18.10.2024
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Bundesgerichtshof Urteil11.05.2017

Hausnot­ruf­system: Grobe Verletzung der Schutz- und Organisations­pflichten führt zur Umkehr der objektiven BeweislastUnternehmen ist zur unverzüglichen Vermittlung angemessener Hilfeleistungen verpflichtet

Der Bundes­ge­richtshof hatte sich mit der Frage zu befassen, ob bei grober Verkennung eines akuten medizinischen Notfalls im Rahmen eines Hausnot­ruf­vertrags eine Umkehr der Beweislast zugunsten des geschädigten Vertrags­partners eingreift und diese Frage im Ergebnis bejaht.

Dem Verfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Klägerinnen sind die Töchter und Erbinnen des während des Berufungs­ver­fahrens verstorbenen vormaligen Klägers (im Folgenden: Kläger). Sie nehmen den Beklagten auf Schadensersatz und Schmerzensgeld im Zusammenhang mit einem Hausnot­ruf­vertrag in Anspruch.

Der 1934 geborene Kläger und der Beklagte schlossen 2010 einen "Dienst­leis­tungs­vertrag zur Teilnahme am Hausnotruf". § 1 Abs. 2 des Vertrags lautet wie folgt:

Erläuterungen
"Das Hausnotrufgerät wird an eine ständig besetzte Zentrale angeschlossen. Von dieser Zentrale wird im Fall eines Notrufs unverzüglich eine angemessene Hilfeleistung vermittelt (z.B. durch vereinbarte Schlüs­se­l­adressen, Rettungsdienst, Hausarzt, Schlüsseldienst)."

Dem Vertrag war ein Erhebungsbogen beigefügt, aus dem sich multiple Erkrankungen des Klägers ergaben (Arthrose, Atemnot, chronische Bronchitis, Herzrhyth­muss­tö­rungen, Diabetes mellitus). Außerdem litt er an arteriellem Hypertonus und Makro­an­gio­pathie. Es bestand ein stark erhöhtes Schlag­an­fa­ll­risiko. Bis April 2012 lebte er allein in einer Wohnung in einem Senio­ren­wohnheim bei Pflegestufe 2.

Angestellte der Beklagten lassen Notfa­ll­pa­tienten ohne Veranlassung ärztlicher Versorgung in der Wohnung zurück

Am 9. April 2012 betätigte der Kläger den Notruf zur Zentrale des Beklagten. Der den Anruf entge­gen­nehmende Mitarbeiter des Beklagten vernahm minutenlang lediglich ein Stöhnen. Mehrere Versuche, den Kläger telefonisch zu erreichen, scheiterten. Der Beklagte veranlasste daraufhin, dass ein Mitarbeiter eines Sicher­heits­dienstes (Streithelferin) sich zu der Wohnung des Klägers begab. Der Mitarbeiter fand diesen am Boden liegend vor. Es gelang ihm nicht, den übergewichtigen Kläger aufzurichten. Nach Hinzuziehung eines weiteren Bediensteten der Streithelferin konnte der Kläger schließlich mit vereinten Kräften auf eine Couch gesetzt werden. Sodann ließen ihn die beiden Angestellten der Streithelferin allein in der Wohnung zurück, ohne eine ärztliche Versorgung zu veranlassen. Am 11. April 2012 wurde der Kläger von Angehörigen des ihn versorgenden Pflegedienstes in der Wohnung liegend aufgefunden und mit einer Halbsei­ten­lähmung sowie einer Aphasie (Sprachstörung) in eine Klinik eingeliefert, wo ein nicht mehr ganz frischer, wahrscheinlich ein bis drei Tage zurückliegender Schlaganfall diagnostiziert wurde.

Schlaganfall hätte nach Auffassung der Kläger verhindert werden können

Der Kläger hat behauptet, er habe gegen Mittag des 9. April 2012 einen Schlaganfall erlitten. Dessen gravierende Folgen wären vermieden worden, wenn der den Notruf entge­gen­nehmende Mitarbeiter des Beklagten einen Rettungswagen mit medizinisch qualifizierten Rettungskräften geschickt hätte.

Vorinstanzen weisen Klage ab

Das Landgericht Berlin wies die auf Zahlung von Schadensersatz und eines angemessenen Schmer­zens­geldes (mindestens 40.000 Euro) sowie auf Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für alle weiteren materiellen und immateriellen Schäden gerichtete Klage ab. Die dagegen gerichtete Berufung war erfolglos. Mit ihrer vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgen die Klägerinnen das Klagebegehren weiter.

BGH bejaht grobe Vernach­läs­sigung der obliegenden Schutz- und Organi­sa­ti­o­ns­pflichten seitens der Beklagten

Der Bundes­ge­richtshofs entschied, dass der Beklagte die ihm nach dem Hausnot­ruf­vertrag obliegenden Schutz- und Organi­sa­ti­o­ns­pflichten grob vernachlässigt hat und deshalb eine Beweislastumkehr zugunsten des geschädigten Vertrags­partners eingreift, soweit es um die Frage geht, ob die schwerwiegenden Folgen des Schlaganfalls auch bei rechtzeitiger Hinzuziehung eines Rettungs­dienstes eingetreten wären. Bei dem Hausnot­ruf­vertrag handelt es sich um einen Dienstvertrag im Sinne des § 611 BGB. Der Beklagte schuldete keinen Erfolg etwaiger Rettungs­maß­nahmen. Er war allerdings verpflichtet, unverzüglich eine angemessene Hilfeleistung zu vermitteln.

Vorliegen eines medizinischen Notfalls deutlich erkennbar

Im konkreten Fall drängte sich das Vorliegen eines akuten medizinischen Notfalls auf. Aufgrund der Betätigung der Notruftaste und des Verhaltens des Klägers nach Annahme des Rufs in der Zentrale des Beklagten war deutlich, dass medizinische Hilfe benötigt wurde. Der Kläger war zu einer verständlichen Artikulation offensichtlich nicht mehr in der Lage, so dass der Mitarbeiter des Beklagten minutenlang nur noch ein Stöhnen wahrnahm. Versuche, ihn telefonisch zu erreichen, scheiterten mehrfach. Aus dem Erhebungsbogen zu dem Notrufvertrag war den Bediensteten des Beklagten bekannt war, dass der 78-jährige Kläger an schwerwiegenden, mit Folgerisiken verbundenen Vorerkrankungen litt. In einer dermaßen dramatischen Situation stellte die Entsendung eines medizinisch nicht geschulten, lediglich in Erster Hilfe ausgebildeten Mitarbeiters eines Sicher­heits­dienstes zur Abklärung der Situation keine "angemessene Hilfeleistung" im Sinne des Hausnot­ruf­vertrags dar.

BGH wendet Vorgaben zur Beweis­la­st­umkehr im Arzthaf­tungsrecht analog an

Grundsätzlich trägt der Geschädigte die Beweislast für die Pflicht­ver­letzung, die Schaden­s­ent­stehung und den Ursachen­zu­sam­menhang zwischen Pflicht­ver­letzung und Schaden. Im Arzthaf­tungsrecht führt allerdings ein grober Behand­lungs­fehler, der geeignet ist, einen Schaden der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen, regelmäßig zur Umkehr der objektiven Beweislast für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Behand­lungs­fehler und dem Gesund­heits­schaden. Wegen der Vergleich­barkeit der Interessenlage gilt dies entsprechend bei grober Verletzung sonstiger Berufs- oder Organi­sa­ti­o­ns­pflichten, sofern diese, ähnlich wie beim Arztberuf, dem Schutz von Leben und Gesundheit anderer dienen. Der Senat hat keine Bedenken, diese Beweis­grundsätze auf den vorliegenden Fall anzuwenden. Der von dem Beklagten angebotene Hausnot­ruf­vertrag bezweckte in erster Linie den Schutz von Leben und Gesundheit der zumeist älteren und pflege­be­dürftigen Teilnehmer. Der den Notruf entge­gen­nehmende Mitarbeiter des Beklagten hat die diesem obliegenden vertraglichen Schutz- und Organi­sa­ti­o­ns­pflichten grob verletzt. Durch diese Nachlässigkeit wurden erhebliche Aufklä­rungs­er­schwernisse in das Geschehen hineingetragen. Die Beweissituation ist für den Kläger beziehungsweise seine Rechts­nach­fol­ge­rinnen gerade dadurch erheblich verschlechtert worden, dass der Beklagte gegen die ihm nach dem Hausnot­ruf­vertrag obliegenden Kardi­na­l­pflichten gravierend verstoßen hat und der Kläger infolgedessen bis zur Einlieferung in die Klinik am 11. April 2012 gänzlich unversorgt allein in seiner Wohnung lag.

Verletzt der Schuldner eine Pflicht aus dem Schuld­ver­hältnis, so kann der Gläubiger Ersatz des hierdurch entstehenden Schadens verlangen. Dies gilt nicht, wenn der Schuldner die Pflicht­ver­letzung nicht zu vertreten hat.

(1) Der Schuldner hat Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten, wenn eine strengere oder mildere Haftung weder bestimmt noch aus dem sonstigen Inhalt des Schuld­ver­hält­nisses, insbesondere aus der Übernahme einer Garantie oder eines Beschaf­fungs­risikos, zu entnehmen ist. [...]

(2) Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt.

(1) Durch den Dienstvertrag wird derjenige, welcher Dienste zusagt, zur Leistung der versprochenen Dienste, der andere Teil zur Gewährung der vereinbarten Vergütung verpflichtet.

(2) Gegenstand des Dienstvertrags können Dienste jeder Art sein.

Quelle: Bundesgerichtshof/ra-online

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