18.10.2024
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Dokument-Nr. 9849

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Urteil25.06.2010Bundesgerichtshof2 StR 454/09
passende Fundstellen in der Fachliteratur:
  • JuS 2010, 1027 (Bernd Hecker)Zeitschrift: Juristische Schulung (JuS), Jahrgang: 2010, Seite: 1027, Entscheidungsbesprechung von Bernd Hecker
  • NJW 2010, 2963Zeitschrift: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), Jahrgang: 2010, Seite: 2963
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Vorinstanz:
  • Landgericht Frankfurt am Main, Urteil30.04.2009, 16 Js 1/08 - 1 Ks
ergänzende Informationen

Bundesgerichtshof Urteil25.06.2010

BGH: Abbruch lebens­er­hal­tender Behandlung auf Grundlage des Patien­ten­willens nicht strafbarVerhinderung einer Wiederaufnahme lebens­er­hal­tender Maßnahmen kann nicht als versuchter Totschlag bewertet werden

Ein Anwalt, der seinen Mandanten zur Sterbehilfe für ihre im Koma liegende Mutter rät, begeht nicht zwangsläufig eine Straftat. Der Abbruch einer lebens­er­hal­tenden Behandlung ist dann nicht strafbar, wenn er auf der Grundlage eines Patien­ten­willens geschieht. Dies entschied der Bundes­ge­richtshof.

Der Angeklagte des zugrunde liegenden Falls ist ein für das Fachgebiet des Medizinrechts spezialisierter Rechtsanwalt. Nach den Feststellungen des Landgerichts beriet er die beiden Kinder der 1931 geborenen Frau K., nämlich die mitangeklagte Frau G. und deren inzwischen verstorbenen Bruder. Frau K. lag seit Oktober 2002 in einem Wachkoma. Sie wurde in einem Pflegeheim über einen Zugang in der Bauchdecke, eine so genannte PEG-Sonde, künstlich ernährt. Eine Besserung ihres Gesund­heits­zu­standes war nicht mehr zu erwarten.

Sachverhalt

Entsprechend einem von Frau K. im September 2002 mündlich für einen solchen Fall geäußerten Wunsch bemühten sich die Geschwister, die inzwischen zu Betreuern ihrer Mutter bestellt worden waren, um die Einstellung der künstlichen Ernährung, um ihrer Mutter ein Sterben in Würde zu ermöglichen. Nach Ausein­an­der­set­zungen mit der Heimleitung kam es Ende 2007 zu einem Kompromiss, wonach das Heimpersonal sich nur noch um die Pflege­tä­tig­keiten im engeren Sinne kümmern sollte, während die Kinder der Patientin selbst die Ernährung über die Sonde einstellen, die erforderliche Pallia­tiv­ver­sorgung durchführen und ihrer Mutter im Sterben beistehen sollten.

Nachdem Frau G. am 20. Dezember 2007 die Nahrungszufuhr über die Sonde beendet hatte, wies die Geschäfts­leistung des Gesamt­un­ter­nehmens am 21. Dezember 2007 jedoch die Heimleitung an, die künstliche Ernährung umgehend wieder aufzunehmen. Den Kindern der Frau K. wurde ein Hausverbot für den Fall angedroht, dass sie sich hiermit nicht einverstanden erklären sollten. Darauf erteilte der Angeklagte P. Frau G. am gleichen Tag den Rat, den Schlauch der PEG-Sonde unmittelbar über der Bauchdecke zu durchtrennen.

Frau G. schnitt Minuten später mit Unterstützung ihres Bruders den Schlauch durch. Nachdem das Heimpersonal dies bereits nach einigen weiteren Minuten entdeckt und die Heimleitung die Polizei eingeschaltet hatte, wurde Frau K. auf Anordnung eines Staatsanwalts gegen den Willen ihrer Kinder in ein Krankenhaus gebracht, wo ihr eine neue PEG-Sonde gelegt und die künstliche Ernährung wieder aufgenommen wurde. Sie starb dort zwei Wochen darauf eines natürlichen Todes auf Grund ihrer Erkrankungen.

Landgericht bewertet Handeln als versuchten Totschlag durch aktives Tun

Das Landgericht hat das Handeln des Angeklagten als einen gemein­schaftlich mit Frau G. begangenen versuchten Totschlag durch aktives Tun – im Gegensatz zum bloßen Abbruch einer lebens­er­hal­tenden Behandlung durch Unterlassen – gewürdigt, der weder durch eine mutmaßliche Einwilligung der Frau K. noch nach den Grundsätzen der Nothilfe oder des recht­fer­ti­genden Notstandes gerechtfertigt sei. Auch auf einen entschul­di­genden Notstand könne sich der Angeklagte nicht berufen. Soweit er sich in einem so genannten Erlaubnisirrtum befunden habe, sei dieser für ihn als einschlägig spezialisierten Rechtsanwalt vermeidbar gewesen.

Tochter der Verstorbenen befand sich zum Tatzeitpunkt in unvermeidbarem Erlaubnisirrtum

Die Mitangeklagte G. hat das Landgericht freigesprochen, weil sie sich angesichts des Rechtsrats des Angeklagten in einem unvermeidbaren Erlaubnisirrtum befunden und deshalb ohne Schuld gehandelt habe.

BGH spricht angeklagten Rechtsanwalt frei

Der Bundes­ge­richtshof hat das Urteil auf die Revision des Angeklagten aufgehoben und ihn freigesprochen.

Die Frage, unter welchen Voraussetzungen in Fällen aktueller Einwil­li­gungs­un­fä­higkeit von einem bindenden Patientenwillen auszugehen ist, war zur Tatzeit durch miteinander nicht ohne weiteres vereinbare Entscheidungen des Bundes­ge­richtshofs noch nicht geklärt. Divergenzen in der Rechtsprechung betrafen die Verbindlichkeit von so genannten Patien­ten­ver­fü­gungen und die Frage, ob die Zulässigkeit des Abbruchs einer lebens­er­hal­tenden Behandlung auf tödliche und irreversibel verlaufende Erkrankungen des Patienten beschränkt oder von Art und Stadium der Erkrankung unabhängig ist, daneben auch das Erfordernis der gerichtlichen Genehmigung einer Entscheidung des gesetzlichen Betreuers über eine solche Maßnahme. Der Gesetzgeber hat diese Fragen durch das so genannte Patien­ten­ver­fü­gungs­gesetz mit Wirkung vom 1. September 2009 ausdrücklich geregelt. Das Gericht konnte daher entscheiden, ohne an frühere Entscheidungen anderer Senate gebunden zu sein.

Mit Heimleitung getroffene Entscheidung zum Unterlassen weiterer künstlicher Ernährung war rechtmäßig

Das Landgericht ist im Ergebnis zutreffend davon ausgegangen, dass die durch den Kompromiss mit der Heimleitung getroffene Entscheidung zum Unterlassen weiterer künstlicher Ernährung rechtmäßig war und dass die von der Heimleitung angekündigte Wiederaufnahme als rechtswidriger Angriff gegen das Selbst­be­stim­mungsrecht der Patientin gewertet werden konnte. Die im September 2002 geäußerte Einwilligung der Patientin, die ihre Betreuer geprüft und bestätigt hatten, entfaltete bindende Wirkung und stellte sowohl nach dem seit dem 1. September 2009 als auch nach dem zur Tatzeit geltenden Recht eine Rechtfertigung des Behand­lungs­ab­bruchs dar. Dies gilt jetzt, wie inzwischen § 1901 a Abs. 3 BGB ausdrücklich bestimmt, unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung.

Geprüfte Einwilligung des Patienten rechtfertigt Verhinderung einer nicht mehr gewollten Behandlung

Dagegen trifft die Bewertung des Landgerichts nicht zu, der Angeklagte habe sich durch seine Mitwirkung an der aktiven Verhinderung der Wiederaufnahme der Ernährung wegen versuchten Totschlags strafbar gemacht. Die von den Betreuern – in Übereinstimmung auch mit den inzwischen in Kraft getretenen Regelungen der §§ 1901 a, 1904 BGB – geprüfte Einwilligung der Patientin rechtfertigte nicht nur den Behand­lungs­abbruch durch bloßes Unterlassen weiterer Ernährung, sondern auch ein aktives Tun, das der Beendigung oder Verhinderung einer von ihr nicht oder nicht mehr gewollten Behandlung diente. Eine nur an den Äußerlichkeiten von Tun oder Unterlassen orientierte Unterscheidung der straflosen Sterbehilfe vom strafbaren Töten des Patienten wird dem sachlichen Unterschied zwischen der auf eine Lebens­be­en­digung gerichteten Tötung und Verhal­tens­weisen nicht gerecht, die dem krank­heits­be­dingten Sterbenlassen mit Einwilligung des Betroffenen seinen Lauf lassen.

Quelle: Pressemitteilung des Bundesgerichtshofs

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