18.10.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss14.07.2015

Geldent­schä­digung wegen Unterbringung in zu kleiner EinzelzelleAblehnung einer Geldent­schä­digung verkennt Bedeutung und Tragweite der Menschen­würde­garantie

Das Bundes­verfassungs­gericht hat ein Urteil des Kammergerichts in einem Amts­haftungs­verfahren wegen menschen­un­würdiger Haftun­ter­bringung teilweise aufgehoben. Nach Auffassung des Bundes­verfassungs­gericht verkennt die Ablehnung einer Geldent­schä­digung die Bedeutung und Tragweite der Menschen­würde­garantie (Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG). Die Sache wird insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Kammergericht zurückverwiesen.

Der Beschwer­de­führer des zugrunde liegenden Verfahrens war in der Zeit vom 9. Juni 2009 bis zum 23. November 2009 in einer Einzelzelle mit einer Bodenfläche von 5,25 m² und räumlich nicht abgetrennter Toilette untergebracht. In einem parallel gelagerten Verfahren stellte der Verfas­sungs­ge­richtshof des Landes Berlin mit einem am 5. November 2009 veröf­fent­lichten Beschluss eine Verletzung der Menschenwürde fest. Die Entschä­di­gungsklage des Beschwer­de­führers wies das Kammergericht mit angegriffenem Urteil ab. Eine zweiwöchige Übergangsfrist bis zum 19. November 2009 sei für die Prüfung einzuräumen, wie die menschen­un­würdige Haftsituation vieler Betroffener in der Justiz­voll­zugs­anstalt zu unterbinden sein könnte. Auch die verhältnismäßig geringfügige Überschreitung der Übergangsfrist gebiete keine Entschädigung in Geld. Vielmehr werde bereits mit der Feststellung der menschen­würdigen Haftun­ter­bringung dem berechtigten Rechts­schutz­an­liegen des Beschwer­de­führers angemessen Rechnung getragen.

Verletzung der Menschenwürde durch Haftraumgröße nicht einfach zu bewerten

Die Verfas­sungs­be­schwerde hatte vor dem Bundes­ver­fas­sungs­gericht teilweise Erfolg. Soweit das Kammergericht zu dem Ergebnis kommt, ein Verschulden der zuständigen Amtsträger sei bis zur Bekanntgabe der Entscheidung des Berliner Verfas­sungs­ge­richtshofs am 5. November 2009 und darüber hinaus bis zum Ablauf einer zweiwöchigen Übergangsfrist nicht gegeben, hält sich dies jedenfalls noch im Rahmen des fachge­richt­lichen Wertungs­spielraums. Das Kammergericht hat vertretbar konzediert, dass die Rechtsfrage, ab welcher konkreten Haftraumgröße eine Verletzung der Menschenwürde anzunehmen ist, nicht einfach zu beurteilen gewesen sei und insbesondere bei einer Einzelzelle weder durch die Rechtsprechung geklärt noch im Schrifttum abschließend behandelt gewesen sei.

Ausgleichs­an­spruch wurde vom Kammergericht in verfas­sungs­rechtlich nicht mehr tragfähiger Weise verneint

Das Urteil des Kammergerichts kann allerdings keinen Bestand haben, soweit es sich auf den Zeitraum nach Ablauf der Übergangsfrist vom 20. November 2009 bis 23. November 2009 bezieht. Die Erwägungen, aufgrund derer das Kammergericht einen Amtshaf­tungs­an­spruch des Beschwer­de­führers für den erlittenen menschen­un­würdigen Freiheitsentzug verneint hat, werden der Bedeutung des Grundrechts der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG als Grundlage einer rechts­s­taat­lichen Kompensation in Form eines Amtshaf­tungs­an­spruchs nicht gerecht. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hat bereits entschieden, dass der Schutzauftrag der Menschenwürde beziehungsweise des allgemeinen Persön­lich­keits­rechts einen Anspruch auf Ausgleich des immateriellen Schadens gebietet, weil anderenfalls ein Verkümmern des Rechtsschutzes der Persönlichkeit zu befürchten wäre. Zwar muss der hiernach rechtsstaatlich gebotene Ausgleich nicht zwingend in der Zubilligung eines Zahlungs­an­spruchs bestehen. Vorliegend hat das Kammergericht einen Ausgleichs­an­spruch aber in verfas­sungs­rechtlich nicht mehr tragfähiger Weise verneint.

Fortdauernde, menschen­un­würdige Inhaftierung nach Ablauf der vom Verfas­sungs­ge­richtshof gesetzten Übergangsfrist löst amtshaf­tungs­rechtliche Ansprüche aus

Der Verfas­sungs­ge­richtshof für das Land Berlin hat in bundes­ver­fas­sungs­rechtlich nicht zu beanstandender Weise hervorgehoben, dass die Unterbringung eines Häftlings für einen Zeitraum von knapp drei Monaten in einem Einzelhaftraum mit einer Bodenfläche von 5,25 m² und Einschluss­zeiten zwischen 15 und fast 21 Stunden bei einer Gesamtschau der Umstände dessen Menschenwürde verletzt. Dabei hat der Berliner Verfas­sungs­ge­richtshof allerdings festgestellt, dass menschenwürdige Zustände in einer größeren Haftanstalt nicht von heute auf morgen hergestellt werden können und deshalb für eine Übergangsfrist von zwei Wochen hinzunehmen sind. Vor diesem Hintergrund bewegt sich die Einschätzung, für diese Übergangsfrist komme ein Amtshaf­tungs­an­spruch aufgrund mangelnden Verschuldens der verant­wort­lichen Amtsträger nicht in Betracht, noch im fachge­richt­lichen Wertungsrahmen. Demgegenüber stellt eine fortdauernde Inhaftierung nach Ablauf der Übergangsfrist ersichtlich ein schuldhaftes, amtshaf­tungs­rechtliche Ansprüche auslösendes Handeln dar.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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