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Bundesgerichtshof Urteil04.04.2019

Zusammenbruch im Sportunterricht: Lehrer haben Pflicht zur rechtzeitigen und ordnungsgemäßen Durchführung erforderlicher und zumutbarer Erste-Hilfe-MaßnahmenHaftung für Amts­pflicht­verletzungen von Lehrkräften darf nicht nur bei grober Fahrlässigkeit und damit nur in Ausnahmefällen eintreten

Der Bundes­ge­richtshof hatte über Amts­haftungs­ansprüche eines (ehemaligen) Schülers wegen behauptet unzureichender Erste-Hilfe-Maßnahmen durch das Lehrpersonal des Landes Hessen anlässlich eines im Sportunterricht erlittenen Zusammenbruchs zu entscheiden. Der Bundes­ge­richtshof hob das vorangegangene Urteil des Oberlan­des­ge­richts Frankfurt am Main auf und wies die Sache an das Berufungs­gericht zurück. Der Bundes­ge­richtshof verwies in seiner Entscheidung aber darauf, dass den Sportlehrern die Amtspflicht obliege, erforderliche und zumutbare Erste-Hilfe-Maßnahmen rechtzeitig und in ordnungsgemäßer Weise durchzuführen. Eine Haftung für Amts­pflicht­verletzungen von Lehrkräften dürfe nicht nur bei grober Fahrlässigkeit und damit nur in Ausnahmefällen eintreten.

Dem Verfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der seinerzeit 18 Jahre alte Kläger war Schüler der Jahrgangsstufe 13 und nahm im Januar 2013 am Sportunterricht teil. Etwa fünf Minuten nach Beginn des Aufwärm­trainings hörte er auf zu laufen, stellte sich an die Seitenwand der Sporthalle, rutschte dort in eine Sitzposition und reagierte auf Ansprache nicht mehr. Um 15.27 Uhr ging der von der Sportlehrerin ausgelöste Notruf bei der Rettungs­lei­t­stelle ein. Die Lehrerin wurde gefragt, ob der Kläger noch atme. Sie befragte dazu ihre Schüler; die Antwort ist streitig. Sie erhielt sodann von der Leitstelle die Anweisung, den Kläger in die stabile Seitenlage zu verbringen. Der Rettungswagen traf um 15.32 Uhr, der Notarzt um 15.35 Uhr ein. Die Sanitäter und der Notarzt begannen sofort mit Wieder­be­le­bungs­maß­nahmen, die ungefähr 45 Minuten dauerten. Sodann wurde der intubierte und beatmete Kläger in eine Klinik verbracht. Im dortigen Bericht ist unter anderem vermerkt: "Beim Eintreffen des Notarztes bereits 8 minütige Bewusst­lo­sigkeit ohne jegliche Laien­re­a­ni­mation". Es wurde ein hypoxischer Hirnschaden nach Kammerflimmern diagnostiziert, wobei die Genese unklar war. Während der stationären Behandlung ergaben sich weitere - teils lebens­ge­fährliche - Erkrankungen. Seit Oktober 2013 ist der Kläger zu 100 % als Schwer­be­hin­derter anerkannt.

Schüler verlangt Schadensersatz

Der Kläger verlangte Schadensersatz mit der Begründung, dass sein gesund­heit­licher Zustand unmittelbare Folge des erlittenen hypoxischen Hirnschadens wegen mangelnder Sauer­stoff­ver­sorgung des Gehirns infolge unterlassener Reani­ma­ti­o­ns­maß­nahmen durch seine Sportlehrerin und einen weiteren herbeigerufenen Sportlehrer sei. Hätten diese im Rahmen der notfallmäßigen Erste-Hilfe-Versorgung eine Atemkontrolle und - angesichts des dabei festgestellten Atemstillstands - anschließend eine Reanimation durch Herzdruck­massage und Atemspende durchgeführt, wäre es nicht zu dem Hirnschaden gekommen.

Klage vor LG und OLG erfolglos

Das Landgericht wies die Klage nach Vernehmung von Zeugen ab. Die Berufung des Klägers hatte keinen Erfolg gehabt. Das Oberlan­des­gericht ließ dabei offen, ob die Sportlehrer nach dem Ergebnis der in erster Instanz durchgeführten Beweisaufnahme ihre Amtspflicht, erforderliche und zumutbare Erste-Hilfe-Maßnahmen zu leisten, verletzt haben. Denn es lasse sich jedenfalls nicht feststellen, dass sich ein etwa pflichtwidriges Unterlassen einer ausreichenden Kontrolle der Vitalfunktionen und etwaiger bis zum Eintreffen der Rettungskräfte gebotener Reani­ma­ti­o­ns­maß­nahmen kausal auf den Gesund­heits­zustand des Klägers ausgewirkt habe beziehungsweise dass der Zustand des Klägers auf eine massive Sauer­stof­fun­ter­ver­sorgung bis zum Eintreffen der Rettungskräfte zurückzuführen sei. Denn es könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Atmung des Klägers erst kurz vor dem Eintreffen der Rettungskräfte ausgesetzt habe oder dass selbst bei Durchführung einer bereits vorher gebotenen Reanimation der Kläger heute in gleicher Weise gesundheitlich beeinträchtigt wäre. Die Wertung des Landgerichts, wonach sich der Zeitpunkt, zu dem der Kläger aufgehört habe zu atmen, nicht verlässlich festlegen lasse, sodass auch nicht festgestellt werden könne, ab wann Wieder­be­le­bungs­maß­nahmen geboten gewesen wären, sei nicht zu beanstanden. Für die Einholung eines Sachver­stän­di­gen­gut­achtens fehle es an ausreichenden Anknüp­fung­s­tat­sachen. Dieses Beweisergebnis gehe zu Lasten des Klägers. Gegen das Berufungsurteil richtete sich die Revision des Klägers.

BGH weist Sache zurück an OLG

Der Bundes­ge­richtshof hob das Urteil des Oberlan­des­ge­richts auf und wies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungs­gericht zurück, da auf der Grundlage des bisherigen Sach- und Streitstandes ein Schaden­s­er­satz­an­spruch des Klägers nicht auszuschließen sei und es insoweit weiterer tatrich­ter­licher Feststellungen bedürfe.

Versäumnisse der Lehrkräfte als Ursächlichkeit für eingetretenen Hirnschaden müssen zweifelsfrei ausgeschlossen werden können

Das Berufungs­gericht habe die Frage, ob aufgrund der erstin­sta­nz­lichen Beweisaufnahme von einer schuldhaften Amtspflichtverletzung auszugehen sei, dahinstehen lassen. Revisi­ons­rechtlich sei deshalb zugunsten des Klägers zu unterstellen, dass die beteiligten Sportlehrer notwendige Erste-Hilfe-Maßnahmen pflichtwidrig unterlassen hätten. Hiervon ausgehend sei die Ablehnung des Beweisantrags des Klägers, ein Sachver­stän­di­gen­gut­achten zur Kausalität einzuholen, verfah­rens­feh­lerhaft. Der Antrag habe gerade darauf abgezielt, den Zeitpunkt des Atemstillstands festzustellen und insoweit auch die Behauptung des beklagten Landes zu widerlegen, wonach die Atmung erst unmittelbar vor dem Eintreffen der Rettungskräfte ausgesetzt habe, mithin der dennoch eingetretene Hirnschaden nicht auf das Verhalten der Lehrkräfte zurückzuführen sei. Bekannt (und unstreitig) seien insoweit die Art und die Dauer der von dem Rettungs­personal durchgeführten Wieder­be­le­bungs­maß­nahmen gewesen. Auch gehe aus dem vorgelegten Notarz­t­ein­satz­pro­tokoll detailliert hervor, welche Befunde (einschließlich der Sauer­stoff­kon­zen­tration im Blut) vor Ort bei dem Kläger erhoben wurden. Das Ausmaß des Hirnschadens sei ebenfalls dokumentiert. Es könne laut Bundes­ge­richtshof nicht ausgeschlossen werden, dass ein Sachver­ständiger anhand dieser Unterlagen in der Lage sein werde, weitere Aufklärung hinsichtlich der tatsächlichen Gesche­hens­a­bläufe und damit letztlich in Bezug auf die zwischen den Parteien streitige Frage nach der Ursächlichkeit der (vom Berufungs­gericht unterstellten) Versäumnisse der Lehrkräfte für den eingetretenen Hirnschaden zu leisten. Nur wenn dies ausgeschlossen wäre, hätte der Antrag abgelehnt werden dürfen.

Verletzung der Nebenpflicht zur Leistung von Erster Hilfe rechtfertigt auch bei grob fahrlässigem Handeln keine Beweis­la­st­umkehr

Für das weitere Verfahren wies der Bundes­ge­richtshof auf Folgendes hin: Der Kläger könne sich nicht entsprechend den im Arzthaf­tungsrecht entwickelten Beweis­grund­sätzen bei groben Behand­lungs­fehlern auf eine Umkehr der Beweislast berufen mit der Folge, dass das beklagte Land die Nichtur­säch­lichkeit etwaiger Pflicht­ver­let­zungen der Sportlehrer nachweisen müsse. Zwar würden diese Grundsätze nach der Senats­recht­sprechung wegen der Vergleich­barkeit der Interessenlage entsprechend bei grober Verletzung von Berufs- oder Organi­sa­ti­o­ns­pflichten gelten, sofern diese als Kernpflichten, ähnlich wie beim Arztberuf, spezifisch dem Schutz von Leben und Gesundheit anderer dienen. Dies habe der Bundes­ge­richtshof für Hausnot­ruf­verträge und die Badeaufsicht in Schwimmbädern angenommen. Die Amtspflicht der Sportlehrer zur Ersten Hilfe bei Notfällen sei wertungsmäßig jedoch nur eine die Hauptpflicht zur Unterrichtung und Erziehung begleitende Nebenpflicht. Die Sportlehrer würden an der Schule nicht primär oder in erster Linie - sondern nur "auch" - eingesetzt, um in Notsituationen Erste-Hilfe-Maßnahmen durchführen zu können. Eine Verletzung dieser Nebenpflicht, auch wenn sie grob fahrlässig erfolgt sein sollte, rechtfertige keine Beweis­la­st­umkehr in Anlehnung an die oben aufgeführten Fallgruppen.

Sportlehrern obliegt Amtspflicht zur Durchführung erforderlicher und zumutbarer Erste-Hilfe-Maßnahmen

Eine Haftung des beklagten Landes (§ 839 BGB, Art. 34 GG) komme nicht nur im Fall grober Fahrlässigkeit in Betracht. Das Haftungs­privileg für Nothelfer (§ 680 BGB) greife hier entgegen der Ansicht des Beklagten nicht. § 680 BGB wolle denjenigen schützen, der sich bei einem Unglücksfall zu spontaner Hilfe entschließe. Dabei berücksichtige die Vorschrift, dass wegen der in Gefah­ren­si­tua­tionen geforderten schnellen Entscheidung ein ruhiges und überlegtes Abwägen kaum möglich sei und es sehr leicht zu einem Sichvergreifen in den Mitteln der Hilfe kommen könne. Die Situation einer Sportlehrkraft, die bei einem im Sportunterricht eintretenden Notfall tätig werde, sei aber nicht mit der einer spontan bei einem Unglücksfall Hilfe leistenden unbeteiligten Person zu vergleichen. Den Sportlehrern des beklagten Landes habe die Amtspflicht oblegen, etwa erforderliche und zumutbare Erste-Hilfe-Maßnahmen rechtzeitig und in ordnungsgemäßer Weise durchzuführen. Um dies zu gewährleisten, hätten die Sportlehrer bereits damals über eine aktuelle Ausbildung in Erster Hilfe verfügen müssen. Die Situation des § 680 BGB entspreche damit zwar der von Schülern, aber nicht der von Sportlehrern, zu deren öffentlich-rechtlichen Pflichten jedenfalls auch die Abwehr von Gesund­heits­schäden der Schüler gehöre. Selbst wenn es sich nur um eine Nebenpflicht der Sportlehrer handele, seien Sinn und Zweck von § 680 BGB mit der Anwendung im konkreten Fall nicht vereinbar. Insoweit sei der Anwen­dungs­bereich des § 839 Abs. 1 BGB auch davon geprägt, dass ein objektivierter Sorgfalts­maßstab gelte, bei dem es auf die Kenntnisse und Fähigkeiten ankomme, die für die Führung des übernommenen Amtes erforderlich sind, so der Bundes­ge­richtshof. Zur Führung des übernommenen Amtes gehörten bei Sportlehrern aber auch die im Notfall gebotenen Erste-Hilfe-Maßnahmen. Dazu stünde eine Haftungs­be­schränkung auf grobe Fahrlässigkeit in Widerspruch. Eine solche einschneidende Haftungs­be­grenzung erscheine dem Bundes­ge­richtshof auch vor dem Hintergrund nicht gerechtfertigt, dass mit jedem Sportunterricht für die Schüler gewisse Gefahren verbunden seien. Es wäre aber nicht angemessen, wenn der Staat einerseits die Schüler zur Teilnahme am Sportunterricht verpflichte, andererseits bei Notfällen im Sportunterricht eine Haftung für Amtspflicht­ver­let­zungen der zur Durchführung des staatlichen Sport­un­ter­richts berufenen Lehrkräfte nur bei grober Fahrlässigkeit und damit nur in Ausnahmefällen einträte.

§ 839 Abs. 1 Satz 1 BGB

Verletzt ein Beamter vorsätzlich oder fahrlässig die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so hat er dem Dritten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen.

Art. 34 Satz 1 GG

Verletzt jemand in Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so trifft die Verant­wort­lichkeit grundsätzlich den Staat oder die Körperschaft, in deren Dienst er steht.

§ 680 BGB

Bezweckt die Geschäfts­führung die Abwendung einer dem Geschäftsherrn drohenden dringenden Gefahr, so hat der Geschäftsführer nur Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten.

Quelle: Bundesgerichtshof/ra-online (pm)

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