21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss11.05.2009

BVerfG: ALG-II-Empfänger hat Anspruch auf Beratungshilfe durch einen Anwalt bei Wider­spruchs­ver­fahrenAnspruch auf Rechts­wahr­neh­mungs­gleichheit darf nicht verletzt werden

Einem ALG-II-Empfänger ist dann Beratungshilfe durch Hinzuziehung eines Anwalts in einem Wider­spruchs­ver­fahren zu gewähren, sofern ein bemittelter Rechtssuchender in der gleichen Situation ebenfalls anwaltliche Unterstützung hinzuziehen würde. Der ALG-II-Empfänger hat Anspruch auf Rechts­wahr­neh­mungs­gleichheit. Dies hat das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschieden.

Die Beschwer­de­führerin beantragte beim Amtsgericht Beratungshilfe nach dem Beratungs­hil­fe­gesetz (BerHG), um sich mit einem Widerspruch gegen die Kürzung von Arbeits­lo­sengeld II zu wenden. Die Beratungshilfe wurde ihr u.a. mit der Begründung versagt, dass ein vernünftiger Ratsuchender ohne anwaltliche Hilfe Widerspruch eingelegt hätte; es sei der Beschwer­de­führerin zumutbar, bei der Wider­spruchs­behörde vorzusprechen und deren kostenlose Beratung in Anspruch zu nehmen, auch wenn diese mit der Ausgangsbehörde identisch sei. Der Bescheid werde im Wider­spruchs­ver­fahren von Amts wegen überprüft, ohne dass es rechtlicher Ausführungen zur Begründung bedürfe.

Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten auch im außer­ge­richt­lichen Rechtsschutz

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat diesen Beschluss des Amtsgerichts auf die Verfas­sungs­be­schwerde der Beschwer­de­führerin hin aufgehoben und zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen. Die Entscheidung verletzt die Beschwer­de­führerin in ihrem Anspruch auf Rechts­wahr­neh­mungs­gleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 3 GG), wonach eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten auch im außer­ge­richt­lichen Rechtsschutz geboten ist. Vergleichs­maßstab ist das Handeln eines Bemittelten, der bei der Inanspruchnahme von Rechtsrat auch die Kosten vernünftig abwägt . Ein vernünftiger Rechtsuchender darf sich unabhängig von Begrün­dungs­pflichten aktiv am Verfahren beteiligen. Für die Frage, ob er einen Anwalt hinzuziehen würde, kommt es insbesondere darauf an, inwieweit er fremde Hilfe zur effektiven Ausübung seiner Verfah­rens­rechte braucht oder selbst dazu in der Lage ist. Im vorliegenden Fall benötigte die Beschwer­de­führerin fremde Hilfe wegen eines rechtlichen Problems, das zum Zeitpunkt der Antragstellung noch keine höchst­rich­terliche Klärung erfahren hatte.

Beratung durch Behörde gegen die Wider­spruchs­ver­fahren angestrebt wird nicht zumutbar

Entgegen dem Beschluss des Amtsgerichts kann es der Beschwer­de­führerin nicht zugemutet werden, den Rat derselben Behörde in Anspruch zu nehmen, deren Entscheidung sie im Wider­spruchs­ver­fahren angreifen will. Auch bei einer organisatorisch getrennten und mit anderem Personal ausgestatteten Wider­spruchs­stelle entscheidet dann dieselbe Ausgangs- und Wider­spruchs­behörde über die Leistungen der Beschwer­de­führerin. Es besteht die abstrakte Gefahr von Inter­es­sen­kon­flikten, die die beratungs­be­dürftige Beschwer­de­führerin selbst nicht durchschauen kann. Aus Sicht der Rechtsuchenden ist der behördliche Rat nicht mehr dazu geeignet, ihn zur Grundlage einer selbständigen und unabhängigen Wahrnehmung ihrer Verfah­rens­rechte im Wider­spruchs­ver­fahren zu machen. Im Hinblick auf die prozess­recht­lichen Grundsätze der Waffen­gleichheit und der gleichmäßigen Verteilung des Risikos am Verfah­rens­ausgang im sich möglicherweise anschließenden Gerichts­ver­fahren darf der Beschwer­de­führerin eine unabhängige Beratung nicht vorenthalten werden.

Effek­ti­vi­täts­stei­gerung des Verfahrens durch unanhängige Beratungshilfe

Auch wenn sich im Einzelfall ein objektiver Mehrwert anwaltlicher Beteiligung gegenüber behördlicher Beratung nicht empirisch voraussagen lässt, handelt es sich bei einer zusätzlichen und von außen kommenden Durch­set­zungshilfe im Wider­spruchs­ver­fahren grundsätzlich um eine geeignete Maßnahme zur Effek­ti­vi­täts­stei­gerung des Verfahrens.

Dies ist insbesondere wegen des existenz­si­chernden Charakters des Arbeits­lo­sengelds II von Bedeutung. Wegen der grundsätzlich zeitver­zö­gernden Wirkung des Vorverfahrens und seiner Verbindung zum Klageverfahren ist auf eine möglichst effektive Gestaltung des Vorverfahrens zu achten.

Der fiskalische Gesichtspunkt, Kosten zu sparen, kann nach den dargestellten Gründen nicht als sachgerechter Recht­fer­ti­gungsgrund zur Versagung der Beratungshilfe angesehen werden.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 64/09 des BVerfG vom 18.06.2009

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