23.11.2024
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Dokument-Nr. 31799

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Beschluss07.04.2022Bundesverfassungsgericht1 BvL 3/18, 1 BvR 2824/17, 1 BvR 2257/16und 1 BvR 717/16
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Bundesverfassungsgericht Beschluss07.04.2022

Weitergehende Berück­sich­tigung des wirtschaft­lichen Kinder­erziehungs­aufwands nur im Beitragsrecht der sozialen Pflege­ver­si­cherung gebotenGleiche Beitrags­be­lastung der Eltern unabhängig von Anzahl der Kinder ist verfas­sungs­rechtlich nicht gerechtfertigt

Das Bundes­verfassungs­gericht hat auf die Vorlage eines Sozialgerichts und zwei Ver­fassungs­beschwerden entschieden, dass § 55 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Sätze 1 und 2 sowie § 57 Abs. 1 Satz 1 des Elften Buches Sozial­ge­setzbuch (SGB XI) insoweit mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar sind, als beitrags­pflichtige Eltern in der sozialen Pflege­ver­si­cherung unabhängig von der Zahl der von ihnen betreuten und erzogenen Kinder mit gleichen Beiträgen belastet werden. Weitergehende Ver­fassungs­beschwerden wurden zurückgewiesen, soweit sie die Frage der Berück­sich­tigung der Betreuung und Erziehung von Kindern bei der Bemessung des Beitrags zur gesetzlichen Renten­ver­si­cherung und zur gesetzlichen Kranken­ver­si­cherung betrafen.

Seit dem 1. Januar 2019 beträgt der Beitragssatz der sozialen Pflegeversicherung 3,05 %. Für Versicherte, die das 23. Lebensjahr vollendet haben und nicht Eltern sind, erhöht sich der Beitragssatz um einen Beitrags­zu­schlag für Kinderlose, den sozia­l­ver­si­che­rungs­pflichtig Beschäftigte stets allein tragen (§ 55 Abs. 3 Satz 1 und 2 SGB XI). Bis einschließlich 31. Dezember 2021 betrug dieser unverändert ,25 Beitrags­satz­punkte und wurde mit Wirkung ab dem 1. Januar 2022 auf ,35 Beitrags­satz­punkte angehoben. Der mit Wirkung zum 1. Januar 2005 eingeführte Beitrags­zu­schlag für Kinderlose geht zurück auf das sogenannte Pflege­ver­si­che­rungs­urteil des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts vom 3. April 2001. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht stellte dort fest, dass es mit Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren sei, dass Mitglieder der sozialen Pflege­ver­si­cherung, die Kinder betreuen und erziehen und damit neben dem Geldbeitrag einen zusätzlichen Beitrag zur Funkti­o­ns­fä­higkeit eines umlage­fi­nan­zierten Sozia­l­ver­si­che­rungs­systems leisten, mit einem gleich hohen Pflege­ver­si­che­rungs­beitrag wie Mitglieder ohne Kinder belastet werden. Hingegen erfolgt weder im Beitragsrecht der gesetzlichen Rentenversicherung noch in dem der gesetzlichen Krankenversicherung eine Berück­sich­tigung der Kindererziehung. Das Vorla­ge­ver­fahren 1 BvL 3/18 eines Sozialgerichts sowie die Verfas­sungs­be­schwerden in den Verfahren 1 BvR 717/16 und 1 BvR 2257/16 haben zum Gegenstand, ob im Beitragsrecht der sozialen Pflege­ver­si­cherung, das Eltern gegenüber Kinderlosen beitrags­rechtlich privilegiert, eine Beitrags­dif­fe­ren­zierung in Abhängigkeit von der Kinderzahl geboten ist. Im Verfas­sungs­be­schwer­de­ver­fahren 1 BvR 2257/16 stellt sich daneben die Frage der Erfor­der­lichkeit einer beitrags­recht­lichen Privilegierung der Eltern auch in der gesetzlichen Kranken­ver­si­cherung und der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung; letztere Frage ist alleiniger Verfah­rens­ge­genstand der Verfas­sungs­be­schwerde im Verfahren 1 BvR 2824/17.

Erhebung von Sozia­l­ver­si­che­rungs­bei­trägen erfordert Gebots der Belas­tungs­gleichheit

A. § 55 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Sätze 1 und 2 SGB XI sowie § 57 Abs. 1 Satz 1 SGB XI sind mit Art. 3 Abs. 1 GG insoweit nicht vereinbar, als beitrags­pflichtige Mitglieder der sozialen Pflege­ver­si­cherung, die Kinder betreuen und erziehen, unabhängig von der Zahl ihrer Kinder in gleicher Weise zu Beiträgen herangezogen werden. Die Erhebung von Sozia­l­ver­si­che­rungs­bei­trägen erfordert die Beachtung des aus dem allgemeinen Gleichheitssatz abgeleiteten Gebots der Belas­tungs­gleichheit, das sich auf alle staatlich geforderten Abgaben erstreckt. Als Diffe­ren­zie­rungsgebot ist der allgemeine Gleichheitssatz nicht schon dann verletzt, wenn der Gesetzgeber Diffe­ren­zie­rungen, die er vornehmen darf, nicht vornimmt. Er verletzt aber das Gleich­heits­grundrecht, wenn er es versäumt, tatsächliche Ungleichheiten des zu ordnenden Lebens­sach­verhalts zu berücksichtigen, die so bedeutsam sind, dass sie beachtet werden müssen. Auf Grundlage der gesetz­ge­be­rischen Erwägungen, die das gegenwärtige Beitragsrecht der sozialen Pflege­ver­si­cherung tragen, bewirkt die unabhängig von der Kinderzahl erfolgende gleiche Beitrags­be­lastung beitrags­pflichtiger Eltern innerhalb dieser Gruppe eine Gleich­be­handlung von wesentlich Ungleichem zum Nachteil der Eltern mit mehr Kindern. Den Beitrags­zu­schlag für Kinderlose hat der Gesetzgeber mit der „kinderbedingten besonderen finanziellen und sonstigen Belastung“ gerechtfertigt, dem die Mehrbelastung Kinderloser Rechnung tragen solle. Insoweit bestehen jedoch wesentliche Unterschiede in Abhängigkeit von der Anzahl der Kinder auch innerhalb der Gruppe beitrags­pflichtiger Eltern. Der wirtschaftliche Aufwand der Kindererziehung besteht einerseits aus den tatsächlich aufgewendeten Kinder­er­zie­hungs­kosten, insbesondere den erzie­hungs­be­dingten Konsumausgaben (Realaufwand), und andererseits aus Oppor­tu­ni­täts­kosten, also den erzie­hungs­bedingt entgangenen Erwerbs- und Versor­gung­s­chancen. Der Umfang des Realaufwands wie derjenige der Oppor­tu­ni­täts­kosten steigt in Abhängigkeit von der Kinderzahl substantiell an. Zwar ist nicht zu verkennen, dass seit dem Ergehen des Pflege­ver­si­che­rungs­urteils zahlreiche Maßnahmen des allgemeinen Famili­en­leis­tungs­aus­gleichs zur (anteiligen) Kompensation des Kinder­zie­hungs­aufwands, zum Teil in Abhängigkeit von der Kinderzahl, ergriffen und bestehende erweitert wurden. Allerdings bleiben trotz der unternommenen gesetz­ge­be­rischen Anstrengungen die Erwer­b­s­tä­ti­genquote und das Erwerbsvolumen von Müttern mit mehr Kindern gegenüber solchen mit weniger Kindern nach wie vor substantiell zurück. Durch die gleiche Beitrags­be­lastung innerhalb der Gruppe der Eltern mit unterschiedlich vielen Kindern werden Eltern mit mehr Kindern gegenüber solchen mit weniger Kindern innerhalb des vom Gesetzgeber gewählten Systems der sozialen Pflege­ver­si­cherung in spezifischer Weise benachteiligt. Denn Eltern mit mehr Kindern werden beitrags­rechtlich lediglich in dem gleichen Maße besser gestellt wie Eltern mit weniger Kindern, obwohl der wirtschaftliche Erzie­hungs­mehr­aufwand mit wachsender Kinderzahl steigt. Diese Benachteiligung tritt bereits ab einschließlich dem zweiten Kind ein. Diese Benachteiligung wird innerhalb des Systems der sozialen Pflege­ver­si­cherung nicht hinreichend kompensiert. Ein gewisser Ausgleich besteht zwar darin, dass die beitrags­pflichtigen Versicherten mit mehr Kindern bei gleichen Beiträgen, wie sie beitrags­pflichtige Versicherte mit weniger Kindern leisten, Versi­che­rungs­schutz auch für die anderen Familien­an­ge­hörigen erhalten. Angesichts des geringen Risikos der Pflege­be­dürf­tigkeit von Kindern, dem eine verhältnismäßig geringe Belastung der Sozia­l­ver­si­che­rungs­träger durch die beitragsfreie Mitversicherung entspricht, ist dieser Vorteil aber nicht geeignet, den mit der Mehrbelastung einhergehenden Nachteil hinreichend aufzuwiegen. Auch die Absicherung pflegender Angehöriger in der gesetzlichen Renten- und Arbeits­lo­sen­ver­si­cherung oder die Gewährung von Rechten und Leistungen bei Inanspruchnahme von Pflegezeit einschließlich des Pflege­un­ter­stüt­zungs­geldes gleichen den Nachteil nicht aus. Diese Leistungen sind nicht auf den Ausgleich eines kinder­zahl­ab­hängigen Erzie­hungs­aufwands, sondern auf den Ausgleich des Pflegeaufwandes und die Stärkung der Pflege­be­reit­schaft ausgelegt.

Von Kinderzahl unabhängige Beitrags­be­lastung in Pflege­ver­si­cherung verfas­sungs­rechtlich nicht gerechtfertigt

Die von der Kinderzahl unabhängige gleiche Beitrags­be­lastung der Eltern erweist sich als verfas­sungs­rechtlich nicht gerechtfertigt. Dem Gesetzgeber kommt hinsichtlich der Frage, wie ein den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen genügendes Beitragsrecht gleich­heits­gerecht auszugestalten ist, ein großer Einschätzungs-, Wertungs- und Gestal­tungs­spielraum zu. Dieser betrifft nicht nur die Frage, in welchem Umfang im gewählten System der sozialen Pflege­ver­si­cherung der wirtschaftliche Kinder­er­zie­hungs­aufwand im Beitragsrecht zu berücksichtigen ist, sondern auch, auf welche Weise und auf wessen Kosten dies erfolgt. Die von der Kinderzahl unabhängige gleiche Beitrags­be­lastung beitrags­pflichtiger Eltern ist jedoch nicht verhältnismäßig im engeren Sinne. Geht es – wie vorliegend – um die Prüfung einer typisierenden Regelung, ist insbesondere der mit der Typisierung verfolgte Zweck der Verwal­tungs­ver­ein­fachung als ein Sachgrund für die Gleich­be­handlung heranzuziehen. Eine zulässige Typisierung setzt voraus, dass der Gesetzgeber keinen atypischen Fall als Leitbild wählt, sondern reali­täts­gerecht den typischen Fall als Maßstab zugrunde legt. Die durch sie eintretenden Härten und Ungerech­tig­keiten dürfen also nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von Personen betreffen. Darüber hinaus darf das Ausmaß der Ungleich­be­handlung nicht sehr intensiv sein. Wesentlich ist ferner, ob die Härten nur unter Schwierigkeiten vermeidbar sind; hierfür sind auch praktische Erfordernisse der Verwaltung von Gewicht. Geht es – wie hier – um die Bewältigung einer mehrpoligen Interessenlage, sind die für die typisierende Regelung sprechenden Gesichtspunkte zugleich zu den Nachteilen und Belastungen ins Verhältnis zu setzen, die durch eine stärker diffe­ren­zierende Regelung für Dritte oder die Allgemeinheit entstünden. Indem der Gesetzgeber alle beitrags­pflichtigen Versicherten mit Kindern unterschiedslos dem gleichen Beitragssatz unterwirft, hat er die Grenzen seiner Typisie­rungs­be­fugnis überschritten. Nach den Ergebnissen des Mikrozensus 2019 ist der Anteil der Familien mit einem Kind ungefähr gleich groß wie der Anteil der Familien mit zwei oder mehr Kindern. Es ist anzunehmen, dass sich diese Verteilung unter den Versicherten der sozialen Pflege­ver­si­cherung nicht grundlegend anders darstellt. Der Anteil derjenigen, die aufgrund ihrer Kinderzahl einen höheren wirtschaft­lichen Erzie­hungs­aufwand haben, ist deswegen nicht verhältnismäßig geringfügig, sondern signifikant. Die unter­schiedslose Beitrags­be­lastung der Versicherten mit Kindern führt zu einer Benachteiligung der Versicherten mit mehr gegenüber solchen mit weniger Kindern von einigem Gewicht. Je mehr Kinder beitrags­pflichtige Eltern aufziehen, desto höher ist der wirtschaftliche Erzie­hungs­aufwand und desto mehr übersteigt dieser gegenüber Eltern mit weniger Kindern das – gleiche – Ausmaß an beitrags­recht­licher Besserstellung gegenüber den Kinderlosen, ohne dass dieser Mehraufwand durch den Zuwachs an Versi­che­rungs­schutz durch die beitragsfreie Famili­en­ver­si­cherung vollständig ausgeglichen würde. Auch die vergleichsweise geringe absolute Belas­tungs­wirkung der Pflege­ver­si­che­rungs­beiträge rechtfertigt keine weitergehende Typisierung. Jedenfalls vermögen Gering­fü­gig­keits­er­wä­gungen substantielle und weit greifende Benach­tei­li­gungen im Kernbereich einer Regelung nicht zu rechtfertigen. Im Übrigen ist auch nicht anzunehmen, dass eine beitrags­wirksame Differenzierung je nach Anzahl der Kinder für die Versicherten notwendig nur vernach­läs­sigbare Kleinstbeträge hervorbrächte. Die vorgenommene Typisierung lässt sich auch nicht unter Gesichtspunkten der Praktikabilität und Verwal­tungs­ver­ein­fachung rechtfertigen. Vorliegend ist schon nicht erkennbar, dass die Berück­sich­tigung der Kinderzahl unver­hält­nis­mäßige Verwal­tungs­aufwände verursachte. Es ist schließlich auch nicht zu erkennen, dass eine in Abhängigkeit von der Kinderzahl erfolgende relative Entlastung notwendig die verfas­sungs­rechtliche Belas­tungs­grenze kinderloser Versicherter oder solcher mit weniger Kindern überschritte. Dies ist schon angesichts der Einkom­men­s­ab­hän­gigkeit des Pflege­ver­si­che­rungs­beitrags und des allgemeinen Niveaus des Beitragssatzes in der Pflege­ver­si­cherung nicht zu besorgen. Dem Gesetzgeber steht es auch frei, sich den weitergehenden Diffe­ren­zie­rungs­spielraum nicht oder nicht vollständig durch die „Umverteilung der Beitragslast“ von Eltern mit mehr Kindern auf Eltern mit weniger Kindern und Kinderlose, sondern (anteilig) auf andere Weise, nämlich durch steuer­fi­nan­zierte Bundeszuschüsse oder auch sonstige beitrags- und leistungs­seitige Instrumente zu verschaffen.

Renten­rechtliche Anerkennung der Kinder­er­zie­hungs­zeiten bereits in Erwerbsphase als wirtschaft­licher Vorteil enthalten

Im Hinblick auf das Beitragsrecht der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung ist Art. 3 Abs. 1 GG nicht dadurch verletzt, dass Mitglieder der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung mit Kindern mit einem gleich hohen Renten­ver­si­che­rungs­beitrag wie Mitglieder ohne Kinder belastet werden. In der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung bedeutet die gleiche Beitrags­be­lastung von Eltern und Kinderlosen eine Gleich­be­handlung von wesentlich Ungleichem. Die gesetz­ge­be­rische Konzeption ist darauf gerichtet, den wirtschaft­lichen Aufwand der Kindererziehung im System der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung faktisch beitragswirksam anzuerkennen. Insbesondere die Anerkennung von Kinder­er­zie­hungs­zeiten (§ 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VI) dient im umlage­fi­nan­zierten System der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung – neben dem Schutz vor erzie­hungs­be­dingten Versor­gungs­nach­teilen im Alter – auch der Honorierung des Wertes der Kindererziehung. Kinder­er­zie­hungs­zeiten sind Zeiten der Erziehung eines Kindes in dessen ersten drei Lebensjahren. Nach Erfüllung der allgemeinen Wartezeit begründet die Kindererziehungszeit eine eigenständige Rente­n­an­wart­schaft (vgl. § 70 Abs. 2 SGB VI). Die Entgeltpunkte für Kinder­er­zie­hungs­zeiten werden zu den Entgeltpunkten für andere Beitragszeiten addiert, allerdings maximal bis zur Beitrags­be­mes­sungs­grenze. Die renten­rechtliche Anerkennung von Kinder­er­zie­hungs­zeiten auf der Leistungsseite stellt sich zugleich als faktische Entlastung auf der Beitragsseite dar. Ohne die leistungs­rechtliche Anerkennung von Kinder­er­zie­hungs­zeiten müsste der kinder­er­ziehende Versicherte den entsprechenden Anwart­schaftsteil durch höhere Beiträge erwerben. In dieser gesetz­ge­be­rischen Ausgestaltung liegt keine Benachteiligung der Eltern. Es ist nicht erkennbar, dass der wirtschaftliche Kinder­er­zie­hungs­aufwand durch die Anrechnung der Kinder­er­zie­hungs­zeiten nicht schon im System der Renten­ver­si­cherung selbst hinreichend berücksichtigt wird. Reduziert der ein renten­recht­liches Durch­schnitt­s­ein­kommen beziehende Elternteil seinen Erwerbsumfang und erbringt aus diesem Grund nur entsprechend verringerte Beiträge, führen die Kinder­er­zie­hungs­zeiten für die Dauer von drei Jahren im Umfang der Reduzierung zum vollständigen Ausgleich des erzie­hungs­be­dingten Anwart­schafts­nachteils. Insoweit bringt die renten­rechtliche Anerkennung der Kinder­er­zie­hungs­zeiten auch bereits in der Erwerbsphase einen spürbaren wirtschaft­lichen Vorteil hervor. Eine darüber hinausgehende Ausgleichs­wirkung ergibt sich insoweit, wie die renten­rechtliche Anerkennung nicht bereits zum Ausgleich eines Siche­rungs­de­fizits „verbraucht“ wird. Damit hat der Gesetzgeber einen hinreichenden Ausgleich für den wirtschaft­lichen Kinder­er­zie­hungs­aufwand geschaffen. Mit der Kappung des Umfangs der renten­recht­lichen Anerkennung von Kinder­er­zie­hungs­zeiten durch die Beitrags­be­mes­sungs­grenze hat der Gesetzgeber der im Beitragsrecht allgemein geltenden „Leistungs­be­mes­sungs­grenze“ Rechnung getragen, die den Renten einerseits ihre existenz­si­chernde Funktion erhält, dabei aber andererseits die Finan­zier­barkeit der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung für die Allgemeinheit sicherstellt. Die zeitliche Begrenzung der Kinder­er­zie­hungs­zeiten trägt dem Umstand Rechnung, dass die Oppor­tu­ni­täts­kosten in den ersten Lebensjahren des Kindes besonders intensiv ausfallen. Zudem durfte der Gesetzgeber annehmen, dass die abseits des Rentenrechts in Verfolgung seines Gleich­stel­lungs­auftrags aus Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG ergriffenen Instrumente zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu einer Steigerung der Erwerbsquote und des Erwerbsumfangs insbesondere bei Müttern führen.

Wirtschaftliche Erzie­hungs­aufwand durch beitragsfreie Famili­en­ver­si­cherung hinreichend kompensiert

Auch im Hinblick auf das Beitragsrecht der gesetzlichen Kranken­ver­si­cherung ist Art. 3 Abs. 1 GG nicht dadurch verletzt, dass Mitglieder der gesetzlichen Kranken­ver­si­cherung mit Kindern mit einem gleich hohen Kranken­ver­si­che­rungs­beitrag wie Mitglieder ohne Kinder belastet werden. In Ansehung der die Ausgestaltung der gesetzlichen Kranken­ver­si­cherung tragenden Struk­tur­prin­zipien bestehen zwischen beitrags­pflichtigen Eltern und Kinderlosen allerdings gleich­heits­rechtlich relevante Unterschiede. Der in Familien mit Kindern bestehende mehrfache Bedarf an Kranken­ver­si­che­rungs­schutz zieht erhöhten Unter­halts­aufwand nach sich, den Eltern in Ermangelung einer beitragsfreien Famili­en­ver­si­cherung durch eigene Beiträge abdecken müssten. Diesen Unter­halts­mehr­aufwand hat der Gesetzgeber durch Schaffung der beitragsfreien Famili­en­ver­si­cherung im System der gesetzlichen Kranken­ver­si­cherung selbst im Wege faktischer Beitrag­s­ent­lastung anerkannt. Es fehlt allerdings an einer Benachteiligung, weil der wirtschaftliche Erzie­hungs­aufwand durch die beitragsfreie Famili­en­ver­si­cherung und die sie flankierenden kinderbezogenen Leistungen nicht nur anerkannt, sondern schon im System hinreichend kompensiert wird. Leistungen zur Behandlung von Krankheiten und zur gesund­heit­lichen Vorsorge werden – anders als pflegebezogene Leistungen – in erheblichem Umfang auch schon in Kindheit und Jugend in Anspruch genommen. Hierbei und auch bei dem diesen Leistungen zu Grunde liegenden Versi­che­rungs­schutz handelt es sich um einen in der Phase der Kindererziehung und -betreuung wirtschaftlich spürbaren Vorteil. Das Ausmaß dieses Vorteils lässt sich nicht mit dem Argument in Zweifel ziehen, dass beitrags­pflichtige Eltern mehr in das Umlagesystem der gesetzlichen Kranken­ver­si­cherung einzahlen, als sie und ihre mitversicherten Angehörigen an Versi­che­rungs­leis­tungen in Anspruch nehmen. Sie befinden sich insoweit in keiner anderen Lage als kinderlose erwerbstätige Beitrags­zah­le­rinnen und Beitragszahler, bei denen die Differenz zwischen eigenen Beitrags­zah­lungen und in Anspruch genommenen Leistungen vielfach noch größer ausfällt und die mit ihren Beiträgen solidarisch die beitragsfreie Mitversicherung dadurch mitfinanzieren, dass – würden Kinderlose von einem entsprechenden Beitragsanteil freigestellt – beitrags­pflichtige Eltern höhere Beiträge zu entrichten hätten.

Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/ab)

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