21.11.2024
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Verwaltungsgericht Neustadt Urteil22.06.2017

In Frankreich wohnende Schüler haben Anspruch auf Übernahme von Schüler­beförderungs­kosten für Schulbesuch in Rheinland-PfalzAnspruch folgt aus Art. 7 Abs. 2 der europäischen Arbeitnehmer­freizügigkeits­verordnung

Das Verwal­tungs­gericht Neustadt hat entschieden, dass zwei in Wissembourg/Frankreich wohnende Schüler, die in Bad Bergzabern die Realschule plus besuchen, einen Rechtsanspruch auf Übernahme von Schüler­beförderungs­kosten für das Schuljahr 2015/2016 haben.

Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die beiden im Januar 2000 bzw. im Oktober 2003 geborenen Kläger wohnen mit ihren Eltern, die wie sie deutsche Staats­an­ge­hörige sind, in Wissembourg/Frankreich. Seit dem Schuljahr 2010/2011 (Kläger zu 1) und seit dem Schuljahr 2013/2014 (Klägerin zu 2) besuchen sie die Realschule plus in Bad Bergzabern. Der Schulweg, den sie mit dem Bus zurücklegen, ist länger als 4 km.

Landkreis verweigert künftige Übernahme von Beför­de­rungs­kosten

In der Vergangenheit - nämlich bis zum Schuljahr 2014/2015 - übernahm der beklagte Landkreis Südliche Weinstraße die Fahrtkosten. Mit Bescheiden vom 16. Juni 2015 teilte er mit, dass eine weitere Übernahme dieser Kosten nicht mehr möglich sei, da nach § 69 des rheinland-pfälzischen Schulgesetzes (SchulG) die Schüler ihren Wohnsitz in Rheinland-Pfalz haben müssten.

Vater sieht sich durch Regelung als Grenzgänger diskriminiert

Hiergegen erhoben die Kläger nach erfolgloser Durchführung eines Wider­spruchs­ver­fahrens im November 2016 Klage und machten geltend, dass die von dem Beklagten vertretene Rechts­auf­fassung nicht in Einklang mit den Vorgaben des europäischen Rechts stehe, wonach Grenzgänger nicht diskriminiert werden dürften. Der Vater der Kläger habe in den zurückliegenden Jahren als Grenzgänger mit Wohnsitz in Frankreich und Arbeitsstätte in Deutschland Abgaben an die Sozia­l­ver­si­che­rungs­träger geleistet.

VG verpflichtet Landkreis zur Übernahme der Beför­de­rungs­kosten

Das Verwal­tungs­gericht Neustadt gab der Klage statt und führte zur Begründung aus, dass sich der Anspruch der Kläger zwar nicht unmittelbar aus § 69 SchulG ergebe. Auch wenn der kürzeste nicht besonders gefährliche Fußweg zwischen der Wohnung der Kläger und der Realschule plus Bad Bergzabern länger als 4 km sei, fehle es an der weiteren Voraussetzung, dass die Schülerinnen und Schüler ihren Wohnsitz in Rheinland-Pfalz haben müssten. Die Kläger wohnten jedoch in Wissembourg/Frankreich, mithin nicht in Rheinland-Pfalz. Gleichwohl sei der Beklagte zu verpflichten, die Schülerbeförderungskosten der Kläger für das Schuljahr 2015/2016 zu übernehmen. Dieser Anspruch ergebe sich aus der Vorschrift des Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union. Danach dürfe ein Arbeitnehmer, der Staats­an­ge­höriger eines Mitgliedstaats sei, aufgrund seiner Staats­an­ge­hö­rigkeit im Hoheitsgebiet des anderen Mitgliedstaates hinsichtlich der Beschäftigungs- und Arbeits­be­din­gungen, insbesondere im Hinblick auf Entlohnung, Kündigung und, falls er arbeitslos geworden sei, im Hinblick auf berufliche Wieder­ein­glie­derung oder Wieder­ein­stellung, nicht anders behandelt werden als die inländischen Arbeitnehmer. Er genieße dort die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer.

VG verweist auf EuGH-Entscheidung

Zu der inhaltsgleichen Vorgän­ger­vor­schrift habe der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Juni 2013 entschieden, dass diese Bestimmung dahin auszulegen sei, dass sie grundsätzlich einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehe, die die Gewährung einer finanziellen Studienbeihilfe von der Erfüllung eines Wohnsit­zer­for­der­nisses durch den Studierenden abhängig mache und die zu einer eine mittelbare Diskriminierung darstellenden Ungleich­be­handlung von in dem betreffenden Mitgliedstaat ansässigen Personen und von Personen führe, die zwar nicht in diesem Mitgliedstaat ansässig, aber Kinder von Grenzgängern seien, die in diesem Mitgliedstaat eine Tätigkeit ausübten.

Deutsche Staats­an­ge­hö­rigkeit steht Kostenübernahme nicht entgegen

Diese Entscheidung sei auf den vorliegenden Fall übertragbar. Die Kläger, die in Frankreich wohnten, seien von der Leistung des § 69 SchulG nur deshalb ausgeschlossen, weil sie ihren Wohnsitz nicht in Rheinland-Pfalz hätten. Die Übernahme der Schüler­be­för­de­rungs­kosten durch den Beklagten nach § 69 SchulG stelle auch eine soziale Vergünstigung für Arbeitnehmer i. S. v. Art. 7 Abs. 2 der Verordnung(EU) Nr. 492/2011 dar, denn sie werde zur Bestreitung des Lebens­un­terhalts der Schülerinnen und Schüler während des Schulbesuchs gewährt und entlaste damit die unter­halts­pflichtigen Eltern. Da die Kostenübernahme gegenüber den Schülern und Schülerinnen erfolge, müssten auch sie sich auf diese Bestimmung der Verordnung berufen können, damit die beabsichtigte Entlas­tungs­wirkung bei ihren Eltern erzielt werden könne. Unschädlich für den von den Klägern geltend gemachten Anspruch sei, dass sowohl sie als auch ihre Eltern deutsche Staats­an­ge­hörige seien. Die Eltern, die in Frankreich wohnten und in Deutschland arbeiteten, könnten sich auch als deutsche Staats­an­ge­hörige auf die Bestimmung des Art. 7 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 berufen. Diese Bestimmung komme allen Grenz­a­r­beit­nehmern zugute, die ihre unselbständige Erwer­b­s­tä­tigkeit in dem Mitgliedstaat ausübten, um dessen Leistung es konkret gehe, die aber in einem anderen Mitgliedstaat wohnten. Der Einzelne könne sich auch seinem eigenen Staat gegenüber auf das Freizü­gig­keitsrecht berufen, wenn ein Bezug zu einem anderen Mitgliedstaat gegeben sei. Demgemäß könne ein deutscher Arbeitnehmer, der in Deutschland seinen Beruf ausübe, aber im benachbarten Ausland seinen Wohnsitz genommen habe, gegenüber dem deutschen Staat die unions­rechtliche Arbeit­neh­mer­frei­zü­gigkeit geltend machen. Für die Anwendung von Art. 7 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 genüge es, dass ein Unionsbürger Arbeitnehmer sei und seine Situation durch ein grenz­über­schrei­tendes Element gekennzeichnet sei.

Legitimes Ziel zur Rechtfertigung einer Ungleich­be­handlung von Grenzgängern nicht erkennbar

Fehle demgegenüber ein Bezug zu einem anderen EU-Mitgliedstaat (z.B. bei einem Schüler, der eine rheinland-pfälzische Schule besuche und mit seinen Eltern in Baden-Württemberg wohne), könne es zu einer sogenannten Inlän­der­dis­kri­mi­nierung (umgekehrte Diskriminierung) kommen. Das sei weder aus der Sicht des inner­staat­lichen Rechts noch aus der Sicht des Unionsrechts zu beanstanden. Es sei auch kein legitimes Ziel im Sinne der Rechtsprechung des EuGH erkennbar, das die Ungleich­be­handlung von Grenzgängern bei der Gewährung von Schüler­be­för­de­rungs­kosten rechtfertigen könnte. Der in Betracht kommende Gesichtspunkt von Haushalt­s­er­wä­gungen vermöge die festgestellte Diskriminierung nicht zu rechtfertigen.

Quelle: Verwaltungsgericht Neustadt/ra-online

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