03.12.2024
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Sozialgericht Berlin Gerichtsbescheid14.09.2015

Hartz IV: Jobcenter muss nicht für künstliche Befruchtung zahlenKünstliche Befruchtung gehört nicht zum Regelbedarf im Sinne des Gesetzes

Das Jobcenter ist nicht verpflichtet, einem Ehepaar, das Leistungen zur Sicherung des Lebens­un­ter­haltes ("Hartz IV") bezieht, ein Darlehen für die Kosten einer künstlichen Befruchtung zu gewähren. Der Kostenanteil, den die Krankenkasse nicht übernimmt, muss vielmehr aus eigenen Mitteln, zum Beispiel durch Ansparen, aufgebracht werden. Dies entschied das Sozialgericht Berlin.

Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die 1978 geborene Klägerin und ihr 1984 geborener Ehemann aus Berlin Marzahn-Hellersdorf beziehen seit dem Jahr 2010 Leistungen zur Sicherung des Lebens­un­ter­haltes. Ihre Krankenkasse erklärte sich bereit, 50 % der Kosten für maximal drei Versuche einer künstlichen Befruchtung zu übernehmen. Die Kosten jeder einzelnen künstlichen Befruchtung betragen dabei ungefähr 4.100 Euro.

Jobcenter lehnt beantragtes Darlehen ab

Die Kläger waren nicht in der Lage, den auf sie entfallenden Kostenanteil aufzubringen. Sie beantragten deshalb im September 2012 beim beklagten Jobcenter Berlin Marzahn-Hellersdorf die Gewährung eines Darlehens in Höhe von rund 2.200 Euro. Gegen die Ablehnung ihres Antrags erhoben sie im Dezember 2012 Klage beim Sozialgericht Berlin.

Klägerin sieht sich auf Darlehen des Jobcenters zur Teilhabe an der Gesellschaft angewiesen

Nach Meinung der Kläger widerspreche es dem Grundgesetz, wenn sozia­l­leis­tungs­be­rechtigte Paare keine Kinder bekommen können, nur weil sie ihren Anteil an den Kosten einer künstlichen Befruchtung nicht aufbringen können. In der freien Wirtschaft bekämen sie kein Darlehen. Sie seien deshalb auf ein Darlehen des Jobcenters angewiesen, um die gleichen Rechte zur Teilhabe an der Gesellschaft zu haben wie Nicht­leis­tungs­be­zieher.

Künstliche Befruchtung umfasst nicht Regelbedarf zur Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft

Das Sozialgericht Berlin wies die Klage durch Gerichts­be­scheid ab und bestätigte die Auffassung des Jobcenters. Die Gewährung eines Darlehens setze voraus, dass im Einzelfall ein Bedarf, der eigentlich vom Regelbedarf umfasst wird, nicht gedeckt werden kann, obwohl er unabweisbar ist. Eine künstliche Befruchtung gehöre jedoch schon nicht zum Regelbedarf im Sinne des Gesetzes. Neben Dingen wie Ernährung und Kleidung umfasse der Regelbedarf zwar auch die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft. Allerdings seien, anders als die Kläger meinen, für Leistungs­be­zieher nicht die gleichen Teilhaberechte wie für Nicht­leis­tungs­be­zieher zu schaffen. Vielmehr seien die Teilhaberechte nach dem Gesetz nur „in vertretbarem Umfang“ zu verwirklichen. Dieser vertretbare Umfang werde bei einer künstlichen Befruchtung angesichts der Kosten von über 4.000 Euro für eine Behandlung überschritten.

Künstliche Befruchtung ist keine medizinisch notwendige Behandlung

Der Bedarf sei auch nicht unabweisbar, denn es handele sich nicht um eine medizinisch notwendige Behandlung. Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht habe bereits entschieden, dass die im Gesetz vorgesehene Beschränkung der Kostenübernahme durch die Krankenkassen Grundrechte nicht verletze (vgl. Bundes­ver­fas­sungs­gericht, Beschluss v. 27.01.2009 - 1 BvR 2982/07 -). Aus der in Artikel 6 Grundgesetz verankerten staatlichen Pflicht zum Schutz von Ehe und Familie folge keine Verpflichtung des Gesetzgebers, die Entstehung einer Familie durch künstliche Befruchtung mit den Mitteln der gesetzlichen Kranken­ver­si­cherung zu fördern. Nichts anderes könne für den Beklagten als Träger der Grund­si­che­rungs­leis­tungen gelten.

Bedarf ist nicht unaufschiebbar

Im übrigen sei der Bedarf auch nicht unaufschiebbar. Die Krankenkassen würden die Kosten für eine künstliche Befruchtung nämlich bis zum 40. Lebensjahr für weibliche Versicherte übernehmen. Bei der erstmaligen Antragstellung hatten die Kläger damit mehr als sechs Jahre Zeit, um die begehrten Leistungen anzusparen, und auch heute bleiben noch mehr als drei Jahre.

Strei­tent­scheidende Normen sind:

§ 24 Abs. 1 Satz 1 Zweites Buch Sozial­ge­setzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) (Abweichende Erbringung von Leistungen):

Kann im Einzelfall ein vom Regelbedarf zur Sicherung des Lebens­un­terhalts umfasster und nach den Umständen unabweisbarer Bedarf nicht gedeckt werden, erbringt die Agentur für Arbeit bei entsprechendem Nachweis den Bedarf als Sachleistung oder als Geldleistung und gewährt der oder dem Leistungs­be­rech­tigten ein entsprechendes Darlehen.

§ 20 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB II (Regelbedarf zur Sicherung des Lebens­un­ter­haltes):

Der Regelbedarf zur Sicherung des Lebens­un­terhalts umfasst insbesondere die Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Haushalt­s­energie … sowie persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens. Zu den persönlichen Bedürfnissen des täglichen Lebens gehört in vertretbarem Umfang eine Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft.

Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz:

Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.

Quelle: Sozialgericht Berlin/ra-online

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