In der vorliegenden Sache geht es um die Frage, ob die von einem Unternehmer geltend gemachten Vorsteuerbeträge aus Rechnungen auch dann abziehbar sind, wenn es sich unter der in den Rechnungen angegebenen Anschrift des Lieferers lediglich um einen "Briefkastensitz" gehandelt hat, oder ob nur die Angabe derjenigen Anschrift des leistenden Unternehmers zum Vorsteuerabzug berechtigt, unter der der leistende Unternehmer seine wirtschaftlichen Aktivitäten entfaltet.
Der Kläger des zugrunde liegenden Verfahrens, ein Kfz-Händler, erwarb Pkws. In den Rechnungen des Verkäufers, der seinerseits Fahrzeuge im Onlinehandel vertrieb, war eine Anschrift angegeben, an der der Verkäufer zwar Räumlichkeiten angemietet hatte, die aber nicht geeignet waren, um dort geschäftliche Aktivitäten zu entfalten. Soweit der Bundesfinanzhof in seinem Verfahren den EuGH anruft, ging es ebenfalls um einen KFZ-Händler, der von einem anderen Verkäufer Fahrzeuge erwarb. Unter der vom Verkäufer in den Rechnungen angegebenen Anschrift befand sich zwar der statuarischer Sitz; es handelte sich hierbei jedoch um einen "Briefkastensitz", unter der der Verkäufer lediglich postalisch erreichbar war und wo keine geschäftlichen Aktivitäten stattgefunden haben.
Der Bundesfinanzhof sah es als klärungsbedürftig an, ob eine zum Vorsteuerabzug erforderliche Rechnung die "vollständige Anschrift" bereits dann enthält, wenn der leistende Unternehmer in der von ihm über die Leistung ausgestellten Rechnung eine Anschrift angibt, unter der er zwar postalisch zu erreichen ist, oder ob der Vorsteuerabzug die Angabe einer Anschrift des Steuerpflichtigen voraussetzt, unter der er seine wirtschaftlichen Tätigkeiten entfaltet.
Die Vorlagen sind erforderlich geworden, weil das Urteil des EuGH vom 22. Oktober 2015 (Az. C-277/14) möglicherweise den Schluss zulässt, dass es für den Vorsteuerabzug nicht auf das Vorliegen aller formellen Rechnungsvoraussetzungen ankommt oder zumindest die vollständige Anschrift des Steuerpflichtigen keine Anschrift voraussetzt, unter der wirtschaftliche Tätigkeiten entfaltet wurden. Der V. Senat hat Zweifel, ob seine bisherige ständige Rechtsprechung, nach der die formellen Rechnungsvoraussetzungen die Angabe der zutreffenden Anschrift des leistenden Unternehmers voraussetzt, unter der er seine wirtschaftlichen Aktivitäten entfaltet, mit dieser Rechtsprechung des EuGH in Einklang steht. Nach Ansicht des Bundesfinanzhofs ist nach der Entscheidung des EuGH im Hinblick auf das Vorsteuerabzugsrecht des Leistungsempfängers möglicherweise nicht entscheidend, ob unter der in der Rechnung angegebenen Adresse i.S. von Art. 226 Nr. 5 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem eine wirtschaftliche Tätigkeit des Leistenden ausgeübt wird.
Fehlen formelle Rechnungsvoraussetzungen, kann nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs der Vorsteuerabzug unter bestimmten Voraussetzungen in einem gesonderten Billigkeitsverfahren aus Vertrauensschutzgesichtspunkten gewährt werden. Der Bundesfinanzhof hat daher den EuGH in den Vorabentscheidungsersuchen insoweit um Klärung der Voraussetzungen für effektiven Vertrauensschutz gebeten.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 12.07.2016
Quelle: Bundesfinanzhof/ra-online