21.11.2024
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Dokument-Nr. 32365

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Verfassungsgerichtshof Berlin Urteil16.11.2022

Verfassungs­gerichts­hof des Landes Berlin erklärt die Wahlen zum Berliner Abgeord­ne­tenhaus und zu den Bezirks­verordneten­versammlungen vom September 2021 für ungültigEine nur punktuelle Wahlwie­der­holung in einzelnen Wahlkreisen wäre angesichts der Vielzahl und Schwere der Wahlfehler nicht geeignet

Der Verfassungs­gerichts­hof des Landes Berlin hat die Wahlen zum 19. Berliner Abgeord­ne­tenhaus und zu den zwölf Berliner Bezirks­verordneten­versammlungen (BVVen) vom 26. September 2021 insgesamt für ungültig erklärt. Die Entscheidung erging in dem Wahlprüfungs­verfahren über die Einsprüche der Landes­wahl­leitung, der Senats­ver­waltung für Inneres, Digitalisierung und Sport sowie der politischen Parteien AfD und Die PARTEI. Die Einsprechenden hatten die Wahlen jeweils teilweise – in unter­schied­lichem Umfang – angefochten.

Nach umfassender Auswertung aller 2.256 Protokolle aus sämtlichen Berliner Wahllokalen, der von der Landes­wahl­leitung zur Verfügung gestellten Daten sowie Prüfung der rund hundert Schriftsätze der insgesamt über 3.000 Verfah­rens­be­tei­ligten ist der Verfas­sungs­ge­richtshof zu der Überzeugung gelangt, dass verfas­sungs­rechtliche Standards nur durch die komplette Ungül­tig­keits­er­klärung der Berliner Wahlen gewährleistet werden können. Schon die Vorbereitung der Wahlen stellt für sich genommen einen Wahlfehler dar, der weitere erhebliche Wahlfehler nach sich gezogen hat. Damit ist in mehrfacher Hinsicht gegen die in der Berliner Verfassung niedergelegten Wahlgrundsätze verstoßen worden. Die Wahlfehler sind mandatsrelevant. Eine nur punktuelle Wahlwie­der­holung in einzelnen Wahlkreisen wäre angesichts der Vielzahl und Schwere der Wahlfehler nicht geeignet, einen verfas­sungs­gemäßen Zustand herzustellen.

Wahlen in ganz Berlin müssen wiederholt werden - Wahlen zum Bundestag sind nicht betroffen

Gemäß § 21 Abs. 1 Landes­wahl­gesetz (LWahlG) müssen die Wahlen nun in ganz Berlin wiederholt werden. § 21 Abs. 3 S. 1 LWahlG sieht hierfür eine Frist von 90 Tagen vor. Die Wahlen zum Bundestag in Berlin sind davon nicht betroffen. Hierüber wird auf Bundesebene in einem eigenen, gesondert geregelten Verfahren entschieden. Schon die Vorbereitung der Wahlen haben den in den Landes­wahl­vor­schriften niedergelegten Anforderungen nicht genügt und Auswirkungen auf das gesamte Wahlgeschehen gehabt. Sie stellen für sich genommen bereits einen Wahlfehler dar. Diese Vorbe­rei­tungs­mängel waren die Ursache dafür, dass es am Wahltag zu weiteren Wahlfehlern gekommen ist. Die von der Landes­wahl­leitung angestellten Prognosen zur Dauer der Wahlhandlung (drei Minuten) haben bei der tatsächlich zur Verfügung stehenden Anzahl von Wahlkabinen (durch­schnittlich 2,36 pro Wahllokal) gemessen an der gesetzlich vorge­schriebenen Wahlzeit (von 8 bis 18 Uhr) rechnerisch dazu geführt, dass pro Wahllokal lediglich 472 Personen in Präsenz wählen konnten. Bei einer angesichts von insgesamt sechs abzugebenden Stimmen auf fünf Stimmzetteln weitaus realistischeren zeitlichen Prognose von fünf Minuten hätten durch­schnittlich sogar nur 283 Wahlberechtigte in einem Wahllokal ihre Stimme abgeben können. Tatsächlich waren am 26. September 2021 jedoch in jedem Wahllokal durch­schnittlich 1.085 Personen wahlberechtigt (in Pankow sogar durch­schnittlich 1.312 Personen). Angesichts dieser hohen Zahl der Wahlbe­rech­tigten pro Wahllokal war eine ordnungsgemäße Wahl nicht mehr gewährleistet. Denn schon nach der unrealistischen, weil angesichts der Komplexität der Wahlen zu kurz bemessenen Prognose der Landes­wahl­leitung hätten damit nur 40 Prozent der Wahlbe­rech­tigten die realisierbare Möglichkeit gehabt, zur Urne zu gehen. Unter Zugrundelegung einer realistischeren zeitlichen Prognose hatten also sogar weit weniger Wahlberechtigte die Möglichkeit, ihre Stimme im Wahllokal abzugeben, nämlich nur 26 Prozent. Auf die Wahl in Präsenz hat aber jede und jeder Wahlberechtigte einen verfas­sungs­mäßigen Anspruch. Obwohl im Vorfeld des 26. September 2021 bekannt geworden war, dass im Zuge des Druckprozesses Stimmzettel vertauscht worden waren, kam es nicht in allen Bezirken zu einer Überprüfung. Dies führte dazu, dass am Wahltag in mindestens fünf von zwölf Bezirken falsche Stimmzettel, d.h. für einen anderen Wahlkreis­verband bzw. Wahlkreis vorgesehene Stimmzettel, ausgegeben wurden. Die auf falschen Stimmzetteln abgegebenen Stimmen sind ungültig. Faktisch sind die betroffenen Wählerinnen und Wähler damit von der Wahl ausgeschlossen worden. Einige Bezirks­wahlämter haben entgegen § 42 Landes­wahl­ordnung (LWO) den Wahlvorständen vorab nicht alle benötigten Stimmzettel ausgehändigt, so dass die betroffenen Wahllokale unterversorgt waren. Bei der Nachbelieferung kam es zu erheblichen Verzögerungen. Einige Wahllokale haben daraufhin zwischen­zeitlich geschlossen, ohne dass für die wahlwilligen Wartenden erkennbar gewesen wäre, wann mit einer erneuten Öffnung zu rechnen sei. In anderen Wahlkreisen wurden Kopien von Stimmzetteln angefertigt. Diese sind als ungültig zu werten, da sie nicht den gesetzlichen Bestimmungen entsprechen; die betroffenen Bezirks­wahlämter konnten noch nicht einmal Angaben zur Anzahl der ausgehändigten Kopien machen.

Systemische Mängel bereits in der Vorbereitung

Auch die dokumentierten, oft stundenlangen Wartezeiten vor den Wahllokalen und die aufgrund der zur Verfügung stehenden Zahlen errechneten geset­zes­widrigen Schließungen von Wahllokalen während der Wahlzeit (insgesamt 6.294 Minuten) sowie die ebenfalls exakt bezifferbare flächendeckende Öffnung der Wahllokale über 18 Uhr hinaus (insgesamt 21.941 Minuten) sind Folge dieser mangelhaften Vorbereitung gewesen. Der Um-stand etwa, dass flächendeckend noch nach 18 Uhr gewählt wurde, obwohl zu diesem Zeitpunkt schon erste Prognosen auf Grundlage von Nachwahl­be­fra­gungen veröffentlicht worden waren und sich ein „Kopf-an-Kopf-Rennen“ abzeichnete, verletzt die betroffenen wahlbe­rech­tigten Bürgerinnen und Bürger in ihren verfas­sungs­rechtlich garantierten Rechten zur Teilnahme am demokratischen Willens­bil­dungs­prozess. Aufgrund der zur Verfügung stehenden Daten steht damit fest, dass nicht nur einzelne, sondern tausende Wahlberechtigte am Wahltag in Berlin ihre Stimme nicht, nicht wirksam, nur unter unzumutbaren Bedingungen oder nicht unbeeinflusst abgeben konnten. Damit sind die in der Verfassung des Landes Berlin festgelegten Grundsätze der Freiheit, der Allgemeinheit und der Gleichheit der Wahl verletzt.

Schwerwiegende Wahlfehler vorliegend auch mandatsrelevant

Diese schwerwiegenden Wahlfehler sind auch mandatsrelevant. Mandatsrelevanz liegt vor, wenn die konkrete Möglichkeit besteht, dass sich die festgestellten Wahlfehler auf die Sitzverteilung ausgewirkt haben könnten. Davon ist vorliegend auszugehen. Zwar ist die Gesamtanzahl der von Wahlfehlern betroffenen Stimmen nicht mathematisch präzise zu ermitteln. So ist es etwa unmöglich herauszufinden, wie viele Wahlberechtigte infolge der langen Warteschlangen und Unterbrechungen nicht gewählt haben, weil sie angesichts der Aussichts­lo­sigkeit der Stimmabgabe wieder nach Hause gegangen sind. Die von Wahlfehlern betroffenen Stimmen lassen sich aber näherungsweise ermitteln, indem man die Anzahl der dokumentierten Wahlfehler zusammenzählt: die nachweislich nicht ausgegebenen Stimmzettel (3.910 Stimmzettel für die Erststimme und 1.546 Stimmzettel für die Zweitstimme), die falschen Stimmzettel (1.939 Stimmzettel für die Erststimme und 2.063 Stimmzettel für die Zweitstimme), die kopierten und damit als ungültig zu wertenden Stimmzettel (laut Aussagen des betroffenen Bezirks­wahlamtes Friedrichshain-Kreuzberg „mehrere tausend“), die Dauer der Unterbrechungen der Wahlhandlungen (6.294 Minuten) und die Gesamtdauer der nach 18 Uhr geöffneten Wahllokale (21.941 Minuten). Daraus ergibt sich, dass mindestens 20.000 bis 30.000 Stimmen von Wahlfehlern betroffen sind. Die Ungewissheit, wie sich diese 20.000 bis 30.000 Stimmen bei einem ordnungsgemäßen Wahlablauf verteilt haben könnten, führt nach Überzeugung des Verfas­sungs­ge­richtshofes zu einer Vielzahl von Möglichkeiten, wie sie die Sitzverteilung beeinflusst haben könnten. Denn anders als zum Teil von Verfah­rens­be­tei­ligten vorgetragen, erfordert die Feststellung der Mandatsrelevanz nach § 40 Abs. 2 Nr. 8 des Gesetzes über den Verfas­sungs­ge­richtshof (VerfGHG) keinen Einfluss auf die Mehrheits­ver­hältnisse, sondern einen Einfluss auf die Sitzverteilung. In einigen Wahlkreisen hätten schon dreistellige Zahlen anders abgegebener Stimmen ausgereicht, um die Sitzverteilung zu verändern.

Überwiegen des Korrek­tu­r­in­teresses

Die auf der Rechts­fol­genseite zu treffende Abwägung zwischen dem Bestand­s­in­teresse eines einmal gewählten Parlaments und dem Korrek­tu­r­in­teresse auf der anderen Seite führt nach Überzeugung des Verfas­sungs­ge­richtshofes zu einem Überwiegen des Korrek­tu­r­in­teresses. Denn nur so kann das verfas­sungs­rechtlich garantierte Wahlrecht der wahlbe­rech­tigten Berlinerinnen und Berliner und damit auch die rechtmäßige Zusammensetzung des von ihnen gewählten Parlaments garantiert werden. Hierbei hat der Verfas­sungs­ge­richtshof insbesondere auch berücksichtigt, dass die Wahlfehler nicht durch unvor­her­ge­sehene Umstände wie etwa eine Natur­ka­ta­s­trophe oder eine Sabotage bedingt gewesen sind. Vielmehr haben sie ihre Ursache nach den getroffenen Feststellungen in einem Organi­sa­ti­o­ns­ver­schulden der für die Wahlen zuständigen Behörden des Landes Berlin. Zwar unterscheidet sich der Umfang potentiell betroffener Zweitstimmen in den Wahlkreisen und Wahlkreis­ver­bänden teilweise erheblich. Im Hinblick auf die Ermittlung der Sitzverteilung nach den §§ 17 bis 19 LWahlG sowie die Kombination von Bezirks- und Landeslisten können die Stimmabgaben bezüglich der Zweitstimme in den unter­schied­lichen Wahlkreis­ver­bänden jedoch nicht losgelöst voneinander betrachtet werden.

Rund 60 Prozent der Sitze von mandats­re­le­vanten Wahlfehlern betroffen

Die Wahl ist im gesamten Wahlgebiet für ungültig zu erklären. Dafür spricht u.a., dass nach den ermittelten Zahlen alle Zweitstimmen, d. h. derzeit 69 Sitze im Abgeord­ne­tenhaus, so*wie ein substantieller Teil der Erststimmen, d. h. mindestens weitere 19 Sitze, und damit insgesamt 88 von 147 Sitzen – rund 60 Prozent – von mandats­re­le­vanten Wahlfehlern betroffen sind. Eine nur punktuelle Wieder­ho­lungswahl widerspräche dem verfas­sungs­recht­lichen Grundsatz, dass das Gesamtergebnis einer Wahl eine einheitliche Momentaufnahme des Volkswillens zu einem bestimmten Zeitpunkt darstellen soll. Das Gesamtergebnis der Wahl verlöre seinen Charakter als Integra­ti­o­ns­vorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes. Ferner würde eine teilweise Wiederholung der Wahl zu einer unangemessen großen Gestal­tungsmacht einer Minderheit der Wahlbe­rech­tigten führen, denn diese Wählenden könnten ihre Wahlent­scheidung an den politischen Geschehnissen seit der Wahl vollständig neu ausrichten. Wegen des sog. Koppe­lungs­gebots sind die Wahlen zu den Bezirks­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lungen ebenfalls für ungültig zu erklären. Hierfür sprechen im vorliegenden Fall einer kompletten Ungül­ti­g­er­klärung der Wahlen zum Abgeord­ne­tenhaus schon der Wortlaut des Art. 70 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung von Berlin (VvB). Danach werden die Bezirks­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lungen in allgemeiner, gleicher, geheimer und direkter Wahl zur gleichen Zeit wie das Abgeord­ne­tenhaus gewählt. Die Koppelung trägt u.a. dem Grundsatz einer Einheits­ge­meinde, wie sie in Art. 1 Abs. 1 VvB vorgesehen ist, Rechnung. Die Wahlen zu den Bezirks­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lungen sollen damit keinen eigenständigen Charakter erlangen.

Verfas­sungs­rechtliche Anforderungen an demokratische Wahlen nur durch Neuwahlen zu gewährleistet

Die Präsidentin des Verfas­sungs­ge­richtshofes machte in ihrer mündlichen Urteils­be­gründung deutlich, dass sich der Verfas­sungs­ge­richtshof der Tragweite der Entscheidung durchaus bewusst sei. Es sei jedoch zu berücksichtigen, dass es sich um einen einmaligen Vorgang in der Geschichte der Wahlen in der Bundesrepublik Deutschland handele. Nur durch die vollständige Wiederholung der Wahl könne eine Zusammensetzung des Abgeord­ne­ten­hauses und der Bezirks­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lungen gewährleistet werden, die den verfas­sungs­recht­lichen Anforderungen an demokratische Wahlen entspreche. Die Entscheidung ist mit einer Mehrheit von 7 zu 2 Stimmen getroffen worden. Über die weiteren anhängigen Wahlprü­fungs­ver­fahren einzelner Einsprechender wird gesondert informiert werden. Das Gesetz über den Verfas­sungs­ge­richtshof sieht – anders als das zweistufig ausgestaltete Wahlprü­fungs­ver­fahren auf Bundesebene – gegen diese Entscheidung kein reguläres Rechtsmittel vor. Unabhängig davon hätten etwaige außer­or­dentliche Rechtsbehelfe keine aufschiebende Wirkung. Alle bis zur Verkündung der Ungültigkeit erlassenen Rechtsakte des Abgeord­ne­ten­hauses bleiben nach dem heutigen Urteilsspruch wirksam. Wie im Falle regulärer Wahlen sind Parlament und Regierung bis zum Abschluss der (Wiederholungs-)Wahl berechtigt, zur Sicherstellung der Kontinuität staatlichen Handelns ihre jeweiligen Aufgaben wahrzunehme

Quelle: Verfassungsgerichtshof Berlin, ra-online (pm/ab)

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