24.11.2024
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Dokument-Nr. 30274

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Verwaltungsgericht Neustadt Urteil22.04.2021

Bürger haben trotz Corona-Pandemie Anspruch auf mündliche Erörterung ihres Widerspruchs im RechtsausschussEffektiver Rechtsschutz auch während der Corona-Pandemie sicherzustellen

Haben Bürger Widerspruch gegen den Verwaltungsakt einer kommunalen Behörde eingelegt und verzichten sie nicht auf eine mündliche Erörterung ihres Widerspruchs vor dem Rechtsausschuss, so ist dieser nicht berechtigt, im Hinblick auf die bestehende Corona-Pandemie über den Widerspruch ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden. Dies geht aus einem Urteil des Verwal­tungs­ge­richts Neustadt/Wstr. hervor.

Der Landkreis Kusel (im Folgenden: Beklagter) erließ gegenüber der Klägerin im Oktober 2019 einen auf das Bundes­bo­den­schutz­gesetz gestützten belastenden Bescheid, gegen den die Klägerin Widerspruch einlegte. Der Kreis­rechtaus­schuss des Beklagten fragte unter Bezugnahme auf die Covid-19 Pandemie und die damit indizierte Reduzierung privater und öffentlicher Kontakte zweimal bei der Klägerin an, ob sie auf eine mündliche Erörterung ihres Widerspruchs verzichte, was die Klägerin ausdrücklich verneinte. Daraufhin wies der Kreis­rechts­aus­schuss des Beklagten ohne Mitteilung über das weitere Vorgehen und ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung den Widerspruch der Klägerin mit Wider­spruchs­be­scheid vom 15. Februar 2021 u.a. mit der Begründung zurück, über den Widerspruch habe vor dem Hintergrund der durch das Coronavirus Sars-CoV-2 ausgelösten Atemwegs­er­krankung CoVid-19 und der rapiden Zunahme der Fallzahlen auch ohne mündliche Erörterung mit den Beteiligten entschieden werden können. Unter Berück­sich­tigung des aktuellen Infek­ti­o­ns­ge­schehens im Landkreis Kusel, wonach die 7-Tage-lnzidenz größer als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner betrage, sei die Durchführung einer mündlichen Erörterung über den Widerspruch, bei der mindestens sechs Personen aus jeweils unter­schied­lichen Haushalten anwesend wären, nicht vertretbar. Es sei erforderlich, direkte Begegnungen von Menschen vorübergehend auf ein Minimum zu reduzieren. Dem widerspreche es, den Widerspruch mit den Beteiligten mündlich zu erörtern. In der Sache sei der zulässige Widerspruch unbegründet.

VG: Verzicht auf mündlichen Erörterung nur mit Einverständnis aller Beteiligten

Die Klägerin hat im März 2021 isoliert gegen den Wider­spruchs­be­scheid Klage erhoben und die Auffassung vertreten, der Kreis­rechts­aus­schuss sei aufgrund ihres fehlenden Verzichts auf eine mündliche Erörterung des Widerspruchs nicht berechtigt gewesen, im schriftlichen Verfahren zu entscheiden. Das VG hat der Klage mit folgender Begründung stattgegeben: Nach § 16 des Landesgesetzes zur Ausführung der Verwal­tungs­ge­richts­ordnung (AGVwGO) habe der Rechtsausschuss vor Erlass des Wider­spruchs­be­scheids den Widerspruch mit den Beteiligten mündlich zu erörtern. Die Verhandlung sei öffentlich, der Rechtsausschuss könne die Öffentlichkeit aus wichtigem Grund ausschließen. Mit Einverständnis aller Beteiligten könne von der mündlichen Erörterung abgesehen werden. Dieses Einverständnis habe die Klägerin jedoch nicht erteilt.

§ 16 AGVwGO nicht durch Bestimmungen des Infek­ti­o­ns­schutz­rechts verdrängt

Soweit der Kreis­rechts­aus­schuss des Beklagten sich in diesem Zusammenhang unter Bezugnahme auf die Corona-Bekämp­fungs­ver­ordnung Rheinland-Pfalz darauf berufen habe, über den Widerspruch habe er vor dem Hintergrund der durch das Coronavirus Sars-CoV-2 ausgelösten Atemwegs­er­krankung CoVid-19 ohne mündliche Erörterung mit den Beteiligten entscheiden können, könne dem nicht gefolgt werden. Aufgrund der Ausgestaltung des Verfahrens, insbesondere im Hinblick auf die prinzipielle Erfor­der­lichkeit einer mündlichen Verhandlung und den Öffent­lich­keits­grundsatz, handele es sich bei dem Widerspruchsverfahren vor den Rechts­aus­schüssen um ein gericht­s­ähn­liches Verfahren. § 16 AGVwGO werde nicht durch die Bestimmungen des Infek­ti­o­ns­schutz­rechts verdrängt. Es sei daher Aufgabe des Beklagten, für die Durchführung von mündlichen Verhandlungen im Vorverfahren ein Hygienekonzept zu entwickeln, das mit der jeweiligen Corona-Bekämp­fungs­ver­ordnung Rheinland-Pfalz in Einklang stehe. Denn trotz der momentanen Ausnah­me­si­tuation müsse der Beklagte das rechts­s­taatliche Anliegen eines zügigen Verfah­rens­ab­schlusses im Blick haben und einen angemessenen Ausgleich zwischen Infek­ti­o­ns­schutz und Anspruch auf effektiven Rechtsschutz herstellen. So könne der Beklagte den Sitzungssaal lüften, Trennscheiben aus Plexiglas zwischen den Beteiligten aufstellen und auf den erforderlichen Abstand zwischen den Personen sowie das Tragen einer medizinischen Maske oder einer Maske mit Standards KN95/N95 oder FFP 2 achten. Mit der Teilnahme vieler interessierter Zuschauer an einer Verhandlung sei regelmäßig nicht zu rechnen, seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie sogar unwahr­scheinlich. Sollte ein zu verhandelnder Fall ausnahmsweise auf ein großes Interesse der Öffentlichkeit stoßen, stehe es dem Kreis­rechts­aus­schuss zudem frei, an eine größere Sitzungs­ört­lichkeit auszuweichen. Ferner könne er die Öffentlichkeit aus wichtigem Grund, nämlich auch aus Gründen des Gesund­heits­schutzes, ausschließen oder zugangs­be­schränkende Maßnahmen ergreifen.

Kein Ausschluss eines jeden Risikos möglich

Unter diesen Voraussetzungen sei dem Kreis­rechts­aus­schuss des Beklagten die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht unzumutbar. Dass die aufgezählten Maßnahmen zur Verhinderung einer Ansteckung im Verwal­tungs­gebäude des Beklagten offensichtlich unzulänglich wären, eine mit einer Ansteckung einhergehende Gesund­heits­ge­fährdung zu verhindern, sei nicht ersichtlich. Soweit der Kreis­rechts­aus­schuss mit seiner Argumentation letztlich auf den Ausschluss eines jeden Risikos abziele, könne er damit verfas­sungs­rechtlich nicht durchdringen. Gegen das Urteil kann innerhalb eines Monats nach Zustellung Antrag auf Zulassung der Berufung zum Oberver­wal­tungs­gericht Rheinland-Pfalz eingelegt werden.

Quelle: Verwaltungsgericht Neustadt, ra-online (pm/ab)

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