21.11.2024
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Gericht der Europäischen Union Urteil11.06.2015

EU-Zu­stellungs­ver­ordnung: Klagen von Privatpersonen gegen Zwangsumtausch griechischer Staatsanleihen können an griechischen Staat zugestellt werdenKlagen fallen - sofern sie nicht offenkundig keine Zivil- oder Handelssachen sind - in Anwen­dungs­bereich der Verordnung

Die in Deutschland von Privatpersonen erhobenen Klagen gegen den griechischen Staat wegen des Zwangsumtauschs ihrer Staatsanleihen können nach der EU-Zu­stellungs­ver­ordnung an den griechischen Staat zugestellt werden. Es ist nämlich nicht offenkundig, dass solche Klagen keine Zivil- oder Handelssachen sind. Dies geht aus einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union hervor.

Die EU-Zustel­lungs­ver­ordnung* soll die Übermittlung gerichtlicher und außer­ge­richt­licher Schriftstücke in Zivil- und Handelssachen verbessern und beschleunigen. So sieht die Verordnung u. a. die Verwendung von Formblättern sowie eine unmittelbare und schnellst­mögliche Übermittlung zwischen den von den Mitgliedstaaten hierzu benannten Stellen vor. Sie bestimmt jedoch ausdrücklich, dass sie nicht die Haftung des Staates für Handlungen oder Unterlassungen im Rahmen der Ausübung hoheitlicher Rechte erfasst.

Deutsche Gerichte erbitten Entscheidung über Anwendbarkeit der Verordnung für Klagen privater Anleiheinhaber

Das Landgericht Wiesbaden und das Landgericht Kiel möchten wissen, ob Klagen auf Entschädigung, auf Vertrags­er­füllung und auf Schadensersatz, die von privaten Anleiheinhabern gegen den emittierenden Staat erhoben worden sind, unter den Begriff "Zivil- oder Handelssachen" im Sinne der Verordnung fallen, so dass die Verordnung anwendbar ist.

Hintergrund der Klagen

Bei diesen Gerichten haben Inhaber griechischer Staatsanleihen, die in Deutschland wohnhaft sind, Klagen gegen den griechischen Staat erhoben. Sie machen geltend, dadurch geschädigt worden zu sein, dass Griechenland sie im März 2012 gezwungen habe, ihre Wertpapiere gegen neue Staatsanleihen mit einem erheblich niedrigeren Nominalwert zu tauschen. Griechenland hatte zur Bewältigung einer schweren Finanzkrise im Februar 2012 ein Gesetz** erlassen, das vorsah, dass die Inhaber bestimmter griechischer Staatsanleihen ein Umstruk­tu­rie­rungs­angebot erhalten und dass in die betreffenden Emissi­ons­verträge eine Umstruk­tu­rie­rungs­klau­sel*** aufgenommen wird, nach der eine Änderung der ursprünglichen Emissi­ons­be­din­gungen der Wertpapiere mit qualifizierter Mehrheit des ausstehenden Kapitals beschlossen werden konnte (und diese Beschlüsse auch für die Minderheit galten). Keiner der Kläger nahm das vom griechischen Staat auf der Grundlage des Gesetzes unterbreitete Umtauschangebot an. Im Rahmen des Verfahrens zur Zustellung der Klagen an den griechischen Staat (als Beklagten) ist fraglich, ob sie Zivil- oder Handelssachen im Sinne der Verordnung betreffen (so dass die Zustellung auf der Grundlage der Verordnung durchgeführt werden könnte) oder eine staatliche Handlung oder Unterlassung im Rahmen der Ausübung hoheitlicher Rechte zum Gegenstand haben (so dass die Verordnung nicht anwendbar wäre).

EuGH: Klagen fallen in Anwen­dungs­bereich der Verordnung

Mit seinem Urteil antwortet der Gerichtshof, dass Klagen, wie sie in den Ausgangs­ver­fahren von privaten Anleiheinhabern gegen den emittierenden Staat erhoben worden sind, in den Anwen­dungs­bereich der Verordnung fallen, es sei denn, dass sie offenkundig keine Zivil- oder Handelssachen sind. Speziell zu den beim Landgericht Wiesbaden und beim Landgericht Kiel erhobenen Klagen stellt der Gerichtshof fest, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass sie offenkundig keine Zivil- oder Handelssachen im Sinne der Verordnung betreffen. Daher ist die Verordnung auf sie anwendbar.

Verordnung bei Zivil- oder Handelssachen anwendbar

Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass sich ein Gericht, das wie die beiden deutschen Gerichte vor der Frage der Anwendbarkeit der Verordnung steht, auf eine erste Prüfung der ihm vorliegenden, notwen­di­gerweise unvollständigen Informationen beschränken muss, um festzustellen, ob die bei ihm erhobene Klage zu den Zivil- oder Handelssachen gehört oder zu einem Bereich, der nicht von der Verordnung erfasst wird. Dabei ist die Verordnung schon dann anwendbar, wenn das angerufene Gericht zu dem Schluss kommt, dass es nicht offenkundig ist, dass die bei ihm erhobene Klage keine Zivil- oder Handelssache ist. Das Ergebnis dieser Prüfung kann selbst­ver­ständlich nicht den späteren Entscheidungen vorgreifen, die das angerufene Gericht insbesondere in Bezug auf seine eigene Zuständigkeit und die Begründetheit der Rechtssache zu treffen hat.

Finanzielle Bedingungen der betreffenden Wertpapiere wurden nicht eindeutig nachweislich einseitig vom griechischen Staat festgelegt

Anschließend stellt der Gerichtshof fest, dass die Emission von Anleihen nicht notwen­di­gerweise die Wahrnehmung von Befugnissen voraussetzt, die von den im Verhältnis zwischen Privatpersonen geltenden Regeln abweichen. Zudem geht aus den Akten nicht in offenkundiger Weise hervor, dass die finanziellen Bedingungen der betreffenden Wertpapiere einseitig vom griechischen Staat festgelegt worden wären und nicht auf der Grundlage der Markt­be­din­gungen, die den Handel und die Rendite dieser Finan­z­in­strumente regeln.

In Rede stehendes Gesetz erging zur Bewältigung einer schweren Finanzkrise

Es trifft zu, dass das in Rede stehende griechische Gesetz im Rahmen der Verwaltung der öffentlichen Finanzen und insbesondere der Umstruk­tu­rierung der öffentlichen Schulden ergangen ist, um eine schwere Finanzkrise zu bewältigen, und im Übrigen hat Griechenland zu diesem Zweck die Möglichkeit eines Umtauschs der Wertpapiere in die fraglichen Verträge aufgenommen.

Erlass des in Rede stehenden griechischen Gesetzes muss nicht zwingend geltend gemachten Schaden verursacht haben

Der Gerichtshof stellt jedoch zum einen fest, dass der Umstand, dass diese Möglichkeit durch ein Gesetz eingeführt wurde, als solcher nicht ausschlaggebend für den Schluss ist, dass der Staat seine hoheitlichen Rechte ausgeübt hat. Zum anderen ist nicht offenkundig, dass der Erlass des in Rede stehenden griechischen Gesetzes zu unmittelbaren und sofortigen Änderungen der finanziellen Bedingungen der betreffenden Wertpapiere geführt und somit den von den Privatpersonen geltend gemachten Schaden verursacht hätte. Diese Änderungen sollten nämlich im Anschluss an eine Entscheidung der Mehrheit der Anleiheinhaber auf der Grundlage der durch dieses Gesetz in die Emissi­ons­verträge eingefügten Umtauschklausel erfolgen, was im Übrigen durch die Absicht des griechischen Staats bestätigt wird, die Verwaltung der Anleihen im zivil­recht­lichen Rahmen fortzuführen.

Erläuterungen

* Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 über die Zustellung gerichtlicher und außer­ge­richt­licher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 des Rates (ABl. L 324, S. 79).

** Gesetz Nr. 4050/2012 vom 23. Februar 2012 ("Regeln zur Änderung von Wertpapieren, die vom griechischen Staat emittiert oder garantiert wurden, mit Zustimmung der Anleiheinhaber") (FEK A' 36/23.2.2012).

*** Auch unter der Bezeichnung "CAC" (collective action clause) bekannt.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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