18.10.2024
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Dokument-Nr. 15993

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Beschluss23.04.2013BundesgerichtshofII ZB 7/09
Vorinstanzen:
  • Landgericht Stuttgart, Beschluss03.03.2006, 21 O 408/05
  • Oberlandesgericht Stuttgart, Beschluss22.04.2009, 20 Kap 1/08
ergänzende Informationen

Bundesgerichtshof Beschluss23.04.2013

Bundes­ge­richtshof entscheidet im Verfahren gegen Daimler AG wegen verspäteter Veröf­fent­lichung von Inside­r­in­for­mationVerfahren zur Haftung für Ad-hoc-Meldungen über Schrempp-Rücktritt erneut an OLG zurückgewiesen

In einem Kapitalanleger-Musterverfahren gegen die Daimler AG hat der Bundes­ge­richtshof wegen angeblich verspäteter Ad-hoc-Mitteilung über das vorzeitige Ausscheiden ihres damaligen Vorstands­vorsitzenden Prof. Schrempp die Sache zu weiteren Sachverhalts­feststellungen an das Oberlan­des­gericht zurückverwiesen.

In dem zugrunde liegenden Fall erörterte am 17. Mai 2005 der damalige Vorstands­vor­sitzende von Daimler Prof. Schrempp mit dem damaligen Aufsichts­rats­vor­sit­zenden Kopper seine Absicht, zum Ende des Jahres 2005 von seinem Amt zurückzutreten. In der Folgezeit informierte Schrempp weitere Mitarbeiter über seine Pläne und besprach sie mit dem Vorsitzenden des Konzern- und Gesamt­be­trie­bsrats.

Präsi­di­al­aus­schuss stimmt vorzeitigem Ausscheiden zu

Am 27. Juli 2005 beschloss der Präsidialausschuss von Daimler nach 17.00 Uhr, dem Aufsichtsrat am Folgetag vorzuschlagen, dem vorzeitigen Ausscheiden Schrempps zum Jahresende zuzustimmen. Der Aufsichtsrat fasste am 28. Juli 2005 gegen 9.50 Uhr einen entsprechenden Beschluss. Hiervon informierte Daimler die Geschäfts­füh­rungen der Börsen und der Bundesanstalt für Finanz­dienst­leis­tungs­aufsicht (BaFin). Um 10.32 Uhr wurde die Ad-hoc-Mitteilung in der Meldungs­da­tenbank der Deutschen Gesellschaft für Ad-hoc-Publizität (DGAP) veröffentlicht.

Veräu­ße­rungs­schaden durch Unterlassung einer rechtzeitigen Veröf­fent­lichung

In dem Musterverfahren, dem eine Vielzahl von Klagen von Aktionären zugrunde liegt, werden Schaden­s­er­satz­ansprüche nach § 37 b Abs. 1 WpHG geltend gemacht. Der Musterkläger ist der Ansicht, eine veröf­fent­li­chungs­pflichtige Inside­r­in­for­mation über das Ausscheiden von Schrempp habe spätestens im Mai 2005 seit dem Gespräch mit dem Aufsichts­rats­vor­sit­zenden Kopper vorgelegen. Nach dem 17. Mai 2005, aber vor der Ad-hoc-Mitteilung über das Ausscheiden am 28. Juli 2005 seien Aktien der Musterbeklagten zu einem Kurs von 31,85 Euro bzw. 36,50 Euro verkauft worden. Da der Kurs der Daimler-Aktien nach der Ad-hoc-Mitteilung noch am selben Tag auf 40,40 Euro und in der Folgezeit auf 42,95 Euro angestiegen sei, habe das Unterlassen der rechtzeitigen Veröffentlichung der Ad-hoc-Mitteilung zu einem entsprechenden Veräußerungsschaden geführt, den die Musterbeklagte zu ersetzen habe.

Bundes­ge­richtshof hebt Musterentscheid des Oberlan­des­ge­richts auf

Das Oberlan­des­gericht hatte in einem ersten Musterentscheid festgestellt, dass durch die Vorgänge im Zusammenhang mit dem vorzeitigen Ausscheiden Schrempps eine Inside­r­in­for­mation im Sinne des § 37 b Abs. 1 WpHG erst aufgrund der Entscheidung des Aufsichtsrats am 28. Juli 2005 um ca. 9.50 Uhr entstanden sei und die Musterbeklagte diese unverzüglich veröffentlicht habe. In einem ersten Rechts­be­schwer­de­ver­fahren hatte der Bundes­ge­richtshof diesen Musterentscheid mit Beschluss vom 25. Februar 2008 aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Oberlan­des­gericht zurückverwiesen.

Zwischen­schritte zur Beeinflussung des Kurses der Aktie nicht relevant

Das Oberlan­des­gericht hat daraufhin in einem zweiten Musterentscheid festgestellt, dass frühestens am 27. Juli 2005 mit der Beschluss­fassung des Präsi­di­al­aus­schusses des Aufsichtsrats der Musterbeklagten nach 17.00 Uhr eine veröf­fent­li­chungs­pflichtige Inside­r­in­for­mation über die Zustimmung des Aufsichtsrats zum einver­nehm­lichen Rücktritt zum Jahresende entstanden sei. Auch bei gestreckten Vorgängen komme es nicht darauf an, ob bereits Zwischen­schritte - wie hier etwa die Unterrichtung des Aufsichts­rats­vor­sit­zenden Kopper im Mai 2005 oder des Nachfolgers Dr. Zetsche im Juni 2005 über die Rücktritts­ab­sichten Schrempps - den Kurs der Aktie beeinflussen könnten; maßgeblich sei vielmehr, ob das künftige Ereignis, das das Oberlan­des­gericht hier im Beschluss des Aufsichtsrats vom 28. Juli 2005 gesehen hat, hinreichend wahrscheinlich sei.

Fragen an Gerichtshof der Europäischen Union zur Auslegung der Richtlinie über Insider-Geschäfte und Markt­ma­ni­pu­lation

Der Bundes­ge­richtshof hat das zweite Rechts­be­schwer­de­ver­fahren ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV zur Vorab­ent­scheidung Fragen zur Auslegung der Richtlinie 2003/6/EG vom 28. Januar 2003 über Insider-Geschäfte und Markt­ma­ni­pu­lation (Markt­miss­brauchs-Richtlinie) und der zu deren Durchführung erlassenen Richtlinie 2003/124/EG vom 22. Dezember 2003 (Durchführungs-Richtlinie) zur Vorab­ent­scheidung vorgelegt (vgl. Beschluss vom 22. November 2010 - II ZB 7/09).

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat mit Urteil vom 28. Juni 2012 (Az. C-19/11) entschieden, dass bei einem zeitlich gestreckten Vorgang, bei dem ein bestimmter Umstand verwirklicht oder ein bestimmtes Ereignis herbeigeführt werden soll, nicht nur dieser Umstand oder dieses Ereignis präzise Informationen im Sinn von Artikel 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/6/EG, Artikel 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/124/EG sein können, sondern auch die mit der Verwirklichung des Umstands oder Ereignisses verknüpften Zwischen­schritte dieses Vorgangs.

Rücktritts­absicht sowie alle weiteren Zwischen­schritte kommen als veröf­fent­li­chungs­pflichtige Information in Betracht

Der Bundes­ge­richtshof hat nunmehr auch den zweiten Musterentscheid aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Oberlan­des­gericht zurückverwiesen. Bereits das Gespräch zwischen Schrempp und dem damaligen Aufsichts­rats­vor­sit­zenden Kopper am 17. Mai 2005 über seine Absicht, zum Ende des Jahres 2005 von seinem Amt im Einvernehmen mit dem Aufsichtsrat zurückzutreten, sowie alle weiteren Zwischen­schritte kommen als veröf­fent­li­chungs­pflichtige Informationen über einen bereits eingetretenen Umstand in Betracht. Insoweit bedarf es weiterer tatrich­ter­licher Feststellungen, ob diese Umstände konkrete Informationen im Sinn von § 13 Abs. 1 Satz 1 WpHG waren (Kursspezifität) und ob sie geeignet waren, im Falle ihres öffentlichen Bekanntwerdens den Börsenkurs der Aktien der Musterbeklagten erheblich zu beeinflussen (Kursrelevanz). Weiter kann ab Mitte Mai 2005 eine Inside­r­in­for­mation über einen in Zukunft eintretenden Umstand entstanden sein, dass der Aufsichtsrat dem Ausscheiden von Schrempp zum Jahresende zustimmen werde oder dass Schrempp zum Jahresende ausscheiden werde. Auch dazu bedarf es weiterer tatrich­ter­licher Feststellungen, ob der Umstand aus damaliger Sicht in Zukunft hinreichend wahrscheinlich eintreten werde. Der Bundes­ge­richtshof verlangt nach der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union in Abweichung von der Entscheidung im ersten Rechts­be­schwer­de­ver­fahren nicht mehr eine hohe Wahrschein­lichkeit. Vielmehr muss nach den Regeln allgemeiner Erfahrung eher mit dem Eintreten des Ereignisses oder Umstands als mit seinem Ausbleiben zu rechnen sein. In diese grundsätzlich dem Tatrichter obliegende Beurteilung sind alle tatsächlichen Umstände des jeweiligen Falles einzubeziehen.

§ 37 b Abs. 1 des Wertpa­pier­han­dels­ge­setzes (WpHG)

Erläuterungen
Unterlässt es der Emittent von Finan­z­in­stru­menten, die zum Handel an einer inländischen Börse zugelassen sind, unverzüglich eine Inside­r­in­for­mation zu veröffentlichen, die ihn unmittelbar betrifft, ist er einem Dritten zum Ersatz des durch die Unterlassung entstandenen Schadens verpflichtet, wenn der Dritte

1. die Finan­z­in­strumente nach der Unterlassung erwirbt und er bei Bekanntwerden der Inside­r­in­for­mation noch Inhaber der Finan­z­in­strumente ist oder

2. die Finan­z­in­strumente vor dem Entstehen der Inside­r­in­for­mation erwirbt und nach der Unterlassung veräußert.

Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/6/EG (Markt­miss­brauchs-Richtlinie)

Für die Zwecke dieser Richtlinie gelten folgende Definitionen:

1. "Insider-Information" ist eine nicht öffentlich bekannte präzise Information, die direkt oder indirekt einen oder mehrere Emittenten von Finan­z­in­stru­menten oder ein oder mehrere Finan­z­in­strumente betrifft und die, wenn sie öffentlich bekannt würde, geeignet wäre, den Kurs dieser Finan­z­in­strumente oder den Kurs sich darauf beziehender derivativer Finan­z­in­strumente erheblich zu beeinflussen. [...]

Art. 1 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2003/124/EG (Durchführungs-Richtlinie)

(1) Für die Anwendung von Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie 2003/6/EG ist eine Information dann als präzise anzusehen, wenn damit eine Reihe von Umständen gemeint ist, die bereits existieren oder bei denen man mit hinreichender Wahrschein­lichkeit davon ausgehen kann, dass sie in Zukunft existieren werden, oder ein Ereignis, das bereits eingetreten ist oder mit hinreichender Wahrschein­lichkeit in Zukunft eintreten wird, und diese Information darüber hinaus spezifisch genug ist, dass sie einen Schluss auf die mögliche Auswirkung dieser Reihe von Umständen oder dieses Ereignisses auf die Kurse von Finan­z­in­stru­menten oder damit verbundenen derivativen Finan­z­in­stru­menten zulässt.

(2) Für die Anwendung von Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie 2003/6/EG ist unter einer "Insider-Information, die, wenn sie öffentlich bekannt würde, geeignet wäre, den Kurs dieser Finan­z­in­strumente oder den Kurs damit verbundener derivativer Finan­z­in­strumente spürbar zu beeinflussen" eine Information gemeint, die ein verständiger Anleger wahrscheinlich als Teil der Grundlage seiner Anlage­ent­schei­dungen nutzen würde.

Gesetz über Musterverfahren in kapital­ma­rkt­recht­lichen Streitigkeiten (Kapitalanleger-Muster­ver­fah­rens­gesetz - KapMuG in der für das Verfahren geltenden Fassung vom 16. August 2005)

§ 1 Muster­fest­stel­lungs­antrag

(1) Durch Muster­fest­stel­lungs­antrag kann in einem erstin­sta­nz­lichen Verfahren, in dem

1. ein Schaden­s­er­satz­an­spruch wegen falscher, irreführender oder unterlassener öffentlicher Kapital­ma­rk­t­in­for­mation [...] geltend gemacht wird, die Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens anspruchs­be­grün­dender oder anspruchs­aus­schlie­ßender Voraussetzungen oder die Klärung von Rechtsfragen begehrt werden (Feststel­lungsziel), wenn die Entscheidung des Rechtsstreits hiervon abhängt. [...]

§ 4 Vorlage an das Oberlan­des­gericht

(1) Das Prozessgericht führt durch Beschluss eine Entscheidung des im Rechtszug übergeordneten Oberlan­des­ge­richts über das Feststel­lungsziel gleich­ge­richteter Muster­fest­stel­lungs­anträge (Musterentscheid) herbei, wenn

1. in dem Verfahren bei dem Prozessgericht der zeitlich erste Muster­fest­stel­lungs­antrag gestellt wurde und

2. innerhalb von vier Monaten nach seiner Bekanntmachung in mindestens neun weiteren Verfahren bei demselben oder anderen Gerichten gleich­ge­richtete Muster­fest­stel­lungs­anträge gestellt wurden. [...]

Quelle: Bundesgerichtshof/ra-online

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