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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Urteil17.02.2011
Pflichtangaben zur Religionszugehörigkeit auf Lohnsteuerkarte stellen keinen Verstoß gegen Religionsfreiheit darAngaben verfolgen legitimen Zweck die ordnungsgemäße Erhebung der Kirchensteuer zu gewährleisten
Verpflichtende Angaben auf der Lohnsteuerkarte, aus der hervorgeht, dass der Steuerzahler keiner kirchensteuererhebenden Religionsgemeinschaft angehört, stellen weder eine Verletzung des Rechts auf Gedanken- Gewissens- und Religionsfreiheit, noch eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention dar. Dies entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.
Der Beschwerdeführer des zugrunde liegenden Falls, Johannes Wasmuth, ist deutscher Staatsangehöriger, 1956 geboren, und lebt in München. Er ist Rechtsanwalt und gleichzeitig als Lektor in einem Verlag beschäftigt. Auf seinen Lohnsteuerkarten der letzten Jahre informierte der Eintrag „--“ in der Rubrik „Kirchensteuerabzug“ seinen Arbeitgeber darüber, dass für ihn keine Kirchensteuer vom Gehalt einzubehalten war.
Sachverhalt
Nachdem Johannes Wasmuth beim Finanzamt erfolglos die Ausstellung einer Lohnsteuerkarte ohne Angabe der Religionszugehörigkeit für die Jahre 1997 und 1998 beantragt hatte und in dieser Sache ohne Erfolg vor den deutschen Gerichten geklagt hatte, stellte er für seine Lohnsteuerkarte für 2002 erneut vergeblich einen solchen Antrag. In einer anschließenden Klage beim Finanzgericht machte er geltend, dass die verpflichtende Angabe auf der Lohnsteuerkarte sein Recht verletze, seine religiösen Überzeugungen nicht preiszugeben, dass es für die Erhebung der Kirchensteuer durch den Staat keine Gesetzesgrundlage gebe und dass es für ihn als Homosexuellen nicht zumutbar sei, an einem Steuererhebungsverfahren teilzunehmen, das gesellschaftlichen Gruppen – den Kirchen – diene, die erklärtermaßen einen wichtigen Aspekt seiner Persönlichkeit in Frage stellten und herabwürdigten.
Finanzgericht: Geringfügiger Eingriff in Grundrechte im Namen der ordnungsgemäßen Erhebung der Kirchensteuer muss toleriert werden
Das Finanzgericht wies die Klage ab und legte zur Begründung dar, dass sich das Recht der Finanzämter, die Zugehörigkeit bzw. fehlende Zugehörigkeit zu einer kirchensteuererhebenden Religionsgemeinschaft zu erfragen und die erhobenen Daten an den für den Abzug der Kirchensteuer zuständigen Arbeitgeber weiterzuleiten, aus dem bayerischen Kirchensteuergesetz, den anwendbaren Bundesgesetzen und dem Grundgesetz ergebe. Der Eintrag „--“ diene dazu, dass Johannes Wasmuth nicht unrechtmäßig zur Zahlung der Kirchensteuer herangezogen werde. Nach Auffassung des Gerichts habe er den geringfügigen Eingriff in seine Grundrechte im Namen der ordnungsgemäßen Erhebung der Kirchensteuer zu tolerieren. Die Standpunkte der katholischen und evangelischen Kirche in Deutschland stellten keinen Eingriff in seine Persönlichkeitsrechte dar und gäben Johannes Wasmuth nicht das Recht, sich dem Kirchensteuererhebungsverfahren zu verweigern; die Position der Kirchen zur Heirat von Homosexuellen werde im Übrigen von vielen gesellschaftlichen Gruppen geteilt.
Bundesverfassungsgericht hält Preisgabe der fehlenden Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft für keine unzumutbare Belastung
Das Urteil wurde vom Bundesfinanzhof bestätigt. Durch Beschluss vom 30. September 2002 (1 BvR 1744/02) nahm das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde Johannes Wasmuths nicht zur Entscheidung an. Es verwies auf seinen Beschluss vom 25. Mai 2001 (1 BvR 2253/00), durch den es Johannes Wasmuths frühere Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen hatte, weil die Preisgabe der fehlenden Zugehörigkeit zu einer kirchensteuererhebungsberechtigten Religionsgemeinschaft einen Steuerpflichtigen nicht unzumutbar belaste.
Beschwerdeführer fühlt sich in Grundrechten verletzt
Johannes Wasmuth beklagte sich, dass die verpflichtende Angabe auf der Lohnsteuerkarte über seine Nichtzugehörigkeit zu einer kirchensteuererhebungsberechtigten Religionsgemeinschaft einen Verstoß gegen Artikel 8 und Artikel 9 sowie gegen Artikel 14 (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Artikel 9 darstelle. Die Beschwerde wurde am 14. April 2003 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt. Die Evangelische Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz erhielten die Erlaubnis, als Drittparteien am Verfahren teilzunehmen und gaben schriftliche Stellungnahmen ab.
Eingriff in Religionsfreiheit verfolgt legitimen Zweck
Im Einklang mit seiner jüngeren Rechtsprechung befand der Gerichtshof zunächst, dass die Verpflichtung Johannes Wasmuths, die Behörden über seine Nichtzugehörigkeit zu einer zur Erhebung der Kirchensteuer berechtigten Kirche oder Religionsgemeinschaft zu informieren, einen Eingriff in sein Recht darstellt, seine religiösen Überzeugungen nicht preiszugeben. Der Gerichtshof zeigte sich aber überzeugt, dass dieser Eingriff nach deutschem Recht gesetzlich vorgesehen war, wie die deutschen Gerichte übereinstimmend befunden hatten. Ferner verfolgte der Eingriff den legitimen Zweck, das Recht der Kirchen und Religionsgemeinschaften auf Erhebung der Kirchensteuer zu gewährleisten. Der Gerichtshof hatte folglich darüber zu befinden, ob der Eingriff im Hinblick auf diesen Zweck verhältnismäßig war.
Auferlegte Verpflichtung zur Preisgabe der Religionszugehörigkeit verhältnismäßig
Die deutschen Gerichte hatten zwischen der negativen Religionsfreiheit Johannes Wasmuths einerseits und dem verfassungsmäßig garantierten Recht der Kirchen und Religionsgemeinschaften auf Erhebung der Kirchensteuer andererseits abwägen müssen. Der Gerichtshof zeigte sich überzeugt, dass die fragliche Eintragung auf der Lohnsteuerkarte, wie die deutsche Bundesregierung geltend gemacht hatte, nur einen beschränkten Informationswert hat, da sie dem Finanzamt lediglich Aufschluss darüber gibt, dass der Steuerzahler keiner der sechs Kirchen und Religionsgemeinschaften angehört, die in Bayern Kirchensteuer erheben können und dieses Recht tatsächlich ausüben. Die Lohnsteuerkarte wird normalerweise nicht öffentlich verwendet; sie erfüllt keinen Zweck außerhalb des Verhältnisses zwischen dem Steuerpflichtigen und seinem Arbeitgeber oder dem Finanzamt. Im Gegensatz zu anderen Fällen, in denen der Gerichtshof eine Verletzung von Artikel 9 festgestellt hatte, hatten die Behörden nicht von Johannes Wasmuth verlangt, zu erläutern, warum er keiner der zur Erhebung der Kirchensteuer berechtigten Religionsgemeinschaften angehört und hatten nicht überprüft, welches seine religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen sind. Der Gerichtshof kam daher zu der Auffassung, dass die Johannes Wasmuth auferlegte Verpflichtung, in Anbetracht der Umstände seines Falls, im Hinblick auf den verfolgten Zweck verhältnismäßig war.
Keine Verletzung der Religionsfreiheit
Bezüglich der Beschwerde Johannes Wasmuths, er trage mit der fraglichen Angabe dazu bei, dass das Erhebungsverfahren für die Kirchensteuer reibungslos funktioniere, und unterstütze so indirekt die Kirchen, deren Standpunkte er ablehne, nahm der Gerichtshof das Argument der deutschen Gerichte zur Kenntnis, dass dieser Beitrag minimal sei und gerade dazu diene, dass Herr Wasmuth nicht unrechtmäßig zur Zahlung der Kirchensteuer herangezogen werde. Außerdem berücksichtigte der Gerichtshof, dass es in der – eng mit der Geschichte und Tradition des jeweiligen Landes verbundenen – Frage der Finanzierung von Kirchen und Religionsgemeinschaften unter den Europaratsmitgliedstaaten keinen einheitlichen Ansatz gibt. In Anbetracht dieser Überlegungen kam der Gerichtshof zu dem Schluss, dass keine Verletzung von Artikel 9 vorlag.
Eingriff in Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verhältnismäßig
Der Gerichtshof unterstrich, dass die Erhebung, Speicherung und Weitergabe von Daten, die das Privatleben einer Person betreffen, in den Anwendungsbereich von Artikel 8 § 1 fallen. Die Johannes Wasmuth auferlegte Verpflichtung stellte also einen Eingriff in seine Rechte nach Artikel 8 dar. In Anbetracht seiner Schlussfolgerungen bezüglich Artikel 9 befand der Gerichtshof aber, dass dieser Eingriff im Sinne von Artikel 8 § 2 gesetzlich vorgesehen und im Hinblick auf den verfolgten Zweck verhältnismäßig war. Folglich lag auch keine Verletzung von Artikel 8 vor.
Beschwerde hinsichtlich Diskriminierung Homosexueller als unzulässig zurückgewiesen
Im Hinblick auf Johannes Wasmuths Beschwerde unter Berufung auf Artikel 14, dass er als Homosexueller diskriminiert worden sei, stellte der Gerichtshof fest, dass er diesen Gesichtspunkt in seiner Verfassungsbeschwerde nicht angeführt hatte. Dieser Teil seiner Beschwerde musste folglich wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs als unzulässig zurückgewiesen werden.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 24.02.2011
Quelle: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte/ra-online
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