21.11.2024
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Dokument-Nr. 1023

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Oberlandesgericht Karlsruhe Urteil22.09.2005

VBL-Zusatz­ver­sorgung: Start­gut­schriften der rentenfernen Versicherten unverbindlich

Die beklagte Versor­gungs­anstalt des Bundes und der Länder (VBL) zahlt Versicherten im öffentlichen Dienst eine Zusatzrente, mit der die Rente aus der gesetzlichen Renten­ver­si­cherung aufgestockt wird. Mit Ablauf des 31.12.2001 hat die VBL ihr Zusatz­ver­sor­gungs­system umgestellt von einer an der Beamten­ver­sorgung orientierten Gesamt­ver­sorgung, die sich am Endgehalt der letzten drei Jahre orientiert, auf ein auf die Verzinsung von Beiträgen ausgerichtetes Punktemodell.

Der Systemwechsel beruht auf einer Einigung der Tarif­ver­trags­parteien des öffentlichen Dienstes im Tarifvertrag Alters­ver­sorgung vom 03.01.2002 (ATV). Die Tarifregelungen hat die VBL durch eine Neufassung ihrer Satzung (VBLS) rückwirkend zum 01.01.2002 umgesetzt. Die neue Satzung enthält Überg­angs­re­ge­lungen für die im bisherigen Gesamt­ver­sor­gungs­system von den Versicherten erlangten Rente­n­an­wart­schaften. Diese werden wertmäßig festgestellt und als so genannte Start­gut­schriften auf die neuen Versor­gungs­konten übertragen. Dabei wird unterschieden zwischen rentennahen Jahrgängen (die am 01.01.2002 das 55. Lebensjahr vollendet haben) und den jüngeren, rentenfernen Jahrgängen. Die Anwartschaften der ca. 200.000 rentennahen Versicherten werden weitgehend nach dem alten Satzungsrecht ermittelt und übertragen. Die Anwartschaften der ca. 1,7 Millionen Rentenfernen berechnen sich gemäß § 79 Abs.1 S.1 VBLS nach § 18 Abs. 2 BetrAVG. Die Vorschrift enthält Regelungen zur Höhe betrieblicher Versor­gungs­an­wart­schaften für Arbeitnehmer, die vor Eintritt des Versor­gungs­falles aus einem Arbeits­ver­hältnis im öffentlichen Dienst ausgeschieden sind.

Den Zivilgerichten liegen zahlreiche Klagen vor, mit denen sich Versicherte gegen die Wirksamkeit und Verbindlichkeit der ihnen mitgeteilten Start­gut­schriften wenden. Das Landgericht Karlsruhe hat mehrfach entschieden, dass durch die Neuregelung in unzulässiger Weise in bestehende Rente­n­an­wart­schaften eingegriffen werde, und die VBL zur Gewährung einer höheren Betriebsrente verpflichtet.

Dagegen sind beim Oberlan­des­gericht Karlsruhe zahlreiche Berufungen der VBL und der Versicherten eingegangen.

Der für das Versi­che­rungsrecht zuständige 12. Zivilsenat des Oberlan­des­ge­richts Karlsruhe hat heute erstmals über die Berufungen in insgesamt 16 Fällen von rentenfernen Versicherten entschieden. Er hat festgestellt, dass die von der Beklagten erteilte Startgutschrift den Wert der von der Klägerin/dem Kläger bis zum 31.12.2001 erlangten Anwartschaft auf eine bei Eintritt des Versi­che­rungs­falles zu leistende Betriebsrente nicht verbindlich festlegt.

Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt:

Die Bestimmungen der neuen Satzung der Beklagten, auf denen die mitgeteilte Startgutschrift beruht, sind für das betreffende Versi­che­rungs­ver­hältnis unwirksam. Sie verstoßen gegen höherrangiges Recht. Zwar unterliegt die gerichtliche Überprüfung von Satzungs­be­stim­mungen der VBL, die dem zugrunde liegenden Tarifrecht entsprechen, den für Tarifverträgen selbst geltenden Maßstäben. Den Tarifpartnern steht bei der Abänderung von Versor­gungs­zusagen, die auf Tarifrecht beruhen, mit Rücksicht auf die verfas­sungs­rechtlich geschützte Tarifautonomie ein weiter Einschätzungs- und Gestal­tungs­spielraum zu. Die Tarif­ver­trags­parteien und die Beklagte sind jedoch an das Willkürverbot gebunden und haben bezüglich vorhandener Besitzstände die aus dem Rechts­s­taats­prinzip folgenden Grundsätze des Vertrau­ens­schutzes und der Verhält­nis­mä­ßigkeit zu beachten. Je stärker in eine bestehende Versor­gungs­zusage eingegriffen wird, desto schwerwiegender müssen die Eingriffsgründe sein. Die Versicherten haben im Zusatz­ver­sor­gungs­system der Beklagten eine als Eigentum (Art. 14 GG) sowie nach den Grundsätzen des Vertrau­ens­schutzes und der Verhält­nis­mä­ßigkeit geschützte Rechtsposition erlangt. Ihnen steht die Anwartschaft auf eine Versorgungsrente nach Maßgabe der alten Satzung zu. Hierfür haben sie ihre Gegenleistung - durch die vom Arbeitgeber für sie an die Beklagte gezahlten Umlagen - bis zum Umstel­lungs­stichtag bereits erbracht. Angesichts der erheblichen Bedeutung der privaten Alters­ver­sorgung für die Existenz­si­cherung und Lebensführung im Alter sind deshalb an die Rechtfertigung von Eingriffen keine geringen Anforderungen zu stellen.

Diesen Anforderungen halten die Überg­angs­re­ge­lungen nicht stand. Zwar stellt der Systemwechsel selbst noch keinen ungerecht­fer­tigten Eingriff dar. Auch ist der Zweck der Regelung, die aufrecht­zu­er­haltende Anwartschaft in bestimmter Höhe zeitnah und abschließend zu ermitteln, nicht zu beanstanden. Jedoch greift die Überg­angs­vor­schrift mit der Bezugnahme auf die gesetzliche Regelung für ausgeschiedene Versicherte (§ 18 Abs. 2 BetrAVG) in vielen Fällen erheblich in die Anwartschaften ein. Oft bleibt die Startgutschrift schon hinter dem im bisherigen System erdienten Teilbetrag, der sich nach der alten Satzung unter Zugrundelegung der letzten Arbeitsentgelte vor dem Umstel­lungs­stichtag bestimmt, erheblich zurück. Zumindest besteht nach der Überg­angs­re­gelung wegen der Verschlech­terung zahlreicher Berech­nungs­faktoren die konkrete Gefahr einer erheblich nachteiligen Wertfest­schreibung. Die Höhe der von der Gesamt­ver­sorgung abzuziehenden gesetzlichen Rente wird nicht auf der Grundlage einer individuellen Rentenauskunft des Renten­ver­si­che­rungs­trägers, sondern pauschaliert nach einem Näherungs­ver­fahren ermittelt. Teilweise übersteigt die Näherungsrente die hochgerechnete tatsächliche Rente um ca. 25 % bis hin zu mehr als 140 % im Einzelfall.

Die Eingriffe in die Rente­n­an­wart­schaften sind nicht hinreichend gerechtfertigt. Die Beklagte und die Tarifpartner verletzen dadurch die als Eigentum nach den Grundsätzen des Vertrau­ens­schutzes und der Verhält­nis­mä­ßigkeit geschützten Besitzstände der Versicherten sowie den Gleich­be­hand­lungs­grundsatz. Die Überg­angs­re­ge­lungen beruhen schon auf einer unzureichenden Sachver­halt­s­er­mittlung durch die Tarifpartner. Diese haben, anders als bei den Bestands­rentnern und den rentennahen Jahrgängen, die mutmaßlichen finanziellen Auswirkungen eines erhöhten Besitz­stands­schutzes nicht in ihre Überlegungen einbezogen. So war eine sachgerechte Abwägung der Eingriffsgründe mit den schutzwürdigen Belangen der Versicherten von vornherein nicht möglich. Damit kann auch nicht festgestellt werden, dass die Eingriffe zur Erreichung des angestrebten Ziels - der Erhaltung der finanziellen Leistungs­fä­higkeit des Zusatz­ver­sor­gungs­systems - erforderlich waren. Darüber hinaus stehen die Eingriffe außer Verhältnis zum Regelungsziel. Allein durch die ausschließliche Anwendung des Näherungs­ver­fahrens werden die Versicherten im Übermaß belastet. Der von der VBL dargelegte Verwal­tungs­mehr­aufwand durch eine konkrete Renten­be­rechnung rechtfertigt die erheblichen Eingriffe nicht. Vielmehr sind die durch­schnitt­lichen Mehrkosten von 17,65 € pro Versicherten zur Vermeidung der Rechtsnachteile in Kauf zu nehmen. Durch die allein für sie vorgesehene ausschließliche Anwendung des Näherungs­ver­fahrens werden rentenferne Pflicht­ver­si­cherte auch in gleich­heits­widriger Weise benachteiligt.

Da die Besitz­stands­re­ge­lungen der neuen VBLS zum Nachteil der betroffenen Kläger gegen höherrangiges Recht verstoßen, sind sie für ihr Versi­che­rungs­ver­hältnis unwirksam und die darauf beruhenden Start­gut­schriften unverbindlich. Es besteht jedoch kein Anspruch auf die Feststellung eines bestimmten (höheren) Wertes der Anwartschaft oder Startgutschrift zum Umstel­lungs­stichtag oder der Bindung der Beklagten an einen bestimmten Berech­nungsmodus. Dahingehende gerichtliche Feststellungen wären mit der verfas­sungs­rechtlich geschützten Tarifautonomie unvereinbar. Es bleibt allein Sache der Tarifpartner, die Besitzstände der rentenfernen Versicherten unter Beachtung des höherrangigen Rechts neu auszugestalten.

Wegen der grundsätzlichen Bedeutung hat das Oberlan­des­gericht in allen Verfahren die Revision zum Bundes­ge­richtshof zugelassen.

Erläuterungen

siehe auch Urteil des OLG Karlsruhe vom 24.11.2005: VBL-Zusatz­ver­sorgung: Start­gut­schriften der rentenfernen Versicherten unverbindlich

Quelle: Pressemitteilung des OLG Karlsruhe vom 22.09.2005

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