23.11.2024
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Bundesgerichtshof Beschluss08.02.2017

BGH zum Abbruch lebens­er­hal­tender Maßnahmen bei bindender Patien­ten­ver­fügungUmschreibende Festlegung des Willen in bestimmten Lebens- und Behand­lungs­si­tua­tionen

Eine bindende Patien­ten­ver­fügung im Zusammenhang mit dem Abbruch von lebens­er­hal­tenden Maßnahmen muss bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Mit diesen Anforderungen musste sich der Bundes­ge­richtshof erneut befassen.

Im vorliegenden Fall erlitt die im Jahr 1940 geborene Betroffene im Mai 2008 einen Schlaganfall und befindet sich seit einem hypoxisch bedingten Herz-Kreis­lauf­stillstand im Juni 2008 in einem wachkomatösen Zustand. Sie wird seitdem über eine Magensonde künstlich ernährt und mit Flüssigkeit versorgt.

1998 "Patien­ten­ver­fügung" mit Unterlassen von lebens­ver­län­gernden Maßnahmen unterzeichnet

Bereits im Jahr 1998 hatte die Betroffene ein mit "Patien­ten­ver­fügung" betiteltes Schriftstück unterschrieben. In diesem war niedergelegt, dass unter anderem dann, wenn keine Aussicht auf Wiedererlangung des Bewusstseins besteht, oder aufgrund von Krankheit oder Unfall ein schwerer Dauerschaden des Gehirns zurückbleibe, "lebens­ver­län­gernde Maßnahmen unterbleiben" sollten.

Mehrfache Wunschäußerung gegenüber Familien­an­ge­hörigen

Zu nicht genauer festgestellter Zeit zwischen 1998 und ihrem Schlaganfall hatte die Betroffene mehrfach gegenüber verschiedenen Familien­an­ge­hörigen und Bekannten angesichts zweier Wachkoma-Patienten aus ihrem persönlichen Umfeld geäußert, sie wolle nicht künstlich ernährt werden, sie wolle nicht so am Leben erhalten werden, sie wolle nicht so daliegen, lieber sterbe sie. Sie habe aber durch eine Patientenverfügung vorgesorgt, das könne ihr nicht passieren.

Patientin äußert Sterbenswunsch

Im Juni 2008 erhielt die Betroffene in der Zeit zwischen dem Schlaganfall und dem späteren Herz-Kreis­lauf­stillstand einmalig die Möglichkeit, trotz Trachealkanüle zu sprechen. Bei dieser Gelegenheit sagte sie ihrer Therapeutin: "Ich möchte sterben." Unter Vorlage der Patien­ten­ver­fügung von 1998 regte der Sohn der Betroffenen im Jahr 2012 an, ihr einen Betreuer zu bestellen. Das Amtsgericht bestellte daraufhin den Sohn und den Ehemann der Betroffenen zu jeweils allein­ver­tre­tungs­be­rech­tigten Betreuern.

Ehemann lehnt Einstellung lebens­er­haltener Maßnahmen ab

Der Sohn der Betroffenen ist, im Einvernehmen mit dem bis dahin behandelnden Arzt, seit 2014 der Meinung, die künstliche Ernährung und Flüssig­keits­zufuhr solle eingestellt werden, da dies dem in der Patien­ten­ver­fügung niedergelegten Willen der Betroffenen entspreche. Ihr Ehemann lehnt dies ab.

Amtsgericht und Landgericht entscheiden ebenfalls gegen Antrag

Das Amtsgericht hat den Antrag der durch ihren Sohn vertretenen Betroffenen auf Genehmigung der Einstellung der künstlichen Ernährung und Flüssig­keits­zufuhr abgelehnt. Das Landgericht hat die dagegen gerichtete Beschwerde der Betroffenen zurückgewiesen. Auf die Rechts­be­schwerden der Betroffenen und ihres Sohnes hat der Bundes­ge­richtshof die angefochtene Entscheidung aufgehoben und das Verfahren an das Landgericht zurückverwiesen. Der vom Sohn der Betroffenen beabsichtigte Widerruf der Einwilligung in die mit Hilfe einer PEG-Magensonde ermöglichten künstlichen Ernährung nach § 1904 Abs. 2 BGB* bedarf grundsätzlich der betreu­ungs­ge­richt­lichen Genehmigung, wenn - wie hier - durch den Abbruch der Maßnahme die Gefahr des Todes droht. Eine betreu­ungs­ge­richtliche Genehmigung nach § 1904 Abs. 2 BGB ist jedoch dann nicht erforderlich, wenn der Betroffene einen entsprechenden eigenen Willen bereits in einer bindenden Patien­ten­ver­fügung nach § 1901 a Abs. 1 BGB** niedergelegt hat und diese auf die konkret eingetretene Lebens- und Behand­lungs­si­tuation zutrifft. Eine schriftliche Patien­ten­ver­fügung im Sinne des § 1901 a Abs. 1 BGB entfaltet aber nur dann unmittelbare Bindungswirkung, wenn ihr konkrete Entscheidungen des Betroffenen über die Einwilligung oder Nicht­ein­wil­ligung in bestimmte, bei Abfassung der Patien­ten­ver­fügung noch nicht unmittelbar bevorstehende ärztliche Maßnahmen entnommen werden können. Dabei dürfen die Anforderungen an die Bestimmtheit einer Patien­ten­ver­fügung aber auch nicht überspannt werden. Vorausgesetzt werden kann nur, dass der Betroffene umschreibend festlegt, was er in einer bestimmten Lebens- und Behand­lungs­si­tuation will und was nicht.

BGH präzisiert bisherige Rechtsprechung

Zur erforderlichen Bestimmtheit der Patien­ten­ver­fügung hatte der Bundes­ge­richtshof bereits in seinem Beschluss vom 6. Juli 2016 (XII ZB 61/16) entschieden, dass zwar die Äußerung, "keine lebens­er­hal­tenden Maßnahmen" zu wünschen für sich genommen keine hinreichend konkrete Behand­lungs­ent­scheidung enthält, die erforderliche Konkretisierung aber gegebenenfalls durch die Benennung bestimmter ärztlicher Maßnahmen oder die Bezugnahme auf ausreichend spezifizierte Krankheiten oder Behand­lungs­si­tua­tionen erfolgen kann. Diese Rechtsprechung hat der Bundes­ge­richtshof nun weiter präzisiert und ausgesprochen, dass sich die erforderliche Konkretisierung im Einzelfall auch bei einer weniger detaillierten Benennung bestimmter ärztlicher Maßnahmen durch die Bezugnahme auf ausreichend spezifizierte Krankheiten oder Behand­lungs­si­tua­tionen ergeben kann. Ob in solchen Fällen eine hinreichend konkrete Patien­ten­ver­fügung vorliegt, ist dann durch Auslegung der in der Patien­ten­ver­fügung enthaltenen Erklärungen zu ermitteln.

Beschwer­de­gericht muss erneut entscheiden

Auf dieser rechtlichen Grundlage hat der Bundes­ge­richtshof die angefochtene Entscheidung aufgehoben, weil das Beschwer­de­gericht sich nicht ausreichend mit der Frage befasst hat, ob sich der von der Betroffenen errichteten Patien­ten­ver­fügung eine wirksame Einwilligung in den Abbruch der künstlichen Ernährung und Flüssig­keits­ver­sorgung entnehmen lässt. Denn die Betroffene hat in der Patien­ten­ver­fügung ihren Willen zu der Behand­lungs­si­tuation u. a. an die medizinisch eindeutige Voraussetzung geknüpft, dass bei ihr keine Aussicht auf Wiedererlangung des Bewusstseins besteht. Zudem hat sie die ärztlichen Maßnahmen, die sie u.a. in diesem Fall wünscht oder ablehnt, durch die Angabe näher konkretisiert, dass Behandlung und Pflege auf Linderung von Schmerzen, Unruhe und Angst gerichtet sein sollen, selbst wenn durch die notwendige Schmerz­be­handlung eine Lebens­ver­kürzung nicht auszuschließen ist. Diese Festlegungen in der Patien­ten­ver­fügung könnten dahingehend auszulegen sein, dass die Betroffene im Falle eines aus medizinischer Sicht irreversiblen Bewusst­seins­verlusts wirksam in den Abbruch der künstlichen Ernährung eingewilligt hat. Ob der derzeitige Gesund­heits­zustand der Betroffenen im Wachkoma auf diese konkret bezeichnete Behand­lungs­si­tuation zutrifft, hat das Beschwer­de­gericht bislang nicht festgestellt. Dies wird es nachholen müssen.

Patientenwillen am Ende entscheidend

Sollte das Beschwer­de­gericht zu dem Ergebnis gelangen, dass der derzeitige Gesund­heits­zustand der Betroffenen nicht den Festlegungen der Patien­ten­ver­fügung entspricht, wird es erneut zu prüfen haben, ob ein Abbruch der künstlichen Ernährung dem mutmaßlichen Willen der Betroffenen entspricht. Dieser ist anhand konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln, insbesondere anhand früherer mündlicher oder schriftlicher Äußerungen, ethischer oder religiöser Überzeugungen oder sonstiger persönlicher Wertvor­stel­lungen der Betroffenen. Entscheidend ist dabei, wie die Betroffene selbst entschieden hätte, wenn sie noch in der Lage wäre, über sich selbst zu bestimmen.

Erläuterungen

Die maßgeblichen Normen lauten wie folgt:

* § 1904 BGB Genehmigung des Betreu­ungs­ge­richts bei ärztlichen Maßnahmen

(1) Die Einwilligung des Betreuers in eine Untersuchung des Gesund­heits­zu­stands, eine Heilbehandlung oder einen ärztlichen Eingriff bedarf der Genehmigung des Betreu­ungs­ge­richts, wenn die begründete Gefahr besteht, dass der Betreute auf Grund der Maßnahme stirbt oder einen schweren und länger dauernden gesund­heit­lichen Schaden erleidet. Ohne die Genehmigung darf die Maßnahme nur durchgeführt werden, wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist.

(2) Die Nicht­ein­wil­ligung oder der Widerruf der Einwilligung des Betreuers in eine Untersuchung des Gesund­heits­zu­stands, eine Heilbehandlung oder einen ärztlichen Eingriff bedarf der Genehmigung des Betreu­ungs­ge­richts, wenn die Maßnahme medizinisch angezeigt ist und die begründete Gefahr besteht, dass der Betreute auf Grund des Unterbleibens oder des Abbruchs der Maßnahme stirbt oder einen schweren und länger dauernden gesund­heit­lichen Schaden erleidet.

(3) Die Genehmigung nach den Absätzen 1 und 2 ist zu erteilen, wenn die Einwilligung, die Nicht­ein­wil­ligung oder der Widerruf der Einwilligung dem Willen des Betreuten entspricht.

(4) Eine Genehmigung nach den Absätzen 1 und 2 ist nicht erforderlich, wenn zwischen Betreuer und behandelndem Arzt Einvernehmen darüber besteht, dass die Erteilung, die Nichterteilung oder der Widerruf der Einwilligung dem nach § 1901 a festgestellten Willen des Betreuten entspricht.

(5) Die Absätze 1 bis 4 gelten auch für einen Bevoll­mäch­tigten. Er kann in eine der in Absatz 1 Satz 1 oder Absatz 2 genannten Maßnahmen nur einwilligen, nicht einwilligen oder die Einwilligung widerrufen, wenn die Vollmacht diese Maßnahmen ausdrücklich umfasst und schriftlich erteilt ist.

** § 1901 a BGB Patien­ten­ver­fügung

(1) Hat ein einwil­li­gungs­fähiger Volljähriger für den Fall seiner Einwil­li­gungs­un­fä­higkeit schriftlich festgelegt, ob er in bestimmte, zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht unmittelbar bevorstehende Untersuchungen seines Gesund­heits­zu­stands, Heilbe­hand­lungen oder ärztliche Eingriffe einwilligt oder sie untersagt (Patien­ten­ver­fügung), prüft der Betreuer, ob diese Festlegungen auf die aktuelle Lebens- und Behand­lungs­si­tuation zutreffen. Ist dies der Fall, hat der Betreuer dem Willen des Betreuten Ausdruck und Geltung zu verschaffen. Eine Patien­ten­ver­fügung kann jederzeit formlos widerrufen werden.

(2) Liegt keine Patien­ten­ver­fügung vor oder treffen die Festlegungen einer Patien­ten­ver­fügung nicht auf die aktuelle Lebens- und Behand­lungs­si­tuation zu, hat der Betreuer die Behand­lungs­wünsche oder den mutmaßlichen Willen des Betreuten festzustellen und auf dieser Grundlage zu entscheiden, ob er in eine ärztliche Maßnahme nach Absatz 1 einwilligt oder sie untersagt. Der mutmaßliche Wille ist aufgrund konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln. Zu berücksichtigen sind insbesondere frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen, ethische oder religiöse Überzeugungen und sonstige persönliche Wertvor­stel­lungen des Betreuten.

(3) Die Absätze 1 und 2 gelten unabhängig von Art und Stadium einer Erkrankung des Betreuten.

(4) Niemand kann zur Errichtung einer Patien­ten­ver­fügung verpflichtet werden. Die Errichtung oder Vorlage einer Patien­ten­ver­fügung darf nicht zur Bedingung eines Vertrags­schlusses gemacht werden.

(5) Die Absätze 1 bis 3 gelten für Bevollmächtigte entsprechend

Quelle: Bundesgerichtshof/ ra-online

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