Im zugrunde liegenden Fall kam eine Passantin an einem späten Nachmittag im Dezember 2010 im Bereich einer Fußgängerzone wegen einer Glättebildung zu Fall. Die streupflichtige Stadt hatte den am Vortag und in der Nacht gefallenen Schnee weder geräumt, noch mit Salz bestreut. In der gesamten Fußgängerzone befand sich daher Schneematsch. Die gestürzte Passantin verlangte nunmehr Schadenersatz von der Stadt.
Sowohl das Landgericht Münster als auch das Oberlandesgericht Hamm wiesen die Klage ab. Das Oberlandesgericht begründete seine Entscheidung damit, dass die beklagte Stadt zwar ihre Verkehrssicherungspflicht und damit eine Amtspflicht verletzt habe. Denn sie sei weder ihrer Räum-, noch Streupflicht nachgekommen. Der Passantin sei jedoch ein überwiegendes Mitverschulden am Unfall anzulasten gewesen. Denn aus Sicht des Oberlandesgerichts habe sich die Passantin, ohne dass dazu eine zwingende Notwendigkeit bestand, sich der Gefahr eines Sturzes bewusst ausgesetzt. Sie hätte nach erkennen der enormen Glättegefahr von ihrem Vorhaben, die Fußgängerzone zu besuchen, Abstand nehmen müssen. Hinter diesem Mitverschulden habe die Pflichtverletzung der Stadt zurückgetreten. Gegen das Urteil legte die Passantin Revision ein.
Der Bundesgerichtshof entschied zu Gunsten der Passantin. Ihr habe ein Anspruch auf Schadenersatz wegen einer Amtspflichtverletzung der Stadt zugestanden (§ 839 Abs. 1 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG). Denn die beklagte Stadt habe zum einen ihre winterliche Räum- und Streupflicht verletzt. Zum anderen sei der Passantin kein überwiegendes Mitverschulden anzulasten gewesen.
Das Oberlandesgericht sei nach Auffassung des Bundesgerichtshofs zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Passantin ein überwiegendes, die Haftung der Stadt ausschließendes, Mitverschulden anzulasten ist. Denn allein der Umstand, dass der Geschädigte vor Schadenseintritt die bestehende Gefahrenlage erkannt hat, begründe kein haftungsausschließendes Mitverschulden. Weiterhin liege ein solch überwiegendes Mitverschulden auch nicht allein deshalb vor, weil sich der Geschädigte einer von ihm erkannten Gefahr aussetzt, ohne dass hierfür eine zwingende Notwendigkeit besteht.
Es sei zudem insbesondere zu beachten gewesen, so der Bundesgerichtshof weiter, dass die Stadt durch die Verletzung ihrer Amtspflicht die maßgebliche Ursache für den Sturz der Passantin gesetzt habe. Darüber hinaus sei zu berücksichtigen, dass die Annahme eines haftungsausschließenden Mitverschuldens im Fall einer erkennbaren Gefahrenlage dazu führt, dass von vornherein jegliche Haftung des Pflichtigen entfällt. Ein solches Ergebnis widerspreche aber dem Schutzzweck der verletzten Verkehrssicherungspflicht. Diese solle gerade auch solche Verkehrsteilnehmer vor Schäden bewahren, die nicht immer ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit und Sorgfalt walten lassen.
Ein überwiegendes die Haftung ausschließendes Mitverschulden könne nach Ansicht der Bundesrichter nur angenommen werden, wenn der Geschädigte eine unverständliche Sorglosigkeit an den Tag legt. Dies sei hier aber nicht der Fall gewesen. Insbesondere sei die durch Schneematsch verursachte Glättegefahr nicht vergleichbar mit dem Betreten einer erkennbar spiegelglatten Eisfläche (BGH, Urt. v. 20.11.1984 - VI ZR 169/83 = NJW 1985, 482).
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 10.09.2013
Quelle: Bundesgerichtshof, ra-online (vt/rb)