21.11.2024
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Bundesverfassungsgericht Beschluss08.06.2016

Eilanträge gegen das Vorrats­daten­speicherungs­gesetz erfolglosNachteile durch Daten­spei­cherung für Außer­kraft­setzung eines Gesetzes nicht schwerwiegend genug

Das Bundes­verfassungs­gericht hat zwei Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen das Gesetz zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchst­spei­cherfrist für Verkehrsdaten vom 10. Dezember 2015 abgelehnt. Die Entscheidung des Gerichts beruht auf einer Folgenabwägung. Mit der Daten­spei­cherung allein ist noch kein derart schwerwiegender Nachteil verbunden, dass er die Außer­kraft­setzung eines Gesetzes erforderte. Darüber hinaus hat der Gesetzgeber den Abruf von Telekom­mu­ni­kations-Verkehrsdaten von qualifizierten Voraussetzungen abhängig gemacht, die das Gewicht der durch den Vollzug der Vorschrift drohenden Nachteile im Vergleich mit den Nachteilen für das öffentliche Interesse an einer effektiven Strafverfolgung weniger gewichtig erscheinen lassen.

Die Beschwer­de­führer des zugrunde liegenden Verfahrens nutzen privat und geschäftlich verschiedene Telekom­mu­ni­ka­ti­o­ns­dienste. Mit ihren Eilanträgen begehren die Beschwer­de­führer die eingeführte Vorratsspei­cherung von Telekom­mu­ni­kations-Verkehrsdaten zu Zwecken der öffentlichen Sicherheit außer Kraft zu setzen. Die von den Beschwer­de­führern angegriffenen Regelungen finden sich in den neu geschaffenen §§ 113 a bis 113g TKG, in dem neu gefassten § 100 g StPO und den neu geschaffenen §§ 101 a und 101b StPO.

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht entschied, dass der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen ist.

BVerfG dürfte gegenwärtigen Zustand zur Verhinderung drohender Gewalt durch einstweilige Verfügung ändern

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht kann einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist (§ 32 Abs. 1 BVerfGG). Dabei haben die Gründe, die für die Verfas­sungs­wid­rigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfas­sungs­be­schwerde erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Haupt­sa­che­ver­fahrens muss das Bundes­ver­fas­sungs­gericht eine Folgenabwägung vornehmen.

In Kraft getretenes Gesetz darf von Bundes­ver­fas­sungs­gericht nur unter größter Zurückhaltung außer Vollzug gesetzt werden

Wird die Aussetzung des Vollzugs eines Gesetzes begehrt, ist bei der Folgenabwägung ein besonders strenger Maßstab anzulegen. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht darf von seiner Befugnis, den Vollzug eines in Kraft getretenen Gesetzes auszusetzen, nur mit größter Zurückhaltung Gebrauch machen, da der Erlass einer solchen einstweiligen Anordnung stets ein erheblicher Eingriff in die Gestal­tungs­freiheit des Gesetzgebers ist. Insoweit ist von entscheidender Bedeutung, ob die Nachteile irreversibel oder nur sehr erschwert revidierbar sind, um das Ausset­zungs­in­teresse durchschlagen zu lassen.

Mit Speicherung verbundene Nachteile allein rechtfertigen noch keine erforderliche Außer­kraft­setzung eines Gesetzes

Nach diesen Maßstäben waren die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Zwar kann die umfassende und anlasslose Bevorratung sensibler Daten über praktisch jedermann einen erheblichen Einschüch­te­rungs­effekt bewirken, weil das Gefühl entsteht, ständig überwacht zu werden. Der in der Speicherung für Einzelne liegende Nachteil für ihre Freiheit und Privatheit verdichtet und konkretisiert sich jedoch erst durch einen Abruf der Daten zu einer möglicherweise irreparablen Beein­träch­tigung. Mit der Speicherung allein ist noch kein derart schwerwiegender Nachteil verbunden, dass er die Außer­kraft­setzung eines Gesetzes erforderte. Dies gilt auch für die Speicherung der Daten von Berufs­ge­heim­nis­trägern.

Zur Erfüllung der Speicherpflicht müssen bei Bedarf entsprechende technische Bedingungen geschaffen werden

Ein die Aussetzung der Speicherpflicht erfordernder besonders schwerer Nachteil ergibt sich auch nicht daraus, dass beim Short Message Service (SMS) Verkehrsdaten und Kommu­ni­ka­ti­o­ns­inhalte möglicherweise nicht getrennt werden können. Nach dem klaren Wortlaut des § 113 b Abs. 5 TKG dürfen der Inhalt der Kommunikation, Daten über aufgerufene Internetseiten und Daten von Diensten der elektronischen Post auf Grund dieser Vorschrift nicht gespeichert werden. Wenn dies technisch zurzeit noch nicht möglich sein sollte, rechtfertigt das nicht, sich über die Maßgabe des Gesetzes hinwegzusetzen; vielmehr sind dann zunächst die technischen Bedingungen zu schaffen, um die Speicherpflicht erfüllen zu können.

Abruf von Telekom­mu­ni­kations-Verkehrs­da­tenhängt von qualifizierten Voraussetzungen ab

Im Verkehrs­da­te­nabruf nach § 100 g Abs. 1 und 2 StPO liegt ein schwerwiegender und nicht mehr rückgängig zu machender Eingriff in das Grundrecht aus Art. 10 Abs. 1 GG. Doch hat der Gesetzgeber mit § 100 g Abs. 2 StPO den Abruf von Telekom­mu­ni­kations-Verkehrsdaten im Sinne des § 113 b TKG von qualifizierten Voraussetzungen abhängig gemacht, die das Gewicht der dem Einzelnen und der Allgemeinheit durch den Vollzug der Vorschrift drohenden Nachteile für die Übergangszeit bis zur Entscheidung über die Hauptsache hinnehmbar und im Vergleich mit den Nachteilen für das öffentliche Interesse an einer effektiven Strafverfolgung weniger gewichtig erscheinen lassen.

Aussetzung der Vorschrift durch einstweilige Anordnung trotz entge­gen­ste­hender gewichtiger Nachteile nicht geboten

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hatte in seiner Entscheidung über den Antrag auf einstweilige Anordnung gegen das Gesetz zur Neuregelung der Telekom­mu­ni­ka­ti­o­ns­über­wachung vom 21. Dezember 2007 wegen des öffentlichen Gewichts einer wirksamen Verfolgung schwerer Straftaten solche Abrufersuchen zugelassen, die der Verfolgung von Katalogtaten im Sinne des § 100 a Abs. 2 StPO dienten, wenn darüber hinaus auch die Voraussetzungen des § 100 a Abs. 1 StPO vorlagen, namentlich die Tat auch im Einzelfall schwer wog und die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufent­haltsortes des Beschuldigten auf andere Weise wesentlich erschwert oder aussichtslos gewesen wäre. Diese Voraussetzungen ergeben sich nunmehr unmittelbar aus § 100 g Abs. 2 Satz 1 StPO. Angesichts dieser Einschränkungen hat das öffentliche Straf­ver­fol­gungs­in­teresse grundsätzlich derartiges Gewicht, dass die Aussetzung der Vorschrift durch eine einstweilige Anordnung trotz der entge­gen­ste­henden gewichtigen Nachteile nicht geboten ist.

Voraussetzungen für einstweilige Anordnung nicht gegeben

Auch in Blick auf die das zu beachtende Verfahren regelnden §§ 101a, 101b StPO ist eine einstweilige Anordnung nicht geboten. Ob und gegebenenfalls in welcher Weise die Europäische Grund­recht­echarta oder sonstiges Unionsrecht für die Beurteilung der angegriffenen Vorschriften Bedeutung entfaltet, ist im Haupt­sa­che­ver­fahren zu entscheiden. Dass Unionsrecht dazu verpflichten könnte, die angegriffenen Vorschriften schon im Eilverfahren im Wege der einstweiligen Anordnung außer Kraft zu setzen, ist weder substantiiert vorgetragen noch ersichtlich.

Quelle: Bundesverfassungsgericht/ra-online

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