21.11.2024
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Dokument-Nr. 13377

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Bundesarbeitsgericht Urteil18.04.2012

Arbeit­ge­ber­leis­tungen als Erfüllung eines Mindest­lohn­an­spruchs nach dem Arbeit­neh­me­rent­sen­de­gesetzWelche Arbeit­ge­ber­leis­tungen können auf den Mindestlohn angerechnet werden und welche nicht?

Ein Arbeitnehmer, dessen Arbeits­ver­hältnis im Geltungsbereich eines nach § 5 TVG allge­mein­ver­bind­lichen oder in seiner Wirkung nach § 1 Abs. 3a AEntG 2007 (jetzt § 7 AEntG 2009) auf bisher nicht an ihn gebundene Arbeits­ver­hältnisse erstreckten Tarifvertrages liegt, hat gegen seinen Arbeitgeber einen Anspruch auf den dort geregelten Mindestlohn. Für die Frage, ob und inwieweit der Arbeitgeber diesen Anspruch durch anderweitige Leistungen erfüllt hat, kommt es darauf an, welchen Zweck die anderen Leistungen haben. Sie sind dann als funktional gleichwertig zum Mindestlohn anzusehen, wenn sie dazu dienen, die nach dem allge­mein­ver­bind­lichen Tarifvertrag vorausgesetzte „Normalleistung“ abzugelten, nicht jedoch, wenn sie über die vom Tarifvertrag vorausgesetzte Verpflichtung hinaus geleistete Arbeitsstunden oder unter demgegenüber besonderen Erschwernissen geleistete Arbeit vergüten sollen.

Das Bundes­a­r­beits­gericht hat sich in zwei Rechtss­trei­tig­keiten mit hiermit im Zusammenhang stehenden Einzelfragen zu befassen. Die Arbeits­ver­hältnisse der beiden Kläger unterlagen im Streitzeitraum vom 1. Juli 2007 bis zum 30. Juni 2008 den allge­mein­ver­bind­lichen Tarifverträgen des Gebäu­de­r­ei­ni­ger­handwerks und der am 1. April 2008 in Kraft getretenen Verordnung über zwingende Minde­st­a­r­beits­be­din­gungen im Gebäu­de­r­ei­ni­ger­handwerk nach § 1 Abs. 3a AEntG 2007. Die beklagte Arbeitgeberin gehört zum Deutsche-Bahn-Konzern und vergütet die beiden Kläger nach einem konzerneigenen Tarif­ver­trags­system. Die im Streitzeitraum danach gezahlten Grund­s­tun­denlöhne lagen unterhalb der jeweiligen Mindestlöhne der Gebäu­de­r­ei­ni­ger­ta­rif­verträge. Die Beklagte zahlte aber neben den Stundenlöhnen verschiedene Zuschläge, Einmalzahlungen, Urlaubsgelder und vermö­gens­wirksame Leistungen, die sie - ua. unter Berufung auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) - sämtlich auf die von den Klägern geltend gemachten Mindestlöhne nach den Gebäu­de­r­ei­ni­ger­ta­rif­ver­trägen angerechnet hat. Die Kläger haben die Auffassung vertreten, diese weiteren Leistungen könnten nicht auf die Mindestlöhne angerechnet werden, so dass die Arbeitgeberin zur Zahlung der Differenz weiterhin verpflichtet sei.

Verkehrs­mit­tel­zulage auf geschuldeten Mindestlohn anzurechnen

Der Senat hat in der Sache 4 AZR 139/10 der Arbeitgeberin Recht gegeben, weil die von der Arbeitgeberin neben dem Tarif­stun­denlohn für jede Arbeitsstunde gezahlte „Verkehrs­mit­tel­zulage“, unter deren Einschluss der Kläger mehr als den Mindestlohn erhielt, auf den geschuldeten Mindestlohn anzurechnen ist. Eine solche Zulage war für die von dem Arbeitnehmer verrichtete Arbeit nach den Gebäu­de­r­ei­ni­ger­ta­rif­ver­trägen nicht vorgesehen, die aber ausweislich ihres Geltungs­be­reichs den Mindestlohn auch für Verkehrs­mit­tel­rei­nigung festlegt hatten.

Rechtsstreit wegen Rechtsfragen an den Gerichtshof ausgesetzt

In dem Rechtsstreit 4 AZR 168/10 war dem Kläger die Verkehrs­mit­tel­zulage nicht gezahlt worden. Den danach verbleibenden Vergü­tungs­dif­fe­ren­zan­spruch des Klägers hat die Beklagte nach der vorläufigen Einschätzung des Senats auf der Grundlage des nationalen (Tarifrechts-) Verständnisses zumindest nicht vollständig erfüllt. Jedenfalls die von der Beklagten erbrachten nach den Gebäu­de­r­ei­ni­ger­ta­rif­ver­trägen nicht vorgesehenen vermö­gens­wirksamen Leistungen sind hiernach nicht als Erfüllung des Mindestlohns anzusehen. Sie sind nicht mit dem Grund­s­tun­denlohn der Gebäudereiniger-Lohnta­rif­verträge funktional gleichwertig, sondern erfüllen unabhängig von der Art und Entlohnung der zu leistenden Arbeit die Funktion einer Vermö­gens­bildung in Arbeit­neh­merhand und stehen überdies dem Arbeitnehmer nicht zusammen mit dem laufenden Entgelt zur Verfügung. Diese Auslegung des Senats beruht allein auf der Grundlage eines inner­staat­lichen Sachverhalts ohne grenz­über­schrei­tenden Bezug. Die hier einschlägigen Rechts­grundlagen, insbesondere § 1 Abs. 3a AEntG 2007 (jetzt § 7 AEntG 2009) müssen nach Einschätzung des Senats jedoch bei inner­staat­lichen und grenz­über­schrei­tenden Sachverhalten in gleicher Weise ausgelegt werden. Da für einen grenz­über­schrei­tenden Sachverhalt die Rechtsprechung des EuGH letzt­ver­bindlich ist, hat der Senat dem Gerichtshof im Wege des Vorab­ent­schei­dungs­ver­fahrens zwei Rechtsfragen zur Entscheidung vorgelegt und den Rechtsstreit ausgesetzt:

Erläuterungen

1. Ist der Begriff ‚Mindest­lohnsätze’ in Art. 3 Abs. 1 Buchst. c) der Richtlinie 96/71/EG dahin auszulegen, dass er die Gegenleistung des Arbeitgebers für diejenige Arbeitsleistung des Arbeitnehmers bezeichnet, die nach der in Art. 3 Abs. 1 Eingangssatz der Richtlinie genannten Rechts- oder Verwal­tungs­vor­schrift oder dem allge­mein­ver­bind­lichen Tarifvertrag allein und vollständig mit dem tariflichen Mindestlohn abgegolten werden soll („Normalleistung“), und deshalb nur Arbeit­ge­ber­leis­tungen auf die Verpflichtung zur Zahlung des Mindest­lohn­satzes angerechnet werden können, die diese Normalleistung entgelten und spätestens zu dem Fällig­keits­termin für den jeweiligen Lohnzah­lungs­zeitraum dem Arbeitnehmer zur Verfügung stehen müssen?

2. Ist der Begriff ‚Mindest­lohnsätze’ in Art. 3 Abs. 1 Buchst. c) der Richtlinie 96/71/EG dahin auszulegen, dass er nationalen Bestimmungen oder Gepflogenheiten entgegensteht, nach denen Leistungen eines Arbeitgebers nicht als Bestandteil des Mindestlohns anzusehen und damit nicht auf die Erfüllung des Mindest­lohn­an­spruchs anzurechnen sind, wenn der Arbeitgeber diese Leistungen aufgrund einer tarif­ver­trag­lichen Verpflichtung erbringt, die nach dem Willen der Tarif­ver­trags­parteien und des nationalen Gesetzgebers dazu bestimmt sind, der Bildung von Vermögen in Arbeit­neh­merhand zu dienen, und zu diesem Zweck die monatlichen Leistungen vom Arbeitgeber für den Arbeitnehmer langfristig angelegt werden, zum Beispiel als Sparbeitrag, als Beitrag zum Bau oder Erwerb eines Wohngebäudes oder als Beitrag zu einer Kapita­l­le­bens­ver­si­cherung, und mit staatlichen Zuschüssen und Steuer­ver­güns­ti­gungen gefördert werden, und der Arbeitnehmer erst nach einer mehrjährigen Frist über diese Beiträge verfügen kann, und die Höhe der Beiträge als monatlicher Festbetrag allein von der vereinbarten Arbeitszeit, nicht jedoch von der Arbeits­ver­gütung abhängt („vermö­gens­wirksame Leistungen“)?

Quelle: Bundesarbeitsgericht/ ra-online

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