Dokument-Nr. 23376
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Sozialgericht Berlin Beschluss26.10.2016
Sozialamt darf bei Pflegebetrug Leistungen von Pflegebedürftigen kürzenVorgehen dient Schutz des Sozialversicherungssystems und der Gesamtheit der Steuerzahler
Das Sozialgericht Berlin hat entschieden, dass das Sozialamt die Sozialhilfe einer Pflegebedürftigen rückwirkend um Geldbeträge kürzen darf, die diese von einem kriminellen Pflegedienst als Belohnung für ihr Mitwirken beim Abrechnungsbetrug erhalten hat. Die daraus folgenden Rückforderungen darf das Sozialamt durch Anrechnung auf die laufende Grundsicherung sofort durchsetzen.
Seit einigen Jahren laufen in Deutschland umfangreiche strafrechtliche Ermittlungen gegen betrügerische Pflegedienste. Deren Geschäftsmodell besteht darin, zu Lasten der Sozialleistungsträger Pflegeleistungen abzurechnen, die tatsächlich gar nicht erbracht wurden. Als Komplizen der Pflegedienste wirken neben Ärzten vor allem auch Patienten mit, indem sie den Erhalt gar nicht erbrachter Pflegeleistungen quittieren und so deren Abrechnung ermöglichen. Zur Belohnung erhalten sie monatlich einen Anteil am Betrugserlös, der im Milieu als "Kick-Back-Zahlung" bezeichnet wird.
300 Patienten in Abrechnungsbetrug verwickelt
Im Fokus der Staatsanwaltschaft Berlin stand zuletzt der Pflegedienst "Mit Herz und Seele" aus Berlin. Sichergestellte Kassenbücher und Dienstpläne begründen den Verdacht, dass hier rund 300 Patienten in den Abrechnungsbetrug verwickelt waren.
Sozialamt kürzt laufende Grundsicherung der Leistungsempfängerin wegen Mitwirkung am Abrechnungsbetrug
Die 1949 geborene Antragstellerin des zugrunde liegenden Verfahrens bezieht vom Antragsgegner, dem Sozialamt Steglitz-Zehlendorf, seit Jahren Grundsicherung im Alter. Zugleich war sie Patientin des Pflegedienstes "Mit Herz und Seele GmbH". Mit Bescheid vom 11. August 2016 nahm der Antragsgegner sämtliche Bescheide zurück, mit denen der Antragstellerin Sozialleistungen für den Zeitraum November 2014 bis Februar 2015 bewilligt worden waren. Die Antragstellerin habe in diesem Zeitraum für ihre Mitwirkung am Abrechnungsbetrug des Pflegedienstes ein Einkommen aus sogenannten "Kick-Back-Zahlungen" zwischen 245 und 336 Euro monatlich erzielt. Dadurch sei ihre Hilfebedürftigkeit entsprechend verringert worden. 1.125 Euro zu viel gezahlte Sozialhilfe seien zurückzuzahlen. Zur Begleichung der Erstattungsforderung würden die laufende Grundsicherung ab sofort um monatlich 73 Euro gekürzt.
Leistungsbezieherin verneint Erhalt von "Kick-Back-Zahlungen"
Die Antragstellerin hat hiergegen beim Antragsgegner Widerspruch eingelegt. Zusätzlich hat sie beim Sozialgericht Berlin ein Eilverfahren anhängig gemacht mit dem Ziel, die sofortige Vollziehung der Rückforderung zu stoppen. Sie bestreitet, überhaupt "Kick-Back-Zahlungen" erhalten zu haben und trägt vor, an der Redlichkeit des Pflegedienstes nie gezweifelt zu haben. Sie selbst habe über erhaltene Pflegedienstleistungen kein Buch geführt. Soweit Unterschriften erforderlich geworden seien, habe sie diese im vollen Vertrauen in den Pflegedienst geleistet.
Anrechnung von "Kick-Back-Zahlungen" als Einkommen nicht zu beanstanden
Das Sozialgericht Berlin wies den Antrag ab. Nach summarischer Prüfung im Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes sei der Bescheid des Antragsgegners offensichtlich rechtmäßig. Die Anrechnung der "Kick-Back-Zahlungen" als Einkommen und die darauf gestützte Rückforderung von Sozialleistungen seien nicht zu beanstanden. Laut den von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmten Kassenbüchern habe die Antragstellerin über die Jahre von dem Pflegedienst insgesamt sogar Zahlungen in Höhe von 12.064 Euro erhalten. An der Richtigkeit der Kassenbücher habe das Gericht keine Zweifel. Offensichtlich habe der Pflegedienst derartige Unterlagen führen müssen, um angesichts von rund 300 am Betrugssystem beteiligten Patienten den Überblick über seine "Wirtschaftlichkeit" zu behalten. Die Kassenbücher würden durch die ebenfalls beschlagnahmten Dienstpläne bestätigt.
Unzuverlässigkeit des Pflegedienstes bereits bekannt
Die Einwände der Antragstellerin seien in keiner Weise nachvollziehbar. Die Antragstellerin habe nämlich Nachweise über tägliche Pflege unterschrieben, obwohl sie laut Abschlussbericht des Landeskriminalamtes überhaupt nicht gepflegt worden sei. Die Unzuverlässigkeit des Pflegedienstes sei dem Gericht im übrigen aufgrund einer Vielzahl weiterer Verfahren bereits bekannt.
Verhalten beteiligter Leistungsempfänger muss zur Vermeidung von Wiederholungsfällen unmittelbare Konsequenzen haben
Es bestehe auch ein überwiegendes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung der Rückforderung. Angesichts des Alters der Antragstellerin und der Dauer eines Hauptsacheverfahrens würde ein weiteres Abwarten die Vollstreckung des geltend gemachten Ersatzanspruchs ernsthaft gefährden. Aufgrund des Ausmaßes des Leistungsbetrugs mit einem Schaden in Höhe von mehreren Millionen Euro sei auch aus generalpräventiven Gründen eine sofortige Reaktion des Sozialhilfeträgers erforderlich. Das Verhalten der beteiligten Leistungsempfänger müsse zur Vermeidung von Wiederholungsfällen unmittelbare Konsequenzen haben. Das Vorgehen diene dem Schutze des Sozialversicherungssystems und der Gesamtheit der Steuerzahler.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 03.11.2016
Quelle: Sozialgericht Berlin/ra-online
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