18.10.2024
18.10.2024  
Sie sehen einen Teil der Glaskuppel und einen Turm des Reichstagsgebäudes in Berlin.

Dokument-Nr. 29804

Drucken
ergänzende Informationen

Bundesverfassungsgericht Beschluss08.12.2020

Verfassungs­beschwerden gegen menschen­un­würdige Haftbedingungen teilweise erfolgreich

Das Bundes­ver­fassungs­gerichts hat mit Beschlüssen wiederholt zwei Verfassungs­beschwerden betreffend eine menschen­un­würdige Unterbringung von Gefangenen teilweise stattgegeben. In dem einen Fall wurde der Beschwer­de­führer durch die erstin­sta­nzliche Abweisung einer Amtshaf­tungsklage mit anschließender Anhörungsrüge in seinem Recht auf rechtliches Gehör und in der Gewährleistung des allgemeinen Willkürverbots verletzt, weil aus der Entscheidung des Fachgerichts und ihren Beglei­t­um­ständen nicht deutlich wurde, ob sich der Richter selbst hinreichend mit dem Vorbringen und den aufgeworfenen Rechtsfragen befasst hat. In dem anderen Fall wurde der Beschwer­de­führer durch die Zurückweisung eines Prozesskostenh­ilfeantrags für eine Amtshaf­tungsklage in seinem Anspruch auf Rechtsschutz­gleichheit verletzt, indem eine für die Beurteilung des Begehrens des Beschwer­de­führers maßgebliche Rechtsfrage in das Prozess­kostenhilfe­verfahren vorverlagert wurde. In beiden Fällen wurde die Sache an das Landgericht zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.

Beide Beschwer­de­führer befanden sich im Jahre 2012 in Haft in bayerischen Justiz­voll­zugs­an­stalten. Sie rügen eine menschen­un­würdige Behandlung aufgrund doppelter Unterbringung mit einem weiteren Gefangenen in zu kleinen Hafträumen mit baulich nicht abgetrennten Toiletten ohne gesonderte Abluft­vor­richtung.

Klage­ab­wei­sendes Urteil wortlau­ti­dentisch mit zuvor vom OLG aufgehobenen Beschluss

Im ersten Fall (1 BvR 117/16) lehnte das Landgericht einen Antrag des Beschwer­de­führers auf Prozesskostenhilfe für eine Amtshaf­tungsklage gegen den Freistaat Bayern wegen menschen­un­würdiger Haftbedingungen zunächst ab. Der Beschluss wurde später vom Oberlan­des­gericht aufgehoben und Prozess­kos­tenhilfe gebilligt. Das Landgericht wies die daraufhin erhobene Klage mit dem angegriffenen Endurteil ab. Infolge eines Richterwechsels im Dezernat stammte das Urteil nicht von demjenigen Richter, der im Prozess­kos­ten­hil­fe­ver­fahren entschieden hatte; es ist aber nahezu wortlau­ti­dentisch mit dem zuvor vom Oberlan­des­gericht aufgehobenen, die Prozess­kos­tenhilfe ablehnenden Beschluss. Die Berufung war wegen des Beschwerdewerts nicht eröffnet und wurde nicht im Urteil zugelassen. Auch eine anschließende, inhaltlich begründete Anhörungsrüge blieb erfolglos. Das Landgericht führte in seinem Beschluss ohne weitere Begründung aus, dass das rechtliche Gehör des Klägers nicht verletzt sei. Der Beschwer­de­führer rügt mit seiner Verfas­sungs­be­schwerde unter anderem eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör sowie des Willkürverbots.

Prozess­kos­tenhilfe wurde wegen unterlassener Antrags auf Verlegung abgelehnt

Im zweiten Fall (1 BvR 149/16) hatte sich der Beschwer­de­führer bei Haftantritt mit der Gemein­schafts­un­ter­bringung schriftlich einverstanden erklärt. Sein Antrag auf Bewilligung von Prozess­kos­tenhilfe für eine Amtshaf­tungsklage gegen den Freistaat Bayern, in dem er unter Beweisangebot ausgeführt hatte, dass eine Alter­na­ti­vun­ter­bringung in einer anderen Station aufgrund der dort herrschenden Bedingungen ebenfalls menschen­un­würdig gewesen wäre, wurde durch das Landgericht abgelehnt. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde wies das Oberlan­des­gericht zurück. Dem Beschwer­de­führer sei zumutbar gewesen, einen Verle­gungs­antrag zu stellen, da die Hafträume der anderen Station den Anforderungen an eine menschenwürdige Unterbringung genügten. Der Beschwer­de­führer rügt mit seiner Verfas­sungs­be­schwerde unter anderem eine Verletzung des Anspruchs auf Rechts­schutz­gleichheit.

BVerfG: Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör

Das BVerfG hat die angegriffenen Entscheidungen aufgehoben, Der Beschwer­de­führer im Verfahren 1 BvR 117/16 ist in seinem Recht auf rechtliches Gehör und in der Gewährleistung des allgemeinen Willkürverbots verletzt. . Aus dem klage­ab­wei­senden Endurteil selbst und seinen Beglei­t­um­ständen wird nicht deutlich, ob sich der im Haupt­sa­che­ver­fahren entscheidende Richter selbst mit dem Vorbringen und den aufgeworfenen Rechtsfragen, die sich auch im Beschluss des Oberlan­des­ge­richts finden, befasst hat. In tatsächlicher Hinsicht lässt das angegriffene Endurteil nicht erkennen, warum das Landgericht es verfah­rens­rechtlich für entbehrlich hielt, die vom Beschwer­de­führer angebotenen Beweise zur streitigen Größe der Zelle zu erheben. Sollte sich die vom Beschwer­de­führer vorgebrachte Größe von 7,41 m2 als zutreffend erweisen und dem Beschwer­de­führer demnach anteilig nur eine Fläche von ca. 3,7 m² zur Verfügung gestanden haben, hätte dies Auswirkungen auf die von den Fachgerichten zu berück­sich­tigende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrecht.

Zugleich Verstoß gegen das Willkürverbot

Der EMRK unterziehe bei einer anteilig einem Gefangenen zustehenden Fläche von unter 4 m² den jeweiligen Sachverhalt im Hinblick auf das Verbot der Folter und der unmenschlichen Behandlung in Art. 3 EMRK einer besonders intensiven Prüfung unterzieht. Ebenso fehlen Ausführungen zur baulich in die Gemein­schaftszelle integrierten Toilette. In rechtlicher Hinsicht ist nicht ersichtlich, dass das Gericht das Vorbringen des Beschwer­de­führers, sowohl nach der Rechtsprechung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts, des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und diverser Obergerichte sei seine Haftun­ter­bringung menschen­un­würdig gewesen, in dem gebotenen Maße zur Kenntnis genommen und ernsthaft erwogen hat. Durch diese Sachver­halts­be­handlung ist zugleich ein Verstoß gegen das Willkürverbot gegeben. Es ist kein sachlicher Gesichtspunkt ersichtlich, warum sich das Landgericht selbst im Verfahren zur Anhörungsrüge der zahlreich zu ähnlichen Haftbedingungen existierenden Rechtsprechung, die der Beschwer­de­führer vorgetragen hatte, offenbar verschlossen hat.

Anspruch auf Rechts­schutz­gleichheit verletzt

Der Beschwer­de­führer im Verfahren 1 BvR 149/16 ist in seinem Anspruch auf Rechts­schutz­gleichheit verletzt. Die Gewährleistung der Rechts­schutz­gleichheit gebietet eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes. Zwar ist es verfas­sungs­rechtlich unbedenklich, die Gewährung von Prozess­kos­tenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechts­ver­folgung oder Rechts­ver­tei­digung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. Die Prüfung der Erfolgs­aus­sichten soll jedoch nicht dazu dienen, die Rechts­ver­folgung oder Rechts­ver­tei­digung selbst in das summarische Verfahren der Prozess­kos­tenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Haupt­sa­che­ver­fahrens treten zu lassen. Gemessen an diesen Grundsätzen halten die Prozess­kos­tenhilfe versagenden Beschlüsse des Landgerichts und Oberlan­des­ge­richts einer verfas­sungs­recht­lichen Überprüfung nicht stand. Indem die Fachgerichte der beabsichtigten Amtshaf­tungsklage ungeachtet von ungeklärten Rechtsfragen die Erfolgs­aus­sichten von vornherein abgesprochen und Prozess­kos­tenhilfe verweigert haben, haben sie den Anspruch des Beschwer­de­führers auf Rechts­schutz­gleichheit verletzt.

Vorverlagerung ungeklärter Rechtsfrage zu menschen­würdiger Unterbringung unzulässig

Die Erfolgs­aus­sichten einer Amtshaf­tungsklage wegen menschen­un­würdiger Haftun­ter­bringung können nicht im Rahmen eines Prozess­kos­ten­hil­fe­ver­fahrens unter Verweis auf § 839 Abs. 3 BGB verneint werden, soweit die Unterbringung in einem Haftraum, für den ein Verle­gungs­antrag hätte gestellt werden können, ungeklärte Fragen im Hinblick auf die Menschen­wür­de­ga­rantie aufwirft. Ob ein täglich 23-stündiger Einschluss in einen Einzelhaftraum mit einer Größe von knapp 7,8 m² mit der Menschen­wür­de­ga­rantie vereinbar ist, ist gesetzlich nicht eindeutig geregelt und in der Rechtsprechung bislang nicht geklärt. Diese für die Beurteilung des Begehrens des Beschwer­de­führers maßgebliche Rechtsfrage durfte nicht in das Prozess­kos­ten­hil­fe­ver­fahren vorverlagert werden, sondern bedarf einer Entscheidung in einem Haupt­sa­che­ver­fahren, die es dem Beschwer­de­führer auch ermöglicht, sie gegebenenfalls einer höchst­rich­ter­lichen Klärung zuzuführen.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

Urteile sind im Originaltext meist sehr umfangreich und kompliziert formuliert. Damit sie auch für Nichtjuristen verständlich werden, fasst urteile.news alle Entscheidungen auf die wesentlichen Kernaussagen zusammen. Wenn Sie den vollständigen Urteilstext benötigen, können Sie diesen beim jeweiligen Gericht anfordern.

Wenn Sie einen Link auf diese Entscheidung setzen möchten, empfehlen wir Ihnen folgende Adresse zu verwenden: https://urteile.news/Beschluss29804

Bitte beachten Sie, dass im Gegensatz zum Verlinken für das Kopieren einzelner Inhalte eine explizite Genehmigung der ra-online GmbH erforderlich ist.

Die Redaktion von urteile.news arbeitet mit größter Sorgfalt bei der Zusammenstellung von interessanten Urteilsmeldungen. Dennoch kann keine Gewähr für Richtigkeit und Vollständigkeit der über uns verbreiteten Inhalte gegeben werden. Insbesondere kann urteile.news nicht die Rechtsberatung durch eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt in einem konkreten Fall ersetzen.

Bei technischen Problemen kontaktieren Sie uns bitte über dieses Formular.

VILI