21.11.2024
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Oberverwaltungsgericht Berlin Urteil24.03.2005

OVG Berlin: Zeugen Jehovas sind als Körperschaft des öffentlichen Rechts anzuerkennenAls Körperschaft des öffentlichen Rechts können sie nun u.a. Kirchensteuern erheben und Religi­o­ns­un­terricht erteilen

Der 5. Senat des Oberver­wal­tungs­ge­richts Berlin hat sein Urteil in Sachen Land Berlin gegen die Religi­o­ns­ge­mein­schaft der Zeugen Jehovas in Deutschland e.V. verkündet, nachdem der den Beteiligten in der mündlichen Verhandlung vom 02.12.2004 unterbreitete Vergleichs­vor­schlag vom Land Berlin nicht angenommen worden ist.

Die Berufung des Landes Berlin ist erneut erfolglos geblieben. Nach Auffassung des Oberver­wal­tungs­ge­richts erfüllt die Gemeinschaft die Voraussetzungen für die Verleihung der Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts.

Das Bundes­ver­fas­sungs­gericht hatte die - zuungunsten der Religi­o­ns­ge­mein­schaft ausgefallene - Revisi­ons­ent­scheidung des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts aufgehoben und die Sache an das Bundes­ver­wal­tungs­gericht zurückverwiesen. Das Bundes­ver­wal­tungs­gericht seinerseits hat daraufhin unter erneuter Aufhebung des OVG-Urteils, das dem Verlangen der Religi­o­ns­ge­mein­schaft stattgegeben hatte, das Verfahren an das Oberver­wal­tungs­gericht zurückverwiesen (siehe: Antrag der Zeugen Jehovas auf Verleihung der Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts). Das Oberver­wal­tungs­gericht sei von einem zu großzügigen Verständnis von den Verlei­hungs­vor­aus­set­zungen ausgegangen und habe daher keine hinreichenden Tatsa­chen­fest­stel­lungen zu möglichen Gefährdungen der Grundrechte Dritter getroffen.

Das Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts hat Aufklä­rungs­bedarf vor allem dahin gesehen, ob die Religi­o­ns­ge­mein­schaft darauf hinwirke, im Fall der Weigerung von Eltern, der Bluttransfusion bei ihren noch nicht einsichts­fähigen Kindern zuzustimmen, staatliche Schutzmaßnahmen zu erschweren oder zu verhindern.

Das Oberver­wal­tungs­gericht hat dazu festgestellt, aus den Akten des Beklagten ergebe sich, dass Nachfragen bei Ärzten, Kliniken sowie Staats- und Amtsan­walt­schaft keine einschlägigen Erkenntnisse zutage gefördert hätten. Aus dem 1998 veröf­fent­lichten Bericht der Enquete-Kommission „Sog. Sekten und Psychogruppen“ des Deutschen Bundestages ergäben sich in dieser Richtung ebenfalls keine Anhaltspunkte. Sie habe im Gegenteil festgestellt, dass die prinzipielle Rechtsposition in Deutschland, Bluttrans­fu­sionen notfalls auch gegen den Willen der Eltern durchzusetzen, von der Religi­o­ns­ge­mein­schaft akzeptiert werde. Dem entspreche es, dass die Famili­en­ge­richte in der allseits bekannten Haltung der Zeugen Jehovas zur Blutfrage einhellig keinen Hinderungsgrund sähen, einem dieser Religi­o­ns­ge­mein­schaft angehörenden Elternteil das Sorgerecht zu übertragen. Andere behördliche oder gerichtliche Erkenntnisse gebe es nicht.

Für die - übrigens nicht nur im Zusammenhang mit dem Thema Bluttrans­fu­sionen aufgestellte - Behauptung des Beklagten, die Klägerin verhalte sich intern anders, als sie es nach außen verlautbare, und nutze die Gelegenheit des Prozesses, um sich in einem günstigen Licht darzustellen, gibt es nach Auffassung des Oberver­wal­tungs­ge­richts keine greifbaren Anhaltspunkte. Gerade beim Thema Bluttrans­fu­sionen erscheine es ausgeschlossen, dass massive Behinderungen staatlicher oder ärztlicher Schutzmaßnahmen seitens der Klägerin nicht ans Licht der Öffentlichkeit geraten wären.

Weiter hat das Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts es für erforderlich erachtet aufzuklären, ob die Zeugen Jehovas gegenüber in der Gemeinschaft verbliebenen Famili­en­mit­gliedern - wie der Beklagte behauptet - aktiv darauf hinarbeite, dass der Kontakt auf das „absolut Notwendige“ beschränkt oder sogar aufgegeben werde, so dass dadurch der Bestand von Familie oder Ehe gefährdet sei und möglicherweise auch der Weg in den Austritt aus der Gemeinschaft versperrt werde.

Objektive Anhaltspunkte für derartige Verhal­tens­an­wei­sungen, die der Beklagte als „eminent famili­en­feindliche“ Praktiken bezeichnet, gebe es aus der Sicht des Oberver­wal­tungs­ge­richts nicht. Die famili­en­ge­richtliche Rechtsprechung lasse auf solche Verhal­tens­weisen nicht schließen. Weder Anfragen des Beklagten bei den zuständigen Ministerien anderer Bundesländer noch zwei im Abstand von mehreren Jahren durchgeführte Umfragen bei den Berliner Bezirksämtern oder Besprechungen anlässlich einer Tagung der Leiter der famili­en­psy­cho­lo­gischen Beratungs­stellen hätten zu entsprechenden Erkenntnissen geführt. Im Ergebnis könne sich der Beklagte daher nur auf sog. Ausstei­ger­be­richte, Berichte von „Sekten“initiativen, Video­auf­zeich­nungen von Fernseh­sen­dungen und Bücher amerikanischer „Experten“ stützen. Beweisanträge habe er in diesem Zusammenhang nicht gestellt. Mangels greifbarer objektiver Anhaltspunkte hat sich der 5. Senat nicht veranlasst gesehen, den in den zahllosen Berichten aufgestellten Behauptungen nachzugehen. Der Beklagte habe diese Berichte nicht nach ihrer rechtlichen Bedeutung für die zu entscheidende Frage sondiert, ob mit den behaupteten Verhal­tens­weisen Eingriffe in Art. 6 GG, der lediglich die sog. Kernfamilie - also die Verbindung zwischen Eltern und Kindern - erfasst, verbunden seien. Ausweislich der Verwal­tungs­vorgänge habe er vielmehr die ihm unaufgefordert zugesandten, aus dem Internet entnommenen oder von Seiten interessierter Kreise zur Verfügung gestellten „Erfah­rungs­be­richte“ in inhaltlicher wie persönlicher Hinsicht ungeprüft übernommen.

Namentlich die im Auftrag der Enquete-Kommission erstellten Gutachten belegten nach Auffassung des Oberver­wal­tungs­ge­richts nicht nur die These, dass bei der Bewertung solcher sog. Ausstei­ger­be­richte Zurückhaltung geboten sei; das räume auch der Beklagte ein. Sie sagten vor allem aus, dass eine Beurteilung, ob und ggf. zu welchen Anteilen die als destruktiv empfundenen und beschriebenen Konflikte in der Struktur oder der Lehre der Gemeinschaft begründet seien, ohne Kenntnis vom psychosozialen Hintergrund des Betreffenden nicht möglich sei. Es liege auf der Hand, dass solche Personen den ohnehin schwierigen Ausstieg aus einer Gemeinschaft und die mit ihm verbundene psychische wie soziale Labilisierung als besonders krisenhaft empfänden. Dass sie ihren Erfahrungen mit der Gemeinschaft - und das gelte erst recht für nicht freiwillig Ausgestiegene - im Nachhinein positive Aspekte abgewinnen könnten, sei kaum anzunehmen. Bei dieser Erkenntnislage ließen sich die Vermutungen des Beklagten zu den Ursachen für die, wie er es ausdrückt, „verhältnismäßig wenigen“ Informationen seitens von ihm befragter Behörden und Institutionen nicht halten. Er übersehe, dass sich das Fehlen kritischer Erfah­rungs­be­richte aktiver Mitglieder der Klägerin nicht nur durch Furcht vor dem Ausschluss aus der Gemeinschaft, sondern mindestens ebenso plausibel durch die Bedeutung von Religiosität für das individuelle psychische Befinden erklären ließen. Davon, dass „Fakten daher hauptsächlich von Aussteigern und Ausge­schlossenen zu erwarten“ seien, könne deshalb keine Rede sein.

Schließlich hat das Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts für klärungs­be­dürftig gehalten, ob die Religi­o­ns­ge­mein­schaft Erzie­hungs­maßstäbe vorschreibe, die eine Entwicklung von Kindern zu eigen­ver­ant­wort­lichen Persön­lich­keiten innerhalb der Gesellschaft in einem Maße beein­träch­tigten, dass das Kindeswohl gefährdet sei.

Hierzu hat das Oberver­wal­tungs­gericht festgestellt, dass die in Sorge­rechts­fällen regelmäßig erhobenen und mit dem Vorbringen des Beklagten im hiesigen Verfahren deckungs­gleichen Vorwürfe gegen die vermeintlichen (Erziehungs-)Praktiken der Zeugen Jehovas wie das Erziehen mit körperlicher Gewalt, das Hineindrängen in eine Außen­sei­terrolle oder die Verhinderung angemessener Schulbildung, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in der famili­en­ge­richt­lichen Rechtsprechung und - soweit aktenkundig - den in Sorge­rechtspro­zessen erstatteten kinderpsy­cho­lo­gischen Gutachten keine Entsprechung fänden. Den vom Bundestag veranlassten Exper­ten­be­richten seien greifbare Anhaltspunkte ebenfalls nicht zu entnehmen. Im Gegenteil: Nach Ansicht der Famili­en­ge­richte wie auch der Leitung des Modellprojekts „Prävention im Bereich der sog. Sekten und Psychogruppen“ und ihrer wissen­schaft­lichen Begleitung schließe eine „Sekten­zu­ge­hö­rigkeit“ die Erzie­hungs­eignung nicht aus. Es werde empfohlen, beim sog. „Außen­sei­ter­kri­terium“ äußerste Vorsicht walten zu lassen. Insbesondere sei es nicht schon dann erfüllt, wenn eine Hochschul­aus­bildung - wie es bei den Zeugen Jehovas der Fall sein möge - als nicht erstrebenswert bezeichnet werde, da dann konse­qen­terweise Gesell­schafts­gruppen, deren Kinder ebenfalls einen niedrigen Anteil am akademischen Nachwuchs stellten, ein ähnliches „Fehlverhalten“ vorgehalten werden müsste.

siehe nachfolgend: Urt. v. 01.02.2006: Land Berlin muss Zeugen Jehovas endgültig die Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts verleihen

Quelle: Pressemitteilung des OVG Berlin vom 24.03.2005

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