16.12.2024
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Dokument-Nr. 34642

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Beschluss20.11.2024Bundesverfassungsgericht1 BvR 1404/24
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Bundesverfassungsgericht Beschluss20.11.2024

Eltern behalten Sorgerecht trotz Verdachts auf SchütteltraumaErfolglose Verfas­sungs­be­schwerde gegen Rückübertragung des Sorgerechts auf die Eltern nach Verdacht auf Herbeiführung eines Schütteltraumas

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat die Verfas­sungs­be­schwerde eines für ein Kleinkind bestellten Verfah­rens­bei­standes nicht zur Entscheidung angenommen. Dieser hat sich dagegen gewandt, dass den Eltern das Sorgerecht wieder übertragen worden ist, obwohl der Verdacht im Raum stand, ein Elternteil oder beide Elternteile hätten das im Vorfa­lls­zeitraum rund vier Wochen alte Kind heftig geschüttelt. Das im Sorge­rechts­ver­fahren als Beschwer­de­gericht zuständige Oberlan­des­gericht hat den zeitweiligen Entzug des Sorgerechts nicht aufrecht­er­halten, den Eltern aber Auflagen - insbesondere den Aufenthalt in einer Eltern-Kind-Einrichtung - erteilt, um der Gefahr zukünftiger Schädigungen des Kindes durch seine Eltern zu begegnen. Der Verfah­rens­beistand sah in dieser gerichtlichen Entscheidung eine Verletzung des aus Art. 2 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) folgenden Schutzanspruchs des Kindes gegen den Staat, blieb aber mit der Verfas­sungs­be­schwerde erfolglos.

Die Eltern hatten ihr gut vier Wochen altes Kind in einem Krankenhaus vorgestellt. Untersuchungen des Kindes dort sowie in einer Kinderklinik mittels Magne­tre­so­nanz­to­mo­graphie zeigten Verletzungen unter anderem der harten Hirnhaut und des Hirngewebes, als deren Ursache vor allem ein Schütteltrauma „stark im Vordergrund stehend“ angenommen wurde. In dem daraufhin eingeleiteten Sorge­rechts­ver­fahren hat sich das Familiengericht ­– gestützt vor allem auf das Gutachten eines rechts­me­di­zi­nischen Sachver­ständigen – davon überzeugt, dass das Kind zwei jeweils durch einen Elternteil verursachte, potentiell lebens­ge­fährliche Schüt­tel­traumata erlitten hat. Wegen der daraus abgeleiteten Gefahr auch weiterer Schädigungen des Kindes im elterlichen Haushalt hat es den Eltern weite Teile des Sorgerechts entzogen.

Auf deren Beschwerde hat das Oberlan­des­gericht den Beschluss des Famili­en­ge­richts aufgehoben und klarstellend ausgesprochen, dass damit den Eltern das Sorgerecht wieder vollständig zustehe. Es hat den Eltern allerdings die Auflage erteilt, sich gemeinsam mit dem Kind in eine Eltern-Kind-Einrichtung zu begeben und dort für eine vom Jugendamt festgelegte Zeit zu verbleiben sowie nach dem Ende des dortigen Aufenthalts ambulante Anschluss­maß­nahmen in Anspruch zu nehmen. Zur Begründung hat es ausgeführt, es bestehe zwar die hohe Wahrschein­lichkeit, dass die Verletzungen des Kindes von dem einen oder dem anderen Elternteil verursacht worden seien. Das trotz des mittlerweile höheren Alters des Kindes verbleibende Risiko erneuter, aber weniger schwerwiegender als der in der Vergangenheit festgestellten Verletzungen des Kindes könne zwar nicht vollständig ausgeschlossen werden. Unter Berück­sich­tigung des Grades der Wahrschein­lichkeit und der Schwere möglicher Verlet­zungs­folgen sei zur Gefah­re­n­ab­wendung eine dauerhafte Fremd­un­ter­bringung des Kindes aber nicht erforderlich. Durch die Aufnahme der Familie in einer Eltern-Kind-Einrichtung könne das Eintreten einer Überfor­de­rungs­si­tuation aber sicher vermieden werden.

Dagegen wendet sich der Verfah­rens­beistand des Kindes, der mit seiner Verfas­sungs­be­schwerde den Schutzanspruch des Kindes aus Art. 2 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG im eigenen Namen geltend macht.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Die von dem Verfah­rens­beistand zulässig in Prozess­stand­schaft für das Kind erhobene Verfas­sungs­be­schwerde ist unbegründet. Der angegriffene Beschluss hält verfas­sungs­recht­licher Prüfung noch stand. Die Prognose des Oberlan­des­ge­richts, einer zukünftig drohenden Kindes­wohl­ge­fährdung mit den von ihm erteilten Auflagen ausreichend sicher entgegenwirken zu können, ist gemessen an dem Anspruch des Kindes aus Art. 2 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG auf staatlichen Schutz verfas­sungs­rechtlich hinzunehmen.

1. Kinder haben nach Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG einen Anspruch auf den Schutz des Staates, wenn die Eltern ihrer Pflege- und Erzie­hungs­ver­ant­wortung (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) nicht gerecht werden oder wenn sie ihrem Kind den erforderlichen Schutz und die notwendige Hilfe aus anderen Gründen nicht bieten können.

Ob der Staat zum Schutz des Kindes tätig werden muss und darf und welche Schutzmaßnahmen zu ergreifen sind, bestimmt sich nach Art und Ausmaß der Gefahr für das Kind. Nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit verpflichtet und berechtigt den Staat, die Eltern von der Pflege und Erziehung auszuschalten oder gar selbst diese Aufgabe zu übernehmen; vielmehr ist stets dem grundsätzlichen Vorrang der Eltern vor dem Staat Rechnung zu tragen. Es hängt regelmäßig von einer Gefah­ren­prognose ab, ob die Trennung des Kindes von seinen Eltern verfas­sungs­rechtlich zulässig und zum Schutz der Grundrechte des Kindes verfas­sungs­rechtlich geboten ist. Dem muss die Ausgestaltung des fachge­richt­lichen Verfahrens Rechnung tragen. Es muss geeignet und angemessen sein, eine möglichst zuverlässige Grundlage für die vom Gericht anzustellende Prognose über die Wahrschein­lichkeit des Schaden­s­ein­tritts zu erlangen.

Hält das Gericht eine Trennung des Kindes von den Eltern nicht mehr für erforderlich, obwohl Anhaltspunkte dafür bestehen, dass das Kind bei einer Rückkehr in die Familie in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist, hält die Entscheidung verfas­sungs­ge­richt­licher Kontrolle grundsätzlich nur dann stand, wenn das Gericht in Ausein­an­der­setzung mit den für eine nachhaltige Gefahr sprechenden Anhaltspunkten nachvollziehbar begründet, warum eine solche Gefahr für das Wohl des Kindes nicht vorliegt. Bei der Prognose, ob eine erhebliche Gefährdung vorauszusehen ist, muss von Verfassungs wegen die drohende Schwere der Beein­träch­tigung des Kindeswohls berücksichtigt werden. Je gewichtiger der zu erwartende Schaden für das Kind oder je weitreichender mit einer Beein­träch­tigung des Kindeswohls zu rechnen ist, desto geringere Anforderungen müssen an den Grad der Wahrschein­lichkeit gestellt werden, mit dem auf eine drohende oder erfolgte Verletzung geschlossen werden kann und desto weniger belastbar muss die Tatsa­chen­grundlage sein, von der auf die Gefährdung des Kindeswohls geschlossen wird.

Bestehen Anhaltspunkte, dass dem Kind durch eine Misshandlung erhebliche, unumkehrbare Schäden drohen, insbesondere weil es in der Vergangenheit bereits zu einer solchen Misshandlung kam und die Eltern hierfür auf die eine oder andere Art als verantwortlich anzusehen sind, so verlangt ein Absehen von einer Trennung des Kindes von der Familie ein hohes Maß an Progno­se­si­cherheit, dass dieser Schaden nicht eintreten wird. Dies schlägt sich in hohen Begrün­dungs­an­for­de­rungen einer Entscheidung nieder.

2. Daran gemessen wird der angegriffene Beschluss des Oberlan­des­ge­richts sowohl bei der Prüfung der Voraussetzungen für ein Fortbestehen des Sorge­rechts­entzugs als auch bei der Prüfung der Anforderungen an die Begründung der fachge­richt­lichen Entscheidung den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen trotz deutlicher Anhaltspunkte für eine zukünftig mögliche Kindes­wohl­ge­fährdung noch gerecht. Die Prognose des Oberlan­des­ge­richts darüber, ob sich eine erhebliche Schädigung des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt, ist trotz des hier geltenden strengen Prüfungs­maßstabs verfas­sungs­rechtlich hinzunehmen.

a) Deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des für die nach diesen Maßgaben zu treffende Prognose bedeutsamen Sachverhalts lassen sich nicht annehmen. Für seine Wertung, aufgrund des Alters des betroffenen Kindes sei eine Gefahr eines erneuten Schütteltraumas zwar nicht vollständig entfallen, jedoch deutlich gesunken, kann es sich insoweit jedenfalls auf die Ausführungen des rechts­me­di­zi­nischen und des psychiatrischen Sachver­ständigen stützen. Die Würdigung des Oberlan­des­ge­richts, bei dem betroffenen Kind sei altersbedingt und nach seiner konkreten Entwicklung (nächtliches Durchschlafen) zukünftig nicht mit einem Eintreten heftiges Schütteln auslösender Situationen zu rechnen, kann angesichts tragfähiger Grundlagen nicht als deutlicher Wertungsfehler angesehen werden.

Entsprechendes gilt für die prognostische Wertung des Oberlan­des­ge­richts, mögliche zukünftige körperliche Übergriffe der Eltern gegen ihr Kind hätten voraussichtlich keine derart schwerwiegenden Folgen wie das Schütteln eines Säuglings. Es kann sich dafür in verfas­sungs­rechtlich hinzunehmender Weise auf die Ausführungen des psychiatrischen Sachver­ständigen stützen. Die weitere Wertung, angesichts dieser Ausführungen lasse das zu unterstellende Schütteln des Kindes in der Vergangenheit nicht auf eine zukünftige anderweitige elterliche Gewaltanwendung mit gravierenden körperlichen Schädigungen des Kindes schließen, findet in den Ausführungen des Sachver­ständigen ebenfalls eine noch tragfähige Grundlage. Das gilt jedenfalls deshalb, weil das Oberlan­des­gericht zudem festgestellt hat, dass keiner der beiden Elternteile zu erheblichen Gewal­t­aus­brüchen neige.

Ob die festgestellten, für die Gefah­ren­prognose bedeutsamen Umstände auch ein anderes als das vom Oberlan­des­gericht gefundene Ergebnis der Prognose erlaubt hätten, unterliegt trotz des hier strengen Maßstabs nicht der verfas­sungs­ge­richt­lichen Prüfung. Diese erstreckt sich auf deutliche Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts, umfasst aber keine eigene Gefah­ren­prognose durch das Bundes­ver­fas­sungs­gericht.

b) Der angegriffene Beschluss genügt auch den hier strengen verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen an die Begründung einer Sorge­recht­s­ent­scheidung bei Anhaltspunkten für eine Misshandlung des Kindes durch die Eltern in der Vergangenheit noch. Das Oberlan­des­gericht hat im Einzelnen dargelegt, aus welchen Gründen es zu der Einschätzung gelangt ist, dass dem Kind zukünftig keine körperlichen Schäden drohen, die nach Art und Ausmaß denjenigen gleichkommen, die mit dem Schütteln eines Säuglings verbunden sind. Dafür kann es sich insoweit auf die Einschätzungen beider gerichtlich bestellten Sachver­ständigen stützen. Soweit es in der Bewertung, ob dennoch eine Trennung von Eltern und Kind zu dessen Schutz erforderlich ist, von der Einschätzung des psychiatrischen Sachver­ständigen, der Amtspflegerin und des Beschwer­de­führers als Verfah­rens­beistand abweicht, wahrt die Begründung noch die verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen. Für seine Wertung, die Gefahr einer sonstigen körperlichen Misshandlung des Kindes lasse sich durch einen erneuten Aufenthalt der Familie in einer Eltern-Kind-Einrichtung soweit mindern, dass eine Trennung des Kindes von seinen Eltern nicht erforderlich ist, konnte es sich auf Erkenntnisse sonstiger fachlich Beteiligter stützen. Dabei handelt es sich vor allem um Berichte der ersten Eltern-Kind-Einrichtung, in der das Kind mit seinen Eltern zeitweilig gelebt hat. Eine weitergehende Bewertung der Tragfähigkeit dieser Berichte ist dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht allerdings verwehrt, weil der beschwer­de­führende Verfah­rens­beistand jedenfalls den Bericht der Einrichtung vom 28. März 2023 nicht vorgelegt hat. Ausweislich der Gründe der angegriffenen Entscheidung soll die Einrichtung die Zusammenarbeit mit den Eltern als durchweg positiv beschrieben haben. Es soll keine Verhal­tens­auf­fäl­lig­keiten gegeben haben und eine enge und liebevolle Eltern-Kind-Beziehung sowie eine bedürf­nis­ge­rechte Versorgung und das Fehlen von kindes­wohl­ge­fähr­denden Situationen beobachtet worden sein.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/pt)

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