In dem zugrunde liegenden Fall ging eine verheirate Frau mit einem Mann eine Affäre ein. Diese ging von Mai 2002 bis Oktober 2003. Im Juni 2003 wurde die Frau schwanger und gebar daraufhin im März 2004 einen Sohn. Der Mann war nunmehr der Meinung er sei der Vater des Kindes und verlangte ein Umgangsrecht. Da ihm dies von der Frau verweigert wurde, strengte er ein Gerichtsverfahren an. Sein Antrag auf Umgang mit dem Kind wurde aber sowohl vom Amtsgericht Fulda als auch vom Oberlandesgericht Frankfurt am Main mit Beschluss vom 9. Februar 2006 zurückgewiesen. Im September 2006 erhob er vor dem Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde, welche aber erfolglos blieb. Er legte daher beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Individualbeschwerde ein. Der EGMR bejahte im September 2011 eine Verletzung des Art. 8 EMRK und verurteilte Deutschland unter anderem zur Zahlung eines Schadenersatzes von 5.000 Euro. Aufgrund des Urteils des EGMR beantragte der Vater des Kindes nunmehr die Wideraufnahme des Umgangsverfahrens.
Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hielt die Wiederaufnahme des Umgangsverfahrens gemäß § 580 Nr. 8 ZPO für zulässig und gab dem Antrag des Kindsvaters daher statt. Der Wiederaufnahme habe nicht der § 35 EGZPO entgegengestanden, wonach Verfahren die vor dem 31. Dezember 2006 rechtskräftig abgeschlossen wurden, nicht wiederaufgenommen werden dürfen. Zwar sei das Umgangsverfahren mit Beschluss vom 9. Februar 2006 zumindest formell rechtskräftig abgeschlossen worden, jedoch sei zu beachten gewesen, dass Entscheidungen in Kindschaftssachen eine Dauerwirkung entfalten. Da sie gemäß § 1696 BGB jederzeit abänderbar seien, können sie nicht materiell rechtskräftig werden. Die Fürsorge gegenüber einem minderjährigen Kind habe stets Vorrang vor der Endgültigkeit einer getroffenen Entscheidung. Zudem habe nicht außer Acht bleiben dürfen, dass Deutschland seine völkerrechtlichen Verpflichtungen nachkommen muss. Wozu auch die Beachtung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der dazugehörigen Entscheidungen des EGMR gehören. Gegen diese Entscheidung legte die Mutter des Kindes Rechtsbeschwerde ein.
Der Bundesgerichtshof entschied zu Gunsten der Kindsmutter und hob daher die Entscheidung der Vorinstanz auf. Die Wiederaufnahme des Umgangsverfahrens gemäß § 580 Nr. 8 ZPO habe entgegenstanden, dass das Verfahren vor dem 31. Dezember 2006 abgeschlossen war. § 35 EGZPO gelte auch für das Umgangsverfahren. Unerheblich sei dabei, dass Entscheidungen im Umgangsrecht nicht materiell rechtskräftig werden.
Die formelle Rechtskraft des Umgangsverfahrens habe der Wiederaufnahme entgegengestanden, so der Bundesgerichtshof weiter. Formell rechtskräftig sei das Umgangsverfahren durch die Entscheidung im Februar 2006 und somit vor dem 31. Dezember 2006 geworden. Unerheblich sei in diesem Zusammenhang die Verfassungs- und Individualbeschwerde gewesen, da diese die formelle Rechtskraft nicht verzögert haben. Vielmehr setzen beide Beschwerden die Rechtskraft der angegriffenen Entscheidung voraus.
Darüber hinaus sei nach Ansicht des Bundesgerichtshofs zu berücksichtigen gewesen, dass ohne die Vorschrift des § 35 EGZPO die Gefahr eines Eingriffs in bereits abgeschlossene Sachverhalte besteht. Eine solche rückwirkenden Anwendung der neuen Vorschrift des § 580 Nr. 8 ZPO sei aber unzulässig.
Der Bundesgerichtshof sah in der Ablehnung der Wiederaufnahme auch keinen Verstoß gegen völkerrechtliche Verpflichtungen. Insofern verwies der Gerichtshof darauf, dass die Einführung des Wiederaufnahmegrundes nach § 580 Nr. 8 ZPO weder aufgrund der Rechtsprechung des EGMR noch wegen der EMRK verpflichtend war. Somit sei es nicht zu beanstanden gewesen, den nicht zwingend erforderlichen Wiederaufnahmegrund einzuschränken.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 25.07.2014
Quelle: Bundesgerichtshof, ra-online (vt/rb)