18.10.2024
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Dokument-Nr. 31033

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Bundesverfassungsgericht Beschluss02.11.2021

Erfolglose Verfassungs­beschwerde gegen Vorschriften zum Ausschluss der ambulanten ärztlichen Zwangs­be­handlung betreuter PersonenAnforderungen an die Subsidiarität nicht erfüllt

Das Bundes­verfassungs­gericht hat eine Verfassungs­beschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, die die Frage zum Gegenstand hat, ob § 1906 a des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) insoweit mit dem Grundgesetz unvereinbar ist, als § 1906 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB ärztliche Zwangsmaßnahmen ausschließlich im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus zulässt.

Der Beschwer­de­führer ist inzwischen verstorben. Er lebte zuletzt in einer Pflege­ein­richtung und litt an fortge­schrittener Demenz mit ausgeprägter Orien­tie­rungs­lo­sigkeit und fehlendem situativen Verständnis, aufgrund derer er mit Neuroleptika behandelt wurde. Für ihn wurde im Jahr 2015 zudem eine Betreuung eingerichtet. Im Rahmen der Demen­z­er­krankung des Beschwer­de­führers kam es immer wieder zu organisch wahnhaften Störungen, aufgrund derer er die Einnahme von Medikamenten verweigerte. Der behandelnde Facharzt für Neurologie sah es bei einer erneuten Verweigerung der Medika­men­ten­einnahme als erforderlich an, den Beschwer­de­führer zum Zwecke der zwangsweisen Medikation in die zuständige psychiatrische Klinik einzuweisen. Dies sei aber aus medizinischer Sicht eigentlich kontraindiziert, da der mit dem Kranken­haus­auf­enthalt verbundene Ortswechsel in der Vergangenheit mehrfach zu einer deutlichen Verschlech­terung des Krank­heits­bildes des Beschwer­de­führers geführt habe. Die Verabreichung von Medikamenten sei aus ärztlicher Sicht auch in der Pflege­ein­richtung möglich, beispielsweise durch Beigabe zum Essen, ohne dass Zwang oder freiheits­ent­ziehende Maßnahmen notwendig seien.

Betreu­ungs­gericht: Verdeckte Gabe von Medikamenten in Pflegeheim stellt Zwangs­me­di­kation dar

Die Betreuerin bat das Betreu­ungs­gericht um eine „klarstellende Feststellung“, dass die Verabreichung ärztlich verordneter Medikamente an den Beschwer­de­führer im Wege der Beimischung in Speisen und Getränken nicht von einer Geneh­mi­gungs­pflicht durch das Betreu­ungs­gericht abhängig zu machen sei. Das Betreu­ungs­gericht vertrat die Auffassung, dass die verdeckte Gabe von Medikamenten, verabreicht durch Untermischung in Nahrungsmittel oder Getränke, eine Zwangs­me­di­kation im Sinne des § 1906 a BGB darstelle, und wies darauf hin, dass die Praxis der verdeckten Medika­men­tengabe zu ändern sei. Alternativ könne eine Zwangsbehandlung nach § 1906 a BGB beantragt werden, die aber nur stationär in einem Krankenhaus und nicht in einem Pflegeheim durchgeführt werden dürfe.

Beschwer­de­führer rügt die Verletzung seiner Grundrechte

Der Beschwer­de­führer rügt die Verletzung in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (Recht auf körperliche Unversehrtheit), Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG (Selbst­be­stim­mungsrecht), Art. 3 Abs. 1 GG (Gleich­be­handlung) sowie Art. 1 Abs. 1 GG (Menschenwürde). Die Regelung des § 1906 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB lasse eine erforderliche medizinische Behand­lungs­maßnahme, die dem mutmaßlichen Willen des Beschwer­de­führers entspreche, nur im Rahmen eines stationären Kranken­haus­auf­enthalts zu, wo der Beschwer­de­führer indes der ernsthaften Gefahr ausgesetzt sei, ein seine Gesundheit, wenn nicht sein Leben bedrohendes Delir (akute Verwirrtheit) zu erleiden. Diese Gefahr bestehe indes in dem ihm vertrauten Pflegeheim nicht.

BVerfG: Beschwer­de­führer hätte erst Fachgerichten anrufen müssen

Die Verfassungsbeschwerde hat keinen Erfolg. Sie genügt nicht den Anforderungen an die Subsidiarität. Der Beschwer­de­führer hat nicht die Möglichkeit genutzt, vor den Fachgerichten eine Feststellung zu erlangen, ob eine verdeckte Verabreichung der ihm ärztlich verordneten Medikamente überhaupt einer Geneh­mi­gungs­pflicht durch das Betreu­ungs­gericht nach § 1906 a Abs. 2 BGB unterlag. Das Betreu­ungs­gericht muss ein Geneh­mi­gungs­ver­fahren immer dann durchführen, wenn Zweifel daran bestehen, ob ein geplantes Vorgehen dem Willen des Betroffenen entspricht. Stellt das Gericht fest, dass eine Genehmigung nicht erforderlich ist, so hat es den Antrag auf betreu­ungs­rechtliche Genehmigung abzulehnen und ein sogenanntes „Negativattest“ zu erteilen. Der Beschwer­de­führer stellte auch keinen gerichtlichen Antrag auf Genehmigung einer nicht stationären Zwangs­be­handlung, und unterließ es, weiter gerichtlich gegen die Versagung des Negativattests vorzugehen.

§ 1906 a BGB enthält Ausle­gungs­spielräume ohne eindeutige fachge­richtliche Rechtsprechung

§ 1906 a BGB enthält Ausle­gungs­spielräume, zu denen sich noch keine eindeutige fachge­richtliche, zumal höchst­rich­terliche Rechtsprechung herausgebildet hat. Die Modalität der Durchführung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme im Sinne von § 1906 a Abs. 1 BGB ist gesetzlich nicht geregelt. Dies betrifft insbesondere die Verabreichung von Medikamenten durch verdeckte Maßnahmen, die äußerlich nicht als medizinische Behandlung wahrnehmbar sind, etwa die heimliche Beimischung zerkleinerter Präparate in Speisen und Getränken. Dies wirft die Frage auf, ob das Merkmal der „Zwangsmaßnahme“ in § 1906 a BGB nur Fälle körperlichen Zwangs oder auch Fälle der Heimlichkeit umfasst. Es ist auch klärungs­be­dürftig, wie sich der Umstand auswirkt, dass ein entge­gen­ste­hender natürlicher Wille, der erst die Anwendung von § 1906 a BGB begründet, nur und erst dann vorliegen dürfte, wenn der Betroffene diesen ausdrücklich geäußert oder zumindest – etwa durch Gesten – nach außen manifestiert hat. Äußert der Betreute seinen natürlichen Willen nicht, weil er dazu nicht willens oder nicht in der Lage ist, handelt es sich bei einer ohne Einwilligung des Betroffenen vorgenommenen Behand­lungs­maßnahme zwar um einen Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, allerdings wohl nicht um eine ärztliche Zwangsmaßnahme im Sinne des § 1906 a BGB (so zu § 1906 Abs. 3 BGB a. F. BTDrucks 17/11513, S. 7). Ob eine Heilbehandlung notwen­di­gerweise dem natürlichen Willen des Betreuten im Sinne von § 1906 a Abs. 1 Satz 1 BGB widerspricht, wenn Medikamente unter das Essen gemischt werden, um sie dem Betroffenen verborgen zu verabreichen, ist fachgerichtlich ungeklärt. Daran knüpft die ebenfalls offene Frage an, inwieweit eine heimliche Vergabe als ärztliche Zwangsmaßnahme anzusehen ist, die erst den Anwen­dungs­bereich von § 1906 a BGB eröffnet.

Fachgerichte müssen Zielkonflikt in § 1901 a BGB auflösen

Gleichermaßen fachgerichtlich ungeklärt ist der interne Normkonflikt zwischen dem Ziel des Gesetzgebers, einerseits Zwangsmaßnahmen auf das für den Betreuten notwendige Maß zu beschränken, um einen drohenden erheblichen gesund­heit­lichen Schaden abzuwenden (§ 1906 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB) und möglichst nah am Willen des Betroffenen zu bleiben (§ 1906 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 in Verbindung mit § 1901 a BGB), andererseits aber die ärztliche Zwangsmaßnahme in § 1906 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB an einen stationären Kranken­haus­auf­enthalt zu koppeln. Der (mutmaßliche) Wille des Betroffenen im Sinne von § 1906 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BGB kann gerade auf eine Behandlung im Pflegeheim als für ihn milderes Mittel gegenüber einer stationären Behandlung im Krankenhaus gerichtet sein. Diesen einfach­recht­lichen internen Konflikt aufzulösen, obliegt zuvörderst den Fachgerichten. Schließlich bleibt die Frage fachrechtlich klärungs­be­dürftig, wie der Begriff „stationär“ in § 1906 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB auszulegen ist und ob darunter auch teilstationäre Behandlungen zu fassen sind, wodurch der Zwang zur Einweisung ins Krankenhaus abgemildert werden könnte.

Weitere fachliche und rechtliche Klärung durch vorgesehene Evaluierung zu erwarten

Schließlich ist durch die gesetzlich vorgesehene Evaluierung eine weitere fachliche und rechtliche Klärung zu erwarten, welche die sachliche Entschei­dungs­grundlage für das Bundes­ver­fas­sungs­gericht verbessern oder – nach einer Geset­ze­s­än­derung – verändern würde. Dies betrifft insbesondere Zweifel, ob die angegriffene Regelung des § 1906 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB der Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG hinreichend Rechnung trägt, soweit die Beschränkung der Zwangs­be­handlung auf den stationären Bereich eines Krankenhauses dazu führt, dass Schutzlücken in Bezug auf die gesundheitliche Versorgung des Betroffenen entstehen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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