15.11.2024
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Bundesgerichtshof Urteil26.04.2017

Vorgetäuschte Polizei­kon­trollen zur Gefahrenabwehr grundsätzlich zulässigBGH zur Frage der Verwertbarkeit von im Zusammenhang mit sogenannten "legendierten Polizei-Kontrolle" erlangten Beweismitteln

Der Bundes­ge­richtshof hat entschieden, dass die Durchsuchung eines Fahrzeugs nach Betäu­bungs­mitteln zur Gefahrenabwehr ohne vorherige richterliche Anordnung zulässig ist.

Dem Verfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde: Das Landgericht Limburg hatte den Angeklagten wegen Einfuhr von Betäu­bungs­mitteln in nicht geringer Menge (Kokain) in Tateinheit mit Handeltreiben mit Betäu­bungs­mitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt.

Sachverhalt

Nach den landge­richt­lichen Feststellungen war der Angeklagte Beschuldigter in einem Ermitt­lungs­ver­fahren der Staats­an­walt­schaft Frankfurt am Main, das diese gegen eine marokkanische Täter­grup­pierung wegen Verdachts von Betäu­bungs­mit­tel­straftaten führte. Aufgrund von verdeckten Ermitt­lungs­maß­nahmen hatte die Kriminalpolizei Frankfurt am Main konkrete Hinweise auf einen Betäu­bungs­mit­tel­transport des Angeklagten erhalten, den der zu diesem Zeitpunkt vorübergehend in Marokko befindliche "Chef" der Gruppe organisiert hatte. Tatsächlich hatte der Angeklagte von einer unbekannten Person in den Niederlanden Kokain übernommen und beabsichtigte, dieses zwecks gewinn­brin­genden Weiterverkaufs nach Deutschland einzuführen. Als die Kriminalpolizei Frankfurt am Main über einen am Fahrzeug des Angeklagten angebrachten Peilsender feststellte, dass sich der Angeklagte nach Grenzübertritt wieder auf der Autobahn in Deutschland befand, entschloss sie sich, das Fahrzeug von der Verkehrspolizei Wiesbaden im Rahmen einer Verkehrskontrolle anhalten und durchsuchen zu lassen, um die mitgeführten Betäu­bungs­mittel sicherzustellen. Dabei wurden im Inneren des Fahrzeugs mehrere Päckchen Kokain (insgesamt knapp 8 kg) aufgefunden. Ein richterlicher Beschluss für die Durchsuchung des Fahrzeugs, der die Offenbarung der im Hintergrund geführten verdeckten Ermittlungen zwangsläufig zur Folge gehabt hätte, wurde nicht eingeholt, um den vorübergehend in Marokko weilenden Hintermann nicht zu warnen. Der Ermitt­lungs­richter in Limburg erließ gegen den Beschuldigten Haftbefehl in Unkenntnis der im Hintergrund laufenden Ermittlungen in Frankfurt am Main. Erst nach Festnahme des wieder nach Deutschland eingereisten Hintermanns, aber noch vor Anklageerhebung gegen den Beschuldigten, wurden die Erkenntnisse aus dem in Frankfurt am Main geführten Ermitt­lungs­ver­fahren offengelegt.

BGH verneint Verstoß gegen Richter­vor­behalt

Der Bundes­ge­richtshof hat die gegen dieses Urteil gerichtete Revision des Angeklagten, mit der er insbesondere einen Verstoß gegen den Richter­vor­behalt aus §§ 102, 105 Abs. 1 StPO und ein daraus resultierendes Beweisverwertungsverbot geltend gemacht hat, als unbegründet verworfen.

Richterliche Anordnung für Durchsuchung nicht notwendig

Der Bundes­ge­richtshof entschied, dass die Durchsuchung des Fahrzeugs des Angeklagten auf § 37 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 HSOG i.V.m. § 36 Abs. 1 Nr. 1 HSOG bzw. § 40 Nr. 1 und 4 HSOG (Hessisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung) gestützt werden konnte, die eine vorherige richterliche Anordnung (im Gegensatz zur Durchsuchung von Wohnungen) nicht voraussetzen.

Der Anwendung präventiv-polizeilicher Ermäch­ti­gungs­grundlagen steht nicht entgegen, dass zum Zeitpunkt der Fahrzeug­durch­suchung bereits ein Anfangsverdacht einer Straftat gegen den Angeklagten vorlag, der auch ein Vorgehen nach §§ 102, 105 StPO ermöglicht hätte. Es besteht weder ein allgemeiner Vorrang der Straf­pro­zess­ordnung gegenüber dem Gefah­re­n­ab­wehrrecht noch umgekehrt. Bei Gemengelagen, in denen sowohl repressives als auch präventives polizeiliches Handeln in Betracht kommt, bleiben straf­pro­zessuale und gefah­re­n­ab­wehr­rechtliche Ermäch­ti­gungs­grundlagen grundsätzlich nebeneinander anwendbar.

Beweismittel im Strafprozess verwertbar

Die im Rahmen der Fahrzeug­durch­suchung sicher­ge­stellten Betäu­bungs­mittel waren gemäß § 161 Abs. 2 Satz 1 StPO als Beweismittel im Strafprozess gegen den Angeklagten verwertbar. Dieser Vorschrift liegt der Gedanke des hypothetischen Ersatzeingriffs zugrunde. Danach setzt die Verwendung polizei­rechtlich gewonnener Erkenntnisse im Strafverfahren voraus, dass diese – wie hier – rechtmäßig erhoben wurden und zur Aufklärung einer Straftat dienen, aufgrund derer eine solche Maßnahme nach der Straf­pro­zess­ordnung hätte angeordnet werden dürfen. Es ist nicht erforderlich, dass die formellen Anord­nungs­vor­aus­set­zungen nach der Straf­pro­zess­ordnung, wie etwa das Vorliegen einer richterlichen Durch­su­chungs­a­n­ordnung, gewahrt worden sind.

Für Anklagevorwurf maßgeblicher prozessualer Sachverhalt muss spätestens mit Anklageerhebung vollständig offengelegt werden

Geht die Polizei nach Gefah­re­n­ab­wehrrecht vor und besteht gleichzeitig der Anfangsverdacht einer Straftat gegen den Beschuldigten, ist zur Gewährleistung eines rechtsstaatlich fairen Verfahrens vor dem Hintergrund der Leitungs­be­fugnis der Staats­an­walt­schaft als "Herrin des Ermitt­lungs­ver­fahrens" allerdings sicherzustellen, dass diese zeitnah, wahrheitsgemäß und vollständig über die Hintergründe der polizeilichen Maßnahmen informiert wird. Nur so ist gewährleistet, dass die Staats­an­walt­schaft auf einer vollständigen Tatsa­chen­grundlage über ihr weiteres straf­pro­zes­suales Vorgehen (etwa Beantragung eines Haftbefehls) und über eine mögliche Beschränkung von Akteneinsicht entscheiden kann. Im Ermitt­lungs­ver­fahren obliegt es allein der Staats­an­walt­schaft zu entscheiden, ob und ggf. welche Erkenntnisse gegen den Beschuldigten wegen einer Gefährdung des Unter­su­chungs­zwecks zunächst zurückgehalten werden. Spätestens mit Anklageerhebung muss der für den Anklagevorwurf maßgebliche prozessuale Sachverhalt vollständig offengelegt werden; dies war hier geschehen.

§ 37 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 HSOG lautet:

Erläuterungen
Die Gefahrenabwehr- und die Polizeibehörden können eine Sache durchsuchen, wenn

1. sie von einer Person mitgeführt wird, die nach § 36 durchsucht werden darf,

2. [...], oder

3. Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich in ihr oder an ihr eine andere Sache befindet, die sichergestellt werden darf.

§ 36 Abs. 1 Nr. 1 HSOG lautet:

(1) Die Gefahrenabwehr- und die Polizeibehörden können eine Person durchsuchen, wenn

1. Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie Sachen mit sich führt, die sichergestellt werden dürfen, [...].

§ 40 Nr. 1 und 4 HSOG lautet:

Die Gefahrenabwehr- und die Polizeibehörden können eine Sache sicherstellen,

1. um eine gegenwärtige Gefahr abzuwehren,

2. [...],

3.[...], oder

4. wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass sie zur Begehung einer Straftat oder Ordnungs­wid­rigkeit gebraucht oder verwertet werden soll.

§ 102 StPO lautet:

Bei dem, welcher als Täter oder Teilnehmer einer Straftat oder der Datenhehlerei, Begünstigung, Straf­ver­ei­telung oder Hehlerei verdächtig ist, kann eine Durchsuchung der Wohnung und anderer Räume sowie seiner Person und der ihm gehörenden Sachen sowohl zum Zweck seiner Ergreifung als auch dann vorgenommen werden, wenn zu vermuten ist, dass die Durchsuchung zur Auffindung von Beweismitteln führen werde.

§ 105 Abs. 1 StPO lautet:

Durchsuchungen dürfen nur durch den Richter, bei Gefahr im Verzug auch durch die Staats­an­walt­schaft und ihre Ermitt­lungs­personen (§ 152 des Gerichts­ver­fas­sungs­ge­setzes) angeordnet werden. Durchsuchungen nach § 103 Abs. 1 Satz 2 ordnet der Richter an; die Staats­an­walt­schaft ist hierzu befugt, wenn Gefahr im Verzug ist.

§ 161 Abs. 2 Satz 1 StPO lautet:

Ist eine Maßnahme nach diesem Gesetz nur bei Verdacht bestimmter Straftaten zulässig, so dürfen die auf Grund einer entsprechenden Maßnahme nach anderen Gesetzen erlangten perso­nen­be­zogenen Daten ohne Einwilligung der von der Maßnahme betroffenen Personen zu Beweiszwecken im Strafverfahren nur zur Aufklärung solcher Straftaten verwendet werden, zu deren Aufklärung eine solche Maßnahme nach diesem Gesetz hätte angeordnet werden dürfen.

§ 147 Abs. 2 und 5, 6 StPO lautet:

(2) Ist der Abschluss der Ermittlungen noch nicht in den Akten vermerkt, kann dem Verteidiger die Einsicht in die Akten oder einzelne Aktenteile sowie die Besichtigung von amtlich verwahrten Beweis­ge­gen­ständen versagt werden, soweit dies den Unter­su­chungszweck gefährden kann. Liegen die Voraussetzungen von Satz 1 vor und befindet sich der Beschuldigte in Unter­su­chungshaft oder ist diese im Fall der vorläufigen Festnahme beantragt, sind dem Verteidiger die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Freiheits­ent­ziehung wesentlichen Informationen in geeigneter Weise zugänglich zu machen; in der Regel ist insoweit Akteneinsicht zu gewähren.

(3) [...],

(4) [...]

(5) Über die Gewährung der Akteneinsicht entscheidet im vorbereitenden Verfahren und nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens die Staats­an­walt­schaft, im Übrigen der Vorsitzende des mit der Sache befassten Gerichts. Versagt die Staats­an­walt­schaft die Akteneinsicht, nachdem sie den Abschluss der Ermittlungen in den Akten vermerkt hat, versagt sie die Einsicht nach Absatz 3 oder befindet sich der Beschuldigte nicht auf freiem Fuß, so kann gerichtliche Entscheidung durch das nach § 162 zuständige Gericht beantragt werden. Die §§ 297 bis 300, 302, 306 bis 309, 311a und 473a gelten entsprechend. Diese Entscheidungen werden nicht mit Gründen versehen, soweit durch deren Offenlegung der Unter­su­chungszweck gefährdet werden könnte.

(6) Ist der Grund für die Versagung der Akteneinsicht nicht vorher entfallen, so hebt die Staats­an­walt­schaft die Anordnung spätestens mit dem Abschluss der Ermittlungen auf. Dem Verteidiger ist Mitteilung zu machen, sobald das Recht zur Akteneinsicht wieder uneingeschränkt besteht.

(7) [...]

Quelle: Bundesgerichtshof/ra-online

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