21.11.2024
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Sozialgericht Karlsruhe Urteil20.04.2017

Verletzung kann auch bei willentlich gesteuerter Handlung zur Anerkennung eines Arbeitsunfalls führenAuch unklarer Zeitpunkt der Verletzung steht Arbeitsunfall nicht entgegen

Das Sozialgericht Karlsruhe hat entschieden, dass die Anerkennung eines Arbeitsunfalls nicht daran scheitern muss, dass sich der Tag, an dem eine Verletzung eingetreten ist, nicht mit Sicherheit feststellen lässt. Der Annahme eines Arbeitsunfalls steht ebenfalls nicht entgegen, dass die Verletzung des Betroffenen bei einer willentlich gesteuerten Handlung seiner Arbeit ausgeführt wurde.

Zwischen den Beteiligten des zugrunde liegenden Falls war die Anerkennung eines Ereignisses als Arbeitsunfall umstritten. Der Kläger war als Nacharbeiter bei einem Automo­bil­her­steller beschäftigt. Dabei hatte er u.a. ungenau eingesetzte Vorder- oder Heckscheiben zu lösen und neu in das Fahrzeug einzusetzen. Dazu musste er den Scheibenkleber mittels eines Schneidedrahtes durchtrennen. Diesen musste er durch ein Loch zwischen Karosserie und Scheibe durchziehen. Das äußere Ende des Drahtes war mit einem T-Griff versehen und das innere Ende in einem Führungs­werkzeug verankert. Für das Lösen der Scheiben waren zwei Personen erforderlich: Der Mitarbeiter im Fahrzeuginneren führte den Draht, der außen tätige Mitarbeiter zog den Draht möglichst rechtwinklig zur Klebenaht. Je Scheibe war wiederholt neu anzusetzen und der Draht neu zu positionieren. Bei der Tätigkeit entstanden sehr hohe Zugkräfte. Außerdem wurde eine teilweise unergonomische Arbeitshaltung eingenommen, die zu einer starken und teilweise einseitigen Belastung des Schultergelenks und der Schul­ter­mus­kulatur führte. Üblicherweise bewältigten die Mitarbeiter je Arbeitsschicht maximal den Aus- und Einbau von vier Scheiben.

Berufs­ge­nos­sen­schaft lehnt Anerkennung der Arm-Venen-Thrombose als Arbeitsunfall ab

Am 13. und 14. August 2015 war der Kläger für diese Tätigkeit an ein anderes Werk abgeordnet. Hier hatte er für eine Presse­prä­sen­tation etwa 25 Fahrzeuge instand zu setzen. Der Kläger und ein weiterer Mitarbeiter mussten deshalb an beiden Tagen je Arbeitsschicht etwa acht Scheiben auswechseln. Am 15. August 2015 bemerkte er nach dem Aufstehen eine Schwellung des gesamten rechten Armes und einen größeren blauen Fleck unterhalb des rechten Schultergelenks. Der von ihm aufgesuchte Arzt diagnostizierte eine Ansatzruptur des kleinen Brustmuskels und der Sehnen und eine Arm-Venen-Thrombose. Die Berufsgenossenschaft lehnte die Anerkennung eines Arbeitsunfalls mit der Begründung ab, der Hergang stelle keinen Arbeitsunfall dar, weil der Kläger eine willentlich gesteuerte kontrollierte Körperbewegung ausgeführt habe.

SG bejaht Vorliegen eines Arbeitsunfalls

Die zum Sozialgericht Karlsruhe erhobene Klage hatte nach medizinischer Beweiserhebung Erfolg. Das Gericht entschied, dass der Kläger entweder am 13. oder am 14. August 2015 einen Arbeitsunfall erlitten habe. Er habe unstreitig an beiden Tagen eine versicherte Tätigkeit als Nacharbeiter verrichtet. Dabei sei er aufgrund der erheblichen Körperkraft beim Durschneiden der Klebenähte der montierten Scheiben mittels des Drahtes einer Einwirkung von außen ausgesetzt gewesen. Außerdem habe er eine teilweise unergonomische Arbeitshaltung einnehmen müssen und habe die konkrete Schneidearbeit eine starke und teilweise einseitige Belastung des Schultergelenks und der Schul­ter­mus­kulatur bewirkt. Schließlich habe der Kläger an beiden Arbeitstagen anstatt der üblicherweise maximal vier zu ersetzenden Fahrzeug­scheiben acht Scheiben je Arbeitsschicht auswechseln müssen. Er sei damit an diesen Tagen nicht nur einer höheren quantitativen, sondern auch einer höheren qualitativen, mithin einer außer­ge­wöhn­lichen Arbeits­be­lastung ausgesetzt gewesen.

Auch willentlich gesteuerte Handlung kann zur Anerkennung eines Arbeitsunfalls führen

Der Annahme eines Arbeitsunfalls stehe nicht entgegen, dass er bei den Schnei­de­vor­gängen eine willentlich gesteuerte Handlung ausgeführt habe. Zwar sei dem Begriff "Unfall" die Unfrei­wil­ligkeit der Einwirkung immanent. Zu unterscheiden hiervon seien jedoch Fälle eines gewollten Handelns aufgrund einer ungewollten Einwirkung infolge einer Fehlbelastung oder eines sonstigen überraschenden Moments. Dies gelte auch für äußere Einwirkungen, deren Folgen äußerlich nicht sichtbar seien. Hier hätten sich die Zugbelastungen unmittelbar auf die Brustmuskulatur ausgewirkt und nach dem Ergebnis des Sachver­stän­di­gen­gut­achtens zu dem Riss des kleinen Brustmuskels geführt.

Unfallzeitpunkt muss für Anerkennung als Arbeitsunfall nicht kalendermäßig genau bestimmbar sein

Die Anerkennung als Arbeitsunfall scheitere auch nicht daran, dass sich nicht mit Sicherheit feststellen lasse, ob die Verletzung konkret am 13. oder am 14. August 2015 eingetreten sei. Für die Annahme eines Arbeitsunfalls sei regelmäßig zwar erforderlich, dass die zu einer Gesund­heits­s­törung führende Einwirkung innerhalb nur einer Arbeitsschicht aufgetreten sei. Nach der Rechtsprechung des Bundes­so­zi­al­ge­richts müsse die Einwirkung zwar an einem bestimmten, jedoch nicht an einem kalendermäßig genau bestimmbaren Tag eingetreten sein. Dies sei hier der Fall gewesen. Denn aufgrund der erhöhten qualitativen und quantitativen Belastungen an beiden Tagen sei die Zugbelastung auf den Brustmuskel nach den Darlegungen des gerichtlichen Sachver­ständigen bereits bei einer Wiederholung der Arbeitsvorgänge je Arbeitsschicht zu hoch gewesen. Da zudem keine Anhaltspunkte für eine unfal­lu­n­ab­hängige Ursache, etwa infolge schicksalhafter oder anlagebedingter Veränderungen, vorlagen, hat die Kammer die Berufs­ge­nos­sen­schaft verurteilt, einen Vorgang vom 13. oder 14. August 2015 als Arbeitsunfall anzuerkennen.

Quelle: Sozialgericht Karlsruhe/ra-online

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