18.10.2024
18.10.2024  
Sie sehen die Außenfassade einer Niederlassung des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit dem Bundesadler und passendem Schriftzug der Behörde.

Dokument-Nr. 30624

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Urteil20.07.2021Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen11 A 1674/20.A und 11 A 1689/20.A
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Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen Urteil20.07.2021

Aus Italien nach Deutschland weitergereiste Schutz­be­rechtigte oder Asylsuchende dürfen nicht nach Italien rücküberstellt werdenKeine Rücküber­stellung nach Italien wegen Gefahr extremer materieller Not

Die Asylanträge eines in Italien anerkannten Schutz­be­rech­tigten aus Somalia und eines Asylsuchenden aus Mali, der zuvor in Italien einen Asylantrag gestellt hatte, dürfen nicht als unzulässig abgelehnt werden, weil die ernsthafte Gefahr besteht, dass sie im Falle ihrer Rücküber­stellung dorthin ihre elementarsten Bedürfnisse für einen längeren Zeitraum nicht befriedigen können. Das hat das Ober­verwaltungs­gericht Nordrhein-Westfalen durch zwei bekannt gegebene Urteile entschieden.

In den hier vorliegenden Fällen hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylantrag des Somaliers als unzulässig abgelehnt, weil er in Italien bereits internationalen Schutz erhalten hatte. Das Verwal­tungs­gericht Münster hatte die Klage des Somaliers mit der Begründung abgewiesen, international Schutz­be­rechtigte hätten in Italien das Recht, für sechs Monate in Aufnah­me­ein­rich­tungen zu wohnen; ferner hätten sie dort Zugang zu Sozialwohnungen, zum Arbeitsmarkt und zu Sozialleistungen. Dem Kläger, der gesund, jung und arbeitsfähig sei, drohe in Italien selbst für den Fall einer fehlenden staatlichen Unterstützung keine Situation extremer materieller Not, vielmehr sei es ihm zuzumuten, eine Erwer­b­s­tä­tigkeit aufzunehmen und selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen.

Auch Asylantrag des Maliers mit Hinweis auf Verfahren in Italien als unzulässig abgelehnt

Der Asylantrag des Maliers war als unzulässig abgelehnt worden, weil er schon in Italien einen Asylantrag gestellt hatte und sein Asylverfahren wegen der Zuständigkeit Italiens dort weiter zu betreiben sei. Das Verwal­tungs­gericht Minden hatte der Klage des Maliers stattgegeben und zur Begründung ausgeführt, dem Kläger sei in Italien in einem standa­r­di­sierten und regelmäßig durchgeführten Verfahren das Recht auf Unterkunft entzogen worden; er verfüge weder über ausreichende Geldmittel zur Bestreitung seines Lebens­un­terhalts noch über Bekannte in Italien, die ihn unterstützen könnten, er werde in Italien auch keinen Arbeitsplatz finden, der ihm ein ausreichendes Einkommen zur Finanzierung einer menschen­würdigen Unterkunft und des unabdingbar zum Überleben Erforderlichen verschaffe.

OVG: Keine Rücküber­stellung wegen drohender Gefahr extremer materieller Not

Die Berufung des Somaliers gegen das Urteil des Verwal­tungs­ge­richts Münster hatte Erfolg; die Berufung der beklagten Bundesrepublik Deutschland gegen das Urteil des Verwal­tungs­ge­richts Minden blieb hingegen ohne Erfolg. Zur Begründung seiner beiden Urteile hat das Oberver­wal­tungs­gericht ausgeführt: Die Asylanträge der Kläger können nicht als unzulässig abgelehnt werden, weil ihnen für den Fall ihrer Rücküberstellung nach Italien die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung droht. Denn die Kläger geraten in Italien unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not, weil sie dort für einen längeren Zeitraum weder eine Unterkunft noch eine Arbeit finden. Beide Kläger haben für den Fall ihrer Rückkehr nach Italien keinen Zugang zu einer Aufnah­me­ein­richtung und einer damit verbundenen Versorgung. Ihnen steht in Italien kein Recht mehr auf Unterbringung zu.

Gefahr besteht trotz Reform des Salvini-Dekret weiter

Zwar ist das sog. Salvini-Dekret aus dem Jahr 2018, mit dem die Rechte von Asylsuchenden und Schutz­be­rech­tigten in Italien eingeschränkt worden sind, im Dezember 2020 reformiert worden. Die Vorschriften, die den Verlust des Rechts auf Unterbringung in einer Aufnah­me­ein­richtung regeln und die von den italienischen Behörden innerhalb von vier Jahren in mindestens 100.000 Fällen von Asylsuchenden und Schutz­be­rech­tigten angewendet worden sind, gelten aber trotz der Reform fort. Ausgehend von diesen hohen Fallzahlen und angesichts der Umstände der Einzelfälle der Kläger ist das Oberver­wal­tungs­gericht davon überzeugt, dass ihnen das Recht auf Unterbringung in Italien entzogen worden ist. Die Kläger weisen auch - anders als etwa Kranke oder Familien mit minderjährigen Kindern - keine besonderen Vulne­ra­bi­li­täts­merkmale auf, die italienische Behörden veranlassen könnten, ihnen ausnahmsweise doch eine Unterkunft in einer Einrichtung des italienischen Aufnahmesystems zu gewähren. Andere Unterkünfte oder Wohnungen stehen nicht zur Verfügung oder sind von den mittellosen Klägern nicht finanzierbar. Obdachlosen- oder Notunterkünfte sind nicht in ausreichen-dem Maß vorhanden, außerdem bieten diese nur temporäre Schlafplätze, nicht aber eine Versorgung.

Minde­st­auf­ent­halts­zeiten für Sozia­l­leis­tungen nicht erfüllt

Mit Blick auf die derzeitige Arbeits­ma­rkt­si­tuation und Wirtschaftslage finden die Kläger im Falle ihrer Rückkehr dort auch keine Arbeit. Die Arbeits­lo­senquote liegt in Italien derzeit bei ca. 10 %; insbesondere die Jugend­a­r­beits­lo­sigkeit von mehr als 33 % führt für die noch jungen Kläger dazu, dass sie keine Arbeit finden können, die sie in die Lage versetzt, für ihren Lebensunterhalt selbst zu sorgen. Der Zugang der Kläger zum Arbeitsmarkt wird zudem durch die mangelnde Beherrschung der italienischen Sprache und das Fehlen einer spezifischen beruflichen Qualifikation zusätzlich erschwert. Sozia­l­leis­tungen und Sozialwohnungen werden Schutz­be­rech­tigten - wie dem Kläger aus Somalia - zwar gewährt; dies gilt aber in der Regel nur nach Minde­st­auf­ent­halts­zeiten von mehreren Jahren in Italien, die Schutz­be­rechtigte - wie auch der Somalier - regelmäßig nicht erfüllen können.

Quelle: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, ra-online (pm/ab)

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