gewährleistet, sondern findet ihre Grenzen unmittelbar in anderen Bestimmungen der Verfassung, die ein in der Verfas­sungs­ordnung des Grundgesetzes ebenfalls wesentliches Rechtsgut schützen. Als Schranke für künstlerische Darstellungen kommt insbesondere das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Person, an die ein Roman anknüpft, in Betracht. Um die Grenzen im konkreten Fall zu bestimmen, genügt es nicht, ohne Berück­sich­tigung der Kunstfreiheit eine Beein­träch­tigung des Persön­lich­keits­rechts festzustellen. Es bedarf vielmehr der Klärung, ob diese Beein­träch­tigung derart schwerwiegend ist, dass die Freiheit der Kunst zurückzutreten hat.

Um die Schwere der Beein­träch­tigung des allgemeinen Persön­lich­keits­rechts bewerten zu können, ist eine kunst­s­pe­zi­fische Betrachtung zur Bestimmung des durch den Roman im jeweiligen Handlungs­zu­sam­menhang dem Leser nahe gelegten Wirklich­keits­bezugs erforderlich. Dabei ist ein literarisches Werk, das sich als Roman ausweist, zunächst einmal als Fiktion anzusehen, das keinen Fakti­zi­täts­an­spruch erhebt. Diese Vermutung gilt auch dann, wenn hinter den Romanfiguren reale Personen als Urbilder erkennbar sind. Die Kunstfreiheit schließt das Recht zur Verwendung von Vorbildern aus der Lebens­wirk­lichkeit ein. Allerdings besteht zwischen dem Maß, in dem der Autor eine von der Wirklichkeit abgelöste ästhetische Realität schafft, und der Intensität der Verletzung des Persön­lich­keits­rechts eine Wechsel­be­ziehung. Je stärker Abbild und Urbild übereinstimmen, desto schwerer wiegt die Beein­träch­tigung des Persön­lich­keits­rechts. Je mehr die künstlerische Darstellung die besonders geschützten Dimensionen des Persön­lich­keits­rechts berührt, desto stärker muss die Fikti­o­na­li­sierung sein, um eine Persön­lich­keits­rechts­ver­letzung auszuschließen.

2. Nach diesen Maßstäben werden die angegriffenen Entscheidungen hinsichtlich der Klägerin zu 2 (Mutter) der gebotenen kunst­s­pe­zi­fischen Betrachtung nicht in jeder Hinsicht gerecht und verstoßen damit gegen die Kunst­frei­heits­ga­rantie. Die Gerichte haben zwar in verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstandender Weise festgestellt, dass die Klägerin zu 2 anhand einer ganzen Reihe biographischer Merkmale als Vorbild der Romanfigur erkennbar gemacht ist. Allerdings begnügen sich die Gerichte damit festzustellen, dass die Romanfigur Lale sehr negativ gezeichnet ist, und sehen darin eine Persön­lich­keits­rechts­ver­letzung. Die Gerichte berücksichtigen damit nicht hinreichend, dass der Roman im Ausgangspunkt als Fiktion anzusehen ist. Die Annahme einer Fiktion wird auch dadurch gestützt, dass der Autor Lale überwiegend nicht aus eigenem Erleben, sondern in Wiedergabe fremder Erzählungen, Gerüchte und Eindrücke schildert. Für ein literarisches Werk, das an die Wirklichkeit anknüpft, ist es gerade kennzeichnend, dass es tatsächliche und fiktive Schilderungen vermengt. Unter diesen Umständen verfehlt es den Grund­rechts­schutz solcher Literatur, wenn man die Persön­lich­keits­ver­letzung bereits in der Erkennbarkeit als Vorbild einerseits und in den negativen Zügen der Romanfigur andererseits sieht. Nötig wäre vielmehr jedenfalls der Nachweis, dass dem Leser vom Autor nahe gelegt wird, bestimmte Teile der Schilderung als tatsächlich geschehen anzusehen, und dass gerade diese Teile eine Persön­lich­keits­rechts­ver­letzung darstellen, entweder weil sie ehrenrührige falsche Tatsa­chen­be­haup­tungen aufstellen oder wegen der Berührung des Kernbereichs der Persönlichkeit überhaupt nicht in die Öffentlichkeit gehören. Ein solcher Nachweis ergibt sich aus den angegriffenen Entscheidungen nicht.

3. Im Gegensatz dazu sind die angegriffenen Entscheidungen, soweit sie der Klägerin zu 1 (ehemalige Freundin) einen Unter­las­sungs­an­spruch zugesprochen haben, im Ergebnis verfas­sungs­rechtlich nicht zu beanstanden. Anders als im Fall der Mutter haben die Gerichte hier nicht nur deren Erkennbarkeit, sondern auch in bestimmten Schilderungen des Romans konkrete schwere Persön­lich­keits­rechts­ver­let­zungen festgestellt. Die Klägerin zu 1 ist nicht nur in der Romanfigur Esra erkennbar dargestellt. Ihre Rolle betrifft auch zentrale Ereignisse, die unmittelbar zwischen ihr und dem Ich-Erzähler, der seinerseits unschwer als der Autor zu erkennen ist, und während deren Beziehung stattgefunden haben. Gerade durch die aus vom Autor unmittelbar Erlebtem stammende, realistische und detaillierte Erzählung der Geschehnisse wird das Persön­lich­keitsrecht der Klägerin zu 1 besonders schwer betroffen. Dies geschieht insbesondere durch die genaue Schilderung intimster Details einer Frau, die deutlich als tatsächliche Intimpartnerin des Autors erkennbar ist. Hierin liegt eine Verletzung ihrer Intimsphäre und damit eines Bereichs des Persön­lich­keits­rechts, der zu dessen Menschen­wür­dekern gehört. Die eindeutig als Esra erkennbar gemachte Klägerin zu 1 muss aufgrund des überragend bedeutenden Schutzes der Intimsphäre nicht hinnehmen, dass sich Leser die durch den Roman nahe gelegte Frage stellen, ob sich die dort berichteten Geschehnisse auch in der Realität zugetragen haben. Daher fällt die Abwägung zwischen der Kunstfreiheit des Verlags und des Persön­lich­keits­rechts der Klägerin zu 1 zu deren Gunsten aus. Dasselbe gilt für die Schilderung der lebens­be­droh­lichen Krankheit ihrer Tochter. Angesichts des besonderen Schutzes von Kindern und der Mutter-Kind-Beziehung hat die Darstellung der Krankheit und der dadurch gekenn­zeichneten Beziehung von Mutter und Kind bei zwei eindeutig identi­fi­zierbaren Personen in der Öffentlichkeit nichts zu suchen.

4. Die angegriffenen Entscheidungen durften, soweit sie der Unter­las­sungsklage der Klägerin zu 1 stattgegeben haben, ein Gesamtverbot aussprechen. Es ist nicht Aufgabe der Gerichte, bestimmte Streichungen oder Abänderungen vorzunehmen, um die Persön­lich­keits­rechts­ver­letzung auszuschließen.

Sondervotum der Richterin Hohmann-Dennhardt und des Richters Gaier

Die Richterin Hohmann-Dennhardt und der Richter Gaier stimmen der Entscheidung der Senatsmehrheit nicht zu. Sie kritisieren, dass der Senat zur Bemessung der Schwere einer Persön­lich­keits­be­ein­träch­tigung das ihrer Meinung nach untaugliche Kriterium der Erkennbarkeit angewandt habe, anstatt den von ihm zu Recht reklamierten kunst­s­pe­zi­fischen Maßstab anzulegen. Der Senat werde zudem der qualitativen Dimension künstlerischer Verarbeitung von Wirklichkeit nicht gerecht, wenn er quantitativ fordere, je mehr ein Roman mit seinen Schilderungen den Intim- und Sexualbereich berühre, desto mehr müsse durch Verfremdung eine Verletzung der Persönlichkeit ausgeschlossen werden. Dies führe letztlich zu einer der Kunst verordneten Tabuisierung des Sexuellen. Denn Kunst lebe von Anlehnungen an die Wirklichkeit und stehe damit immer in der Gefahr, dass sich Personen in ihr wieder erkennen und für andere erkennbar seien. Aus litera­tur­wis­sen­schaft­licher Sicht komme man übereinstimmend zu dem Schluss, dass der Roman Esra weder Erfah­rungs­welten reproduziere noch Autobio­gra­phisches darstelle, sondern einer litera­turäs­the­tischen Programmatik folge und eine narrative Konstruktion sei. Bei einer kunst­s­pe­zi­fischen Betrachtung könne daher eine Persön­lich­keits­ver­letzung nicht angenommen werden. Entscheidendes Kriterium für die Versagung oder Gewährung des Grund­rechts­schutzes sei, ob der Roman bei einer Gesamt­be­trachtung ganz überwiegend das Ziel verfolge, bestimmte Personen zu beleidigen, zu verleumden oder verächtlich herabzuwürdigen. Eine solche Intention des Autors sei jedoch nicht erkennbar und werde auch von litera­tur­wis­sen­schaft­licher Seite nicht gesehen.

Sondervotum des Richters Hoffmann-Riem

Der Senat habe die zur rechtlichen Bewertung der Wirkungen eines Kunstwerks entwickelten Grundsätze nur teilweise auf den Fall angewandt. Wenn Art. 5 Abs. 3 GG gebiete, dass für die Kunstform des Romans die Vermutung des Fiktionalen auch bei Erkennbarkeit eines konkreten Vorbilds spreche, und dies auch für die konkret geschilderten Ereignisse, Verhal­tens­weisen oder Charak­te­r­ei­gen­schaften gelte, sei nicht nachvollziehbar, warum es nicht auch Darstellungen über den Sexualbereich umfasse. Ferner drohe die Vielfalt künstlerischen Schaffens aus dem Blick zu geraten, wenn der Schutz des Künstlerischen auf das Fiktionale begrenzt und ein Kunstwerk rechtlich unter der Annahme eines Entweder-Oder von Fiktion oder Empirie bewertet werde. Damit drohe die Eigen­stän­digkeit des Umgangs mit Beobachtbarem in der Kunst - der künstlerischen Konstruktion von Wirklichkeit - verloren zu gehen. Dieses Risiko werde auch nicht vermieden, wenn die Intensität und Reichweite des Schutzes der Kunstfreiheit - wie es die Mehrheit befürworte - von dem Grad der Fikti­o­na­li­sierung abhängig gemacht werde. Der Grad der Fiktionalität tauge nicht, die besondere Art der künstlerischen Verarbeitung eines intersubjektiv beobachtbaren Geschehens zu berücksichtigen. Die künstlerische Verarbeitung eines solchen Geschehens in einer romanhaften Darstellung mache es nicht notwendig zur Fiktion, wohl aber zum Kunstwerk. Dann müsse auch insoweit eine Vermutung zugunsten des Künstlerischen gelten. Die Redeweise von der Vermutung der "Fiktionalität" drohe diese Dimension des Schutzbedarfs zu verschütten.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 99/07 des BVerfG vom 12.10.2007

der Leitsatz

1. Bei dem gerichtlichen Verbot eines Romans als besonders starkem Eingriff in die Kunstfreiheit prüft das Bundes­ver­fas­sungs­gericht die Vereinbarkeit der angegriffenen Entscheidungen mit der verfas­sungs­recht­lichen Kunst­frei­heits­ga­rantie auf der Grundlage der konkreten Umstände des vorliegenden Sachverhalts.

2. Die Kunstfreiheit verlangt für ein literarisches Werk, das sich als Roman ausweist, eine kunst­s­pe­zi­fische Betrachtung. Daraus folgt insbesondere eine Vermutung für die Fiktionalität eines literarischen Textes.

3. Die Kunstfreiheit schließt das Recht zur Verwendung von Vorbildern aus der Lebens­wirk­lichkeit ein.

4. Zwischen dem Maß, in dem der Autor eine von der Wirklichkeit abgelöste ästhetische Realität schafft, und der Intensität der Verletzung des Persön­lich­keits­rechts besteht eine Wechsel­be­ziehung. Je stärker Abbild und Urbild übereinstimmen, desto schwerer wiegt die Beein­träch­tigung des Persön­lich­keits­rechts. Je mehr die künstlerische Darstellung besonders geschützte Dimensionen des Persön­lich­keits­rechts berührt, desto stärker muss die Fikti­o­na­li­sierung sein, um eine Persön­lich­keits­rechts­ver­letzung auszuschließen.

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