Dokument-Nr. 12725
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- AnwBl 2002, 607Zeitschrift: Anwaltsblatt (AnwBl), Jahrgang: 2002, Seite: 607
- BGHSt 46, 178Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshof in Strafsachen (BGHSt), Band: 46, Seite: 178
- DAR 2001, 201Zeitschrift: Deutsches Autorecht (DAR), Jahrgang: 2001, Seite: 201
- JR 2002, 121Zeitschrift: Juristische Rundschau (JR), Jahrgang: 2002, Seite: 121
- NJW 2001, 309Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2001, Seite: 309
- NStZ 2001, 107Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ), Jahrgang: 2001, Seite: 107
- StV 2001, 1Zeitschrift: Der Strafverteidiger (StV), Jahrgang: 2001, Seite: 1
Bundesgerichtshof Beschluss26.10.2000
BGH zum Anspruch auf einen kostenlosen Dolmetscher und Pflichtverteidiger für nicht Deutsch sprechenden BeschuldigtenGemäß EMRK ist für jeden Beschuldigten, der die Gerichtssprache nicht versteht, unentgeltlich ein Dolmetscher heranzuziehen
Der Bundesgerichtshof hatte zu entscheiden, in welchem Umfang ein der deutschen Sprache nicht mächtiger Beschuldigter im Strafverfahren Anspruch auf kostenfreie Zuziehung eines Dolmetschers hat und ob ihm stets ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist.
In dem zugrunde liegenden Verfahren hatte das Amtsgericht Delmenhorst zwei des Deutschen nicht mächtige, mittellose Asylbewerber wegen Ladendiebstählen nach Jugendstrafrecht zu je zwei Wochen Dauerarrest verurteilt. Mit ihren Revisionen rügten die Angeklagten, dass sie vor dem Amtsgericht nicht von Rechtsanwälten verteidigt worden seien; dies sei unter anderem schon wegen ihrer fehlenden Deutschkenntnisse erforderlich gewesen.
Bayerisches OLG: Fehlende Deutschkenntnisse eines Beschuldigten machen Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich
Das für die Entscheidung über die Revisionen zuständige Oberlandesgericht Oldenburg hält diese Beanstandung für unbegründet. Dagegen hatte unter anderem das Bayerische Oberste Landesgericht entschieden, dass fehlende Deutschkenntnisse eines Beschuldigten die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich machen, weil nur auf diesem Wege die Erstattung von Dolmetscherkosten für Gespräche zwischen Beschuldigtem und Anwalt gesichert sei. Zur Entscheidung über die divergierenden Rechtsmeinungen hat das Oberlandesgericht Oldenburg die Sache dem Bundesgerichtshof vorgelegt.
BGH: Sämtliche entstehenden und notwendigen Dolmetscherkosten sind zu erstatten
Der Bundesgerichtshof stellte in seiner Entscheidung klar, dass das in Art. 6 Abs. 3 lit. e der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) jedem Beschuldigten, der die Gerichtssprache nicht versteht, eingeräumte Recht, unentgeltlich einen Dolmetscher beizuziehen, auch für die Abgabe und Entgegennahme verfahrensrelevanter Erklärungen außerhalb gerichtlich oder durch Ermittlungsbehörden anberaumter Termine gilt. Es erstreckt sich auch auf die Verteidigung vorbereitende Gespräche des Beschuldigten mit einem Rechtsanwalt und besteht unabhängig davon, ob der Beschuldigte finanziell in der Lage wäre, einen Dolmetscher aus eigener Tasche zu bezahlen. Entsprechend sind ihm sämtliche entstehenden notwendigen Dolmetscherkosten zu erstatten.
Kostenerstattungsanspruch ist direkt aus geltender Menschenrechtskonvention abzuleiten
Zwar sieht das deutsche Gerichtskostenrecht nur im Falle der Pflichtverteidigung eine Erstattung notwendiger Auslagen des Verteidigers vor, zu denen auch Kosten für die Zuziehung eines Dolmetschers zu Gesprächen zwischen Beschuldigtem und Verteidiger zählen können. Dies zwingt jedoch nicht dazu, einem des Deutschen nicht mächtigen Beschuldigten auch dann einen Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn im übrigen die hierfür in der Strafprozessordnung vorgesehenen Voraussetzungen nicht erfüllt sind, nur um auf diesem Wege die Möglichkeit für die Erstattung von Dolmetscherkosten zu eröffnen und damit der Gewährleistung des Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK Rechnung zu tragen. Denn der Kostenerstattungsanspruch des Beschuldigten ist direkt aus der als unmittelbares Bundesrecht geltenden EMRK abzuleiten und durch eine ergänzende Auslegung des deutschen Gerichtskostenrechts umzusetzen.
Beiordnung eines Verteidigers kann bei mangelnden Deutschkenntnissen eher geboten sein als bei Beschuldigtem mit Deutschkenntnissen
Damit ist auch einem des Deutschen nicht kundigen Beschuldigten ein Verteidiger nur beizuordnen, wenn die in der Strafprozessordnung für die Pflichtverteidigung allgemein geregelten Voraussetzungen erfüllt sind. Dabei können allerdings bei im übrigen gleicher Sachlage mangelnde Deutschkenntnisse eines Beschuldigten die Beiordnung eines Verteidigers eher geboten erscheinen lassen als dies bei einem des Deutschen mächtigen Beschuldigten der Fall wäre.
Erläuterungen
Das Urteil ist aus dem Jahre 2000 und erscheint im Rahmen der Reihe "Wissenswerte Urteile".
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 21.12.2011
Quelle: Bundesgerichtshof/ra-online..
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