21.11.2024
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil18.12.2007

EuGH: Kollektive Maßnahmen zur Durchsetzung von Mindestlöhnen können zulässig seinMaßnahme muss sich mit dem Allge­mein­in­teresse des Arbeit­neh­mer­schutzes rechtfertigen lassen

Der Europäische Gerichtshof äußert sich zur Vereinbarkeit einer kollektiven Maßnahme mit dem Gemein­schaftsrecht, mit der eine gewerk­schaftliche Organisation versucht, einen ausländischen Dienstleister zu zwingen, Lohnver­hand­lungen aufzunehmen und einem Tarifvertrag beizutreten. Eine derartige Maßnahme in Form einer Baustel­len­blockade stellt eine Beschränkung des freien Dienst­leis­tungs­verkehrs dar, die sich im vorliegenden Fall nicht mit dem Allge­mein­in­teresse des Arbeit­neh­mer­schutzes rechtfertigen lässt.

Die Richtlinie 96/71 über die Entsendung von Arbeitnehmern sieht vor, dass die Beschäf­ti­gungs­be­din­gungen, die den entsandten Arbeitnehmern im Aufnah­me­mit­gliedstaat garantiert werden, durch Rechts- oder Verwal­tungs­vor­schriften und/oder - in der Baubranche -durch für allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge oder Schiedssprüche festgelegt werden. Das schwedische Arbeit­neh­me­rent­sen­de­gesetz präzisiert mit Ausnahme der Mindest­lohnsätze die Arbeits- und Beschäf­ti­gungs­be­din­gungen für die in der Richtlinie 96/71 aufgeführten Sachgebiete. Das Gesetz enthält keine Bestimmungen über das Entgelt, dessen Festlegung in Schweden traditionell den Sozialpartnern im Wege von Kollek­tiv­ver­han­dungen überlassen bleibt. Das schwedische Recht gestattet den gewerk­schaft­lichen Organisationen, unter bestimmten Voraussetzungen kollektive Maßnahmen zu ergreifen, um einen Arbeitgeber zur Aufnahme von Lohnver­hand­lungen und zum Beitritt zu einem Tarifvertrag zu zwingen.

Im Mai 2004 entsandte Laval un Partneri Ltd, eine lettische Gesellschaft, Arbeitnehmer aus Lettland zur Durchführung von Bauarbeiten nach Schweden. Die Arbeiten wurden von ihrer Tochter­ge­sell­schaft L&P Baltic Bygg AB ausgeführt. Es handelte sich u. a. um die Renovierung und Erweiterung eines Schulgebäudes in der Stadt Vaxholm.

Im Juni 2004 nahmen Laval, Baltic Bygg und die schwedische Bauar­bei­ter­ge­werk­schaft Svenska Byggnads­a­r­be­ta­re­för­bundet Verhandlungen über die Festlegung der Lohnsätze der entsandten Arbeitnehmer und den Beitritt von Laval zum Bautarifvertrag auf. Zu einem Abschluss kam es nicht. Im September und im Oktober unterzeichnete Laval Tarifverträge mit der lettischen Baugewerkschaft, der 65 % der entsandten Arbeitnehmer angehörten.

Am 2. November 2004 leitete Byggnads­a­r­be­ta­re­för­bundet kollektive Maßnahmen in Form einer Blockade sämtlicher Baustellen von Laval in Schweden ein. Die schwedische Elektri­ker­ge­werk­schaft schloss sich mit Sympa­thie­maß­nahmen dem Arbeitskampf an, was dazu führte, dass sich die Elektriker gehindert sahen, Leistungen an Laval zu erbringen. Unter dem Personal von Laval befanden sich keine Mitglieder dieser Gewerkschaften. Infolge der eine gewisse Zeit währenden Unterbrechung der Arbeiten wurde Baltic Bygg für insolvent erklärt, und die entsandten Arbeitnehmer kehrten nach Lettland zurück.

Laval erhob beim Arbetsdomstol eine Klage, bei der es insbesondere um die Rechtmäßigkeit der kollektiven Maßnahmen und um Schadensersatz geht; das Gericht ersucht den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften um Antwort auf die Frage, ob das Gemein­schaftsrecht dem entgegensteht, dass gewerk­schaftliche Organisationen unter den beschriebenen Umständen solche kollektiven Maßnahmen durchführen.

Zunächst stellt der Gerichtshof fest, dass die Richtlinie 96/71 es dem Aufnah­me­mit­gliedstaat nicht erlaubt, die Erbringung einer Dienstleistung in seinem Hoheitsgebiet davon abhängig zu machen, dass Arbeits- und Beschäf­ti­gungs­be­din­gungen eingehalten werden, die über die zwingenden Bestimmungen über ein Mindestmaß an Schutz hinausgehen. Für die in der Richtlinie 96/71 genannten Aspekte sieht diese nämlich ausdrücklich den Grad an Schutz vor, den in anderen Mitgliedstaaten ansässige Unternehmen im Aufnah­me­mit­gliedstaat den von ihnen in dessen Hoheitsgebiet entsandten Arbeitnehmern zu garantieren haben.

Sodann stellt der Gerichtshof fest, dass das Recht auf Durchführung einer kollektiven Maßnahme als Grundrecht anzuerkennen ist, das fester Bestandteil der allgemeinen Grundsätze des Gemein­schafts­rechts ist, deren Beachtung der Gerichtshof sicherstellt; doch kann seine Ausübung bestimmten Beschränkungen unterworfen werden. Der Grund­recht­s­cha­rakter des Rechts auf Durchführung einer kollektiven Maßnahme vermag jedoch eine derartige Maßnahme, die sich gegen ein in einem anderen Mitgliedstaat ansässiges und Arbeitnehmer im Rahmen einer länder­über­grei­fenden Erbringung von Dienst­leis­tungen entsendendes Unternehmen richtet, nicht dem Anwen­dungs­bereich des Gemein­schafts­rechts zu entziehen.

Im vorliegenden Fall stellt der Gerichtshof fest, dass das Recht der gewerk­schaft­lichen Organisationen eines Mitgliedstaats zur Durchführung kollektiver Maßnahmen, durch die sich in anderen Mitgliedstaaten ansässige Unternehmen gezwungen sehen können, Verhandlungen von unbestimmter Dauer zu führen, um Kenntnis von den Mindest­lohn­sätzen zu erlangen, und einem Tarifvertrag beizutreten, dessen Klauseln über den mit der Richtlinie 96/71 sicher­ge­stellten Mindestschutz hinausgehen, geeignet ist, für diese Unternehmen die Durchführung von Bauarbeiten im schwedischen Hoheitsgebiet weniger attraktiv zu machen, ja sogar zu erschweren, und daher eine Beschränkung des freien Dienst­leis­tungs­verkehrs darstellt. Eine Beschränkung des freien Dienst­leis­tungs­verkehrs lässt sich nur rechtfertigen, wenn mit ihr ein berechtigtes und mit dem Vertrag zu vereinbarendes Ziel verfolgt wird und wenn sie durch zwingende Gründe des Allge­mein­in­teresses gerechtfertigt ist, soweit sie in einem solchen Fall geeignet ist, die Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.

Insoweit weist der Gerichtshof darauf hin, dass im Recht auf Durchführung einer kollektiven Maßnahme, die den Schutz der Arbeitnehmer des Aufnah­me­mit­glied­staats gegen ein etwaiges Sozialdumping zum Ziel hat, ein zwingender Grund des Allge­mein­in­teresses liegen kann. In diesem Zusammenhang fällt eine Blockade von Baustellen, die von einer gewerk­schaft­lichen Organisation des Aufnah­me­mit­glied­staats eingeleitet wird und die darauf abzielt, den im Rahmen einer länder­über­grei­fenden Erbringung von Dienst­leis­tungen entsandten Arbeitnehmern Arbeits- und Beschäf­ti­gungs­be­din­gungen auf einem bestimmten Niveau zu garantieren, unter das Ziel des Arbeit­neh­mer­schutzes.

Angesichts der spezifischen Verpflichtungen, die mit dem Beitritt zum Bautarifvertrag verbunden sind, den die gewerk­schaft­lichen Organisationen den in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmen durch eine kollektive Maßnahme aufzwingen wollen, lässt sich jedoch die Behinderung, die mit dieser Maßnahme einhergeht, nicht im Hinblick auf ein derartiges Ziel rechtfertigen. Denn für die im Rahmen einer länder­über­grei­fenden Erbringung von Dienst­leis­tungen entsandten Arbeitnehmer ist deren Arbeitgeber infolge der über die Richtlinie 96/71 herbeigeführten Koordinierung gehalten, einen Kern zwingender Bestimmungen über ein Mindestmaß an Schutz im Aufnah­me­mit­gliedstaat zu beachten.

Was die Lohnver­hand­lungen betrifft, zu denen die gewerk­schaft­lichen Organisationen die in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen und vorübergehend Arbeitnehmer in das Gebiet des Aufnah­me­mit­glied­staats entsendenden Arbeitgeber mit einer kollektive Maßnahme bewegen wollen, so unterstreicht der Gerichtshof, dass das Gemein­schaftsrecht es den Mitgliedstaaten nicht verbietet, gegenüber solchen Unternehmen die Beachtung ihrer Vorschriften auf dem Gebiet des Mindestlohns mit geeigneten Mitteln durchzusetzen.

Kollektive Maßnahmen können jedoch nicht im Hinblick auf das im Allge­mein­in­teresse liegende Ziel des Arbeit­neh­mer­schutzes gerechtfertigt werden, wenn die Lohnver­hand­lungen, zu denen diese Maßnahmen ein in einem anderen Mitgliedstaat ansässiges Unternehmen bewegen sollen, sich in einen nationalen Kontext einfügen, für den kennzeichnend ist, dass Vorschriften jeder Art fehlen, die hinreichend genau und zugänglich wären, um in der Praxis die Feststellung seitens eines derartigen Unternehmens, welche Verpflichtungen es hinsichtlich des Mindestlohns beachten müsste, nicht unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren.

Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass eine nationale Regelung, die die Tarifverträge, durch die Arbeitnehmer nach Schweden entsendende Unternehmen bereits in dem Mitgliedstaat, in dem sie ansässig sind, gebunden sind, unabhängig von ihrem Inhalt nicht berücksichtigt, gegenüber diesen Unternehmen eine Diskriminierung schafft, soweit sie für sie die gleiche Behandlung wie für nationale Unternehmen vorsieht, die keinen Tarifvertrag geschlossen haben. Aus dem Vertrag ergibt sich, dass derartige diskri­mi­nierende Vorschriften nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sein können. Die Anwendung dieser Regelung auf ausländische Unternehmen, die durch Tarifverträge, auf die das schwedische Recht nicht unmittelbar anwendbar ist, gebunden sind, bezweckt zum einen, es den gewerk­schaft­lichen Organisationen zu ermöglichen, Maßnahmen zu ergreifen, damit alle auf dem schwedischen Arbeitsmarkt vertretenen Arbeitgeber Vergütungen zahlen und auch im Übrigen Beschäf­ti­gungs­be­din­gungen einhalten, die den gewöhnlich in Schweden praktizierten entsprechen, und zielt zum anderen darauf ab, Voraussetzungen für einen lauteren Wettbewerb zu gleichen Bedingungen zwischen schwedischen Arbeitgebern und Unternehmen zu schaffen, die aus anderen Mitgliedstaaten kommen.

Da keine dieser Erwägungen zu den Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit zählt, lässt sich eine derartige Diskriminierung nicht rechtfertigen.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 98/07 des EuGH vom 18.12.2007

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