21.11.2024
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Dokument-Nr. 16811

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Urteil20.09.2013BundesgerichtshofIII ZR 405/12; III ZR 406/12; III ZR 407/12; III ZR 408/12;
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • NJW 2014, 67Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2014, Seite: 67
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Vorinstanzen:
  • Landgericht Karlsruhe, Urteil24.04.2012, 2 O 330/11, 2 O 278/11, 2 O 316/11, 2 O 279/11
  • Oberlandesgericht Karlsruhe, Urteil29.11.2012, 12 U 62/12, 12 U 60/12, 12 U 63/12, 12 U 61/12
ergänzende Informationen

Bundesgerichtshof Urteil20.09.2013

BGH: Ex-Siche­rungs­ver­wahrte haben Anspruch auf EntschädigungImmaterieller Schadensersatz wegen nachträglich verlängerter Sicherungs­verwahrung

Der Bundes­ge­richtshof hat auf der Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundes­verfas­sungs­ge­richts entschieden, dass das Land Baden-Württemberg vier Straftätern Schadensersatz wegen nachträglich verlängerter Sicherungs­verwahrung zahlen muss.

Dem vorzuliegenden Fall liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Die Kläger waren zwischen 1977 und 1986 durch Urteile baden-württem­ber­gischer Landgerichte zu langjährigen Freiheits­s­trafen (von fünf bis fünfzehn Jahren) verurteilt worden. Den Verurteilungen lagen jeweils schwere Straftaten zugrunde, insbesondere solche gegen die sexuelle Selbst­be­stimmung. In allen Fällen hatte das Gericht anschließende Sicherungsverwahrung angeordnet. Diese wurde nach Verbüßung der Strafhaft in der Justiz­voll­zugs­anstalt Freiburg vollzogen.

Geset­ze­s­än­derung zur Dauer der Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung

Nach der im Zeitpunkt der Verurteilung der Kläger geltenden Fassung des § 67 d Abs. 1, Abs. 3 StGB durfte die Dauer der erstmaligen Unterbringung in der Siche­rungs­ver­wahrung zehn Jahre nicht übersteigen; nach Ablauf dieser Höchstfrist war der Untergebrachte zu entlassen. Durch das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl. I S. 160) wurde diese Regelung geändert. Die Höchstfrist von zehn Jahren entfiel; § 67 d Abs. 3 StGB bestimmte nunmehr, dass nach Ablauf von zehn Jahren das Gericht die Siche­rungs­ver­wahrung für erledigt erklärt, "wenn nicht die Gefahr besteht, dass der Untergebrachte infolge seines Hanges erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden". Diese Bestimmung galt auch für Altfälle, d.h. für Straftäter, die ihre Tat vor Verkündung und Inkrafttreten des Gesetzes begangen hatten und vor diesem Zeitpunkt verurteilt worden waren.

LG Freiburg: Fortdauer der Siche­rungs­ver­wahrung aufgrund Wieder­ho­lungs­risikos

Aufgrund der Gesetzesänderung wurden die Kläger nicht nach Ablauf der Zehn-Jahresfrist aus der Siche­rungs­ver­wahrung entlassen. Vielmehr ordnete das Landgericht Freiburg (Straf­voll­stre­ckungs­kammer) - jeweils auf der Grundlage eingeholter Gutachten von Sachver­ständigen - in Abständen von zwei Jahren, zuletzt mit Beschlüssen im Dezember 2009 und August 2010 an, dass die Siche­rungs­ver­wahrung fortzudauern habe, da von den Klägern weiterhin ein Risiko ausgehe.

OLG Karlsruhe erklärte Siche­rungs­ver­wahrung als erledigt

Auf die jeweiligen sofortigen Beschwerden der Kläger hob das Oberlan­des­gericht Karlsruhe im Juli, September bzw. Oktober 2010 die angefochtenen Entscheidungen auf und stellte die Erledigung der Siche­rungs­ver­wahrung fest. Die Kläger wurden jeweils noch am gleichen Tag aus der Siche­rungs­ver­wahrung entlassen. Das Oberlan­des­gericht stützte seine Entscheidungen maßgeblich auf das im Rahmen eines Indivi­du­al­be­schwer­de­ver­fahrens eines anderen siche­rungs­ver­wahrten Straftäters ergangene Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) - V. Sektion - vom 17. Dezember 2009 (Beschwerde-Nr. 19359/04 = NJW 2010, 2495 = EuGRZ 2010, 25), wonach die Änderung des § 67 d Abs. 3 StGB mit Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Europäischen Menschen­rechts­kon­vention (EMRK) nicht vereinbar sei. Diese Entscheidung ist seit dem 10. Mai 2010 endgültig, nachdem ein Ausschuss der Großen Kammer den Antrag der Bundesregierung auf Verweisung an die Große Kammer nach Art. 43 Abs. 2 EMRK abgelehnt hat (Art. 44 Abs. 2 Buchst. c EMRK).

BVerfG: nachträgliche Verlängerung der Siche­rungs­ver­wahrung verfas­sungs­widrig

Mit Urteil vom 4. Mai 2011 (BVerfGE 128, 326) erklärte das Bundes­ver­fas­sungs­gericht die gesetzlichen Regelungen zur nachträglichen Verlängerung der Siche­rungs­ver­wahrung für verfas­sungs­widrig.

Kläger haben Anspruch auf Entschä­di­gungs­leistung

Die Kläger haben das beklagte Land auf Ersatz ihres immateriellen Schadens für die auch nach Ablauf der Zehn-Jahresfrist weiter vollzogene Siche­rungs­ver­wahrung in Anspruch genommen. Das Landgericht hat den Klägern - unter Abweisung der weiter gehenden Klagen - entsprechend der jeweiligen Dauer der nachträglich verlängerten Siche­rungs­ver­wahrung Entschädigungen in Höhe zwischen 49.000 Euro und 73.000 Euro nach Art. 5 Abs. 5 EMRK zuerkannt. Die Berufung des beklagten Landes ist in allen Fällen erfolglos geblieben.

BGH bestätigt Schaden­s­er­satz­ansprüche der Kläger

Der Bundes­ge­richtshof hat die Berufungs­urteile bestätigt. Nach Maßgabe der in den Entscheidungen des EGMR vom 17. Dezember 2009 und des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts vom 4. Mai 2011 aufgestellten Rechts­grundsätze mussten die Vorinstanzen davon ausgehen, dass die nachträgliche Verlängerung der Siche­rungs­ver­wahrung auch im Fall der Kläger rechtswidrig war und diesen ein Anspruch auf Schadensersatz zusteht. Denn Art. 5 Abs. 5 EMRK gewährt dem Betroffenen einen unmittelbaren Schaden­s­er­satz­an­spruch wegen rechtswidriger Freiheits­be­schrän­kungen durch die öffentliche Hand, der vom Verschulden der handelnden Amtsträger unabhängig ist und auch den Ersatz immateriellen Schadens umfasst. Deshalb spielte es keine Rolle, dass die mit der Verlängerung der Siche­rungs­ver­wahrung befassten Amtsträger keinerlei Schuldvorwurf trifft, da sie entsprechend dem klaren und eindeutigen Wortlaut der maßgeblichen Vorschriften des Straf­ge­setzbuchs und im Einklang mit der vormaligen höchst­rich­ter­lichen Rechtsprechung - das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hatte die Anwendung der streit­ge­gen­ständ­lichen Regelungen mit Urteil vom 5. Februar 2004 in Übereinstimmung mit der fachge­richt­lichen Rechtsprechung zunächst als rechtmäßig beurteilt - gehandelt haben.

Unmittelbarer Eingriff in das Freiheitsrecht der Kläger

Der Bundes­ge­richtshof ist der Argumentation des Beklagten nicht gefolgt, eine etwaige nach Art. 5 Abs. 5 EMRK zu leistende Entschädigung sei (nur) von der Bundesrepublik Deutschland, aber nicht vom Land Baden-Württemberg geschuldet, da die Strafgerichte des Landes aufgrund der objektiven, vom Bundes­ge­setzgeber durch das Gesetz vom 26. Januar 1998 geschaffenen Normenlage gar keine andere Wahl gehabt hätten, als die Fortsetzung der Siche­rungs­ver­wahrung auch nach Ablauf der früheren Höchstfrist anzuordnen. Denn im Rahmen der inner­staat­lichen Geltendmachung eines Schaden­s­er­satz­an­spruchs nach Art. 5 Abs. 5 EMRK ist der Hoheitsträger verantwortlich, dessen Hoheitsgewalt bei der rechtswidrigen Freiheits­ent­ziehung ausgeübt wurde. Der unmittelbare Eingriff in das Freiheitsrecht der Kläger ist hier jedoch durch die Beschlüsse der Straf­voll­stre­ckungs­kammer des Landgerichts Freiburg und deren anschließenden Vollzug in der Justiz­voll­zugs­anstalt Freiburg erfolgt.

Quelle: Bundesgerichtshof/ra-online

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