22.11.2024
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Dokument-Nr. 11993

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Urteil19.07.2011BundesgerichtshofIV ZR 76/09, IV ZR 46/09 und IV ZR 86/09
Vorinstanzen:
  • Landgericht Karlsruhe, Urteil31.03.2008, 6 O 29/07, 6 O 38/07 und 6 O 34/07
  • Oberlandesgericht Karlsruhe, Urteil03.03.2009, 12 U 96/08, 12 U 102/08 und 12 U 81/08
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Bundesgerichtshof Urteil19.07.2011

BGH: Erhebung von Sanie­rungs­geldern durch Versor­gungs­anstalt des Bundes und der Länder zulässigKein Verstoß gegen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG durch Verteilung und Berechnung der Sanie­rungs­gelder

Die Versor­gungs­anstalt des Bundes und der Länder (VBL) hat zu Recht von an ihr beteiligten Arbeitgebern so genannte Sanie­rungs­gelder gefordert. Dies entschied der Bundes­ge­richtshof.

Im zugrunde liegenden Fall hat die beklagte Versor­gungs­anstalt des Bundes und der Länder (VBL) nach dem Zweiten Weltkrieg die Funktion der im Februar 1929 errichteten Zusatz­ver­sor­gungs­anstalt des Reichs und der Länder (ZRL) übernommen. Sie hat die Aufgabe, den Angestellten und Arbeitern der an ihr beteiligten Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes im Wege privat­recht­licher Versicherung eine zusätzliche Alters-, Erwer­bs­min­derungs- und Hinter­blie­be­nen­ver­sorgung zu gewähren.

Änderung des Zusatz­ver­sor­gungs­systems

Mit Neufassung ihrer Satzung vom 22. November 2002 hat die Beklagte ihr Zusatz­ver­sor­gungs­system rückwirkend zum 31. Dezember 2001 umgestellt. Den Systemwechsel hatten die Tarif­ver­trags­parteien des öffentlichen Dienstes im Tarifvertrag Alterversorgung vom 1. März 2002 (ATV) vereinbart. Damit wurde das frühere - auf dem Versor­gung­s­ta­rif­vertrag vom 4. November 1966 (Versorgungs-TV) beruhende - endge­halts­be­zogene Gesamt­ver­sor­gungs­system aufgegeben und durch ein auf einem Punktemodell beruhendes Betrie­bs­ren­ten­system ersetzt.

VBL erhebt neben Umlagen pauschale Sanie­rungs­gelder zur Deckung eines zusätzlichen Finan­zie­rungs­bedarfs

Im Abrech­nungs­verband West, dem die Klägerin angehört, werden die Aufwendungen der Beklagten seit 1967 über ein modifiziertes Abschnitts­de­ckungs­ver­fahren (Umlageverfahren) finanziert. Der Umlagesatz ist so bemessen, dass die für die Dauer des Deckungs­ab­schnitts zu entrichtende Umlage zusammen mit den übrigen zu erwartenden Einnahmen und dem verfügbaren Vermögen der Beklagten für die Ausgaben während des Deckungs­ab­schnitts sowie der darauf folgenden sechs Monate ausreicht. Nach § 65 VBLS n.F. erhebt die Beklagte im Abrech­nungs­verband West ab dem 1. Januar 2002 neben Umlagen pauschale Sanie­rungs­gelder zur Deckung eines zusätzlichen Finan­zie­rungs­bedarfs. Die Einführung des Sanie­rungs­geldes geht auf den Tarifvertrag Alters­vor­sor­geplan 2001 vom 13. November 2001 (AVP) und den ATV zurück.

Kläger halten Berechnung entrichteter Sanie­rungs­gelder für fehlerhaft

Die Kläger entrichteten jeweils auf Anforderung der Beklagten für die Jahre 2002 und 2003 Sanie­rungs­gelder und fordern diese Beträge mit der Begründung zurück, es fehle an einer wirksamen Rechtsgrundlage für die Erhebung der Sanie­rungs­gelder. Sie meinen, die Beklagte sei als Anstalt des öffentlichen Rechts unter Missachtung des Geset­zes­vor­behalts und daher nicht wirksam errichtet worden. Bereits deshalb sei § 65 VBLS n.F. rechtswidrig und könne keine Grundlage für die Anforderung der Sanie­rungs­gelder darstellen. Weiterhin beanstanden die Kläger, dass die Vorgaben im AVP und im ATV in § 65 VBLS n.F. nicht inhaltsgleich umgesetzt worden seien und die Berechnung der Sanie­rungs­gelder fehlerhaft sei. Ohnehin könnten in der Satzung der Beklagten übernommene Vereinbarungen der Tarif­ver­trags­parteien für sie als sonstige, nicht tarifgebundene Beteiligte nicht maßgeblich sein.

BGH bejaht Existenz der VBL als rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts

Die Vorinstanzen haben die Klagen abgewiesen. Die Revisionen der Kläger hatten keinen Erfolg. § 65 VBLS ist nicht mangels rechtlicher Existenz der Beklagten rechtswidrig. Diese ist zwar nicht durch ein Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes gegründet worden. Sie ist gleichwohl als rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts existent, weil sie die vor Inkrafttreten des Grundgesetzes wirksam errichtete ZRL fortführt. Im Übrigen hat das Berufungs­gericht zu Recht die Beklagte unabhängig von etwaigen Gründungs­mängeln entsprechend der Lehre vom fehlerhaften Verband als existent angesehen. Danach ist eine fehlerhaft errichtete juristische Person des öffentlichen Rechts als wirksam entstanden zu behandeln, sobald sie - wie die Beklagte - im Rechtsverkehr aufgetreten und damit in Vollzug gesetzt worden ist.

Erhebung von Sanie­rungs­geldern verstößt weder gegen Gleichheitssatz noch gegen Gemein­schaftsrecht und insbesondere auch nicht gegen Regeln der Wettbe­wer­bs­freiheit

Durch die in § 65 VBLS enthaltenen Regelungen über Sanie­rungs­gelder werden beteiligte Arbeitgeber nicht i.S. des § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB unangemessen benachteiligt. § 65 VBLS ist einer Inhalts­kon­trolle nach den AGB-rechtlichen Maßstäben des BGB weitgehend entzogen, weil er auf einer - im ATV und im AVP getroffenen - maßgebenden Grund­ent­scheidung der Tarif­ver­trags­parteien basiert. Diese wirkt sich auch auf das Versi­che­rungs­ver­hältnis zwischen der Beklagten und den nicht tarifgebundenen sonstigen Beteiligten aus, die über ihre Betei­li­gungs­ver­ein­ba­rungen an das Satzungsrecht der Beklagten gebunden sind und dessen Überlagerung durch das Tarif­ver­tragsrecht hinnehmen müssen. Bei der Umsetzung und inhaltlichen Ausgestaltung von Grund­ent­schei­dungen genießt der Satzungsgeber eine weitgehende Gestal­tungs­freiheit, die die Gerichte grundsätzlich zu respektieren haben. Der gleichwohl gebotenen verfas­sungs­recht­lichen Überprüfung hält § 65 VBLS stand. Die Verteilung und Berechnung der Sanie­rungs­gelder verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Auch die aus dem Rechts­s­taats­prinzip folgenden Grundsätze des Vertrau­ens­schutzes und der Verhält­nis­mä­ßigkeit sind gewahrt. Schließlich widerspricht die Erhebung von Sanie­rungs­geldern nicht dem Gemein­schaftsrecht, insbesondere nicht den Regeln der Wettbe­wer­bs­freiheit nach Art. 101, 102 AEUV. Diese gelten nur für Unternehmen, nicht aber für Sozia­l­ver­si­che­rungs­systeme, die - wie die Beklagte - nach dem Grundsatz der Solidarität im Rahmen einer Umlage­fi­nan­zierung aufgebaut sind und nicht über eine hinreichende Autonomie verfügen.

Quelle: Bundesgerichtshof/ra-online

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