14.11.2024
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Dokument-Nr. 4868

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Urteil12.09.2007Gerichtshof der Europäischen UnionT-36/04
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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil12.09.2007

EuGH erleichtert den Zugang zu Dokumenten in Rechtssachen vor den Gemein­schafts­ge­richtenKommission muss Inhalte der jeweiligen Dokumente konkret prüfen

Nach der Gemein­schafts­ver­ordnung über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten hat jeder Unionsbürger sowie jede natürliche oder juristische Person mit Wohnsitz oder Sitz in einem Mitgliedstaat ein Recht auf Zugang zu Dokumenten der Organe. Die Verordnung sieht Ausnahmen von diesem allgemeinen Grundsatz u. a. für den Fall vor, dass die Freigabe eines Dokuments den Schutz von Gerichts­ver­fahren oder den Zweck von Unter­su­chung­s­tä­tig­keiten beeinträchtigen würde, es sei denn, es besteht ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung.

Am 1. August 2003 beantragte die Association de la presse internationale ASBL (API), eine Organisation ausländischer Journalisten mit Sitz in Belgien, bei der Kommission den Zugang zu allen Schriftstücken, die diese in einigen Rechtssachen beim Gericht erster Instanz oder beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften eingereicht hatte.

Die Kommission gewährte Zugang zu den Erklärungen, die sie in den Vorab­ent­schei­dungs­ver­fahren C-224/01 und C-280/00 eingereicht hatte. Mit Entscheidung vom 20. November 2003 verweigerte sie hingegen den Zugang zu Schriftsätzen, die Klageverfahren betrafen.

In ihrer Entscheidung erklärte die Kommission, dass durch den Zugang zu den Dokumenten der Rechtssachen T-209/01, T-210/01 und C-203/03 die laufenden Gerichts­ver­fahren, insbesondere ihre Stellung als Partei und die Ausgewogenheit der Verhandlungen, beeinträchtigt würden. Hinsichtlich des Zugangs zu den Dokumenten der Rechtssache T-342/99 führte die Kommission aus, dass diese Rechtssache zwar abgeschlossen sei, aber eine Schaden­s­er­satzklage (T-212/03) nach sich gezogen habe, und dass die Freigabe ihrer Schriftsätze diese noch anhängige Rechtssache beeinträchtigen würde. Bei den "Open skies"-Rechtssachen seien die betreffenden Mitgliedstaaten, obwohl die Rechtssachen durch die Urteile des Gerichtshofs, mit denen die Vertrags­ver­letzung dieser Mitgliedstaaten festgestellt worden sei, abgeschlossen worden seien, diesen Urteilen noch nicht nachgekommen, so dass noch immer Verhandlungen mit dem Ziel geführt würden, dass sie die festgestellte Zuwiderhandlung beendeten. Aus diesem Grund würde die Freigabe der Schriftsätze den Schutz des Zwecks der diese Vertrags­ver­let­zungen betreffenden Unter­su­chung­s­tä­tig­keiten beeinträchtigen.

Die API hat beim Gericht erster Instanz beantragt, diese Entscheidung für nichtig zu erklären.

Rechtssachen T-209/91 Honeywell, T-210/01 General Electric und C-203/03 Kommission/Österreich

Das Gericht erinnert daran, dass die Kommission den Inhalt jedes Dokuments, zu dem Zugang begehrt wird, konkret prüfen muss. Es stellt fest, dass die Kommission eine solche Prüfung nicht vorgenommen, sondern sich auf eine Unterscheidung nach der Verfahrensart und dem Verfahrensstand beschränkt hat, als sie annahm, dass bei Vorab­ent­schei­dungs­ver­fahren der Zugang gewährt werden könne, wenn die mündliche Verhandlung bereits stattgefunden habe, während bei Klageverfahren der Zugang bis zum Endurteil und bei miteinander im Zusammenhang stehenden anhängigen Rechtssachen bis zum Abschluss der verbundenen Rechtssache zu verweigern sei. Einem solchen Ansatz folgend war die Kommission der Auffassung, dass alle Schriftsätze, die sie in den Rechtssachen eingereicht habe, an denen sie beteiligt sei und die anhängig seien, automatisch und umfassend als von der Ausnahme zum Schutz von Gerichts­ver­fahren erfasst anzusehen seien.

Das Gericht erinnert daran, dass nur dann von einer Prüfung des Inhalts der angeforderten Dokumente abgesehen werden darf, wenn die geltend gemachte Ausnahme offenkundig für den gesamten Inhalt der Dokumente gilt. Das Gericht erkennt hierbei an, dass die Parteien das Recht haben, ihre Interessen unabhängig von jeder äußeren Beeinflussung zu vertreten, und dass es für die Gewährleistung eines von jeder äußeren Beeinflussung freien Informations- und Meinungs­aus­tauschs im Interesse einer geordneten Rechtspflege erforderlich sein kann, die Schriftsätze der Organe vom Zugang der Öffentlichkeit auszunehmen, solange ihr Inhalt nicht vor Gericht erörtert worden ist. Das Gericht kommt daher zu dem Ergebnis, dass sich die Kommission weigern darf, ihre Schriftsätze freizugeben, ohne ihren Inhalt konkret zu prüfen, wenn das Gerichts­ver­fahren eine Rechtssache betrifft, in der die mündliche Verhandlung noch nicht stattgefunden hat.

Nach der mündlichen Verhandlung ist die Kommission hingegen verpflichtet, jedes angeforderte Dokument konkret daraufhin zu überprüfen, ob es angesichts seines Inhalts freigegeben werden kann oder ob seine Freigabe das Gerichts­ver­fahren, auf das es sich bezieht, beeinträchtigen würde.

In diesem Zusammenhang stellt das Gericht fest, dass die Kommission nicht rechts­feh­lerhaft gehandelt hat, als sie die Schriftsätze der Rechtssachen T-209/01, T-210/01 und C-203/03 nicht konkret geprüft hat, da die mündliche Verhandlung in diesen Rechtssachen zum Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht stattgefunden hatte.

Hinsichtlich der Möglichkeit, die Freigabe trotz der Beein­träch­tigung von Gerichts­ver­fahren durch ein überwiegendes öffentliches Interesse zu rechtfertigen, führt das Gericht aus, dass es Sache des betreffenden Organs ist, die Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Freigabe und dem Interesse an der Verweigerung der Freigabe - gegebenenfalls unter Berück­sich­tigung des Vorbringens des Antragstellers - vorzunehmen. Das Gericht weist außerdem darauf hin, dass grundsätzlich das überwiegende öffentliche Interesse von den allgemeinen Trans­pa­renz­grund­sätzen verschieden sein muss, die der Verordnung zugrunde liegen, dass aber die Berufung auf diese Grundsätze angesichts der besonderen Umstände des Einzelfalls so dringend sein kann, dass sie die Schutz­be­dürf­tigkeit der streitigen Dokumente überwiegt. Das Gericht stellt fest, dass dies hier nicht der Fall ist, da das Recht der Öffentlichkeit, über laufende Rechtssachen informiert zu werden, dadurch gewährleistet wird, dass Informationen über jedes Gerichts­ver­fahren, sobald es anhängig gemacht worden ist, im Amtsblatt veröffentlicht werden, und ein Sitzungsbericht am Tag der mündlichen Verhandlung veröffentlicht wird, in der das Vorbringen der Parteien öffentlich erörtert wird.

Das Gericht kommt daher zu dem Ergebnis, dass die Verweigerung des Zugangs zu den Dokumenten der Rechtssachen T-209/01, T-210/01 und C-203/03 gerechtfertigt war.

Rechtssache T-342/99 Airtours

Das Gericht führt aus, dass die Kommission die Verweigerung des Zugangs zu ihren Schriftsätzen in der Rechtssache T-342/99 damit gerechtfertigt hat, dass einige in dieser Rechtssache vorgetragene Argumente zur Verteidigung ihres Standpunkts im Rahmen der von derselben Partei erhobenen Schaden­s­er­satzklage (T-212/03) verwendet und erörtert werden könnten. Nach Ansicht des Gerichts ist eine solche Rechtfertigung offenkundig nicht als Nachweis geeignet, dass die Verweigerung des Zugangs zu diesen Schriftsätzen von der Ausnahme zum Schutz von Gerichts­ver­fahren gedeckt war.

Hierzu stellt das Gericht fest, dass diese Schriftsätze eine durch ein Urteil des Gerichts abgeschlossene Rechtssache betreffen und dass ihr Inhalt im Sitzungsbericht veröffentlicht, im Lauf einer öffentlichen mündlichen Verhandlung erörtert und im Urteil wiedergegeben wurde, so dass es sich um Vorbringen handelt, das der Öffentlichkeit bereits zugänglich ist. Der Umstand allein, dass Argumente, die bereits in einer abgeschlossenen Rechtssache vor Gericht vorgetragen worden sind, auch in einer ähnlichen Rechtssache erörtert werden könnten, lässt keineswegs auf eine Gefahr der Beein­träch­tigung des Ablaufs des noch anhängigen Verfahrens schließen. Die behauptete Notwendigkeit, Argumente zu schützen, die in einem noch anhängigen Verfahren vorgetragen werden, kann also kein Grund für die Verweigerung des Zugangs zu Schriftsätzen einer Rechtssache sein, die bereits durch ein Urteil des Gerichts abgeschlossen wurde.

Daraus folgt, dass die Kommission einen Beurtei­lungs­fehler begangen hat, als sie den Zugang zu den Schriftsätzen der Rechtssache T-342/99 verweigerte, und dass diese ablehnende Entscheidung für nichtig zu erklären ist.

"Open-skies"-Rechtssachen

Das Gericht erinnert daran, dass die Verweigerung des Zugangs zu Dokumenten, die im Rahmen des Vertrags­ver­let­zungs­ver­fahrens erstellt wurden, in Anwendung der Ausnahme zum Schutz des Zwecks von Unter­su­chung­s­tä­tig­keiten durch die Möglichkeit einer gütlichen Beilegung des Streits zwischen der Kommission und dem Mitgliedstaat gerechtfertigt ist, und dass dieses Vertrau­lich­keits­er­for­dernis im Verfahren vor dem Gerichtshof fortbesteht. Da die in einem Vertrags­ver­let­zungs­ver­fahren eingereichten Schriftsätze notwen­di­gerweise die Ergebnisse der Untersuchung enthalten, die durchgeführt wurde, um die bestrittene Vertrags­ver­letzung nachzuweisen, können sie von dieser Ausnahme gedeckt sein.

Das Gericht weist darauf hin, dass in der vorliegenden Rechtssache der Gerichtshof zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung bereits seit etwa einem Jahr die Urteile erlassen hatte, mit denen er die den betreffenden Mitgliedstaaten von der Kommission vorgeworfenen Vertrags­ver­let­zungen feststellte. Es kann daher nicht bestritten werden, dass zu diesem Zeitpunkt die auf den Nachweis der fraglichen Vertrags­ver­let­zungen gerichteten Unter­su­chung­s­tä­tig­keiten beendet waren und zur Feststellung der Verstöße durch den Gerichtshof geführt hatten.

Nach Ansicht des Gerichts kann die Zugangs­ver­wei­gerung nicht damit gerechtfertigt werden, dass die betreffenden Mitgliedstaaten diesen Urteilen noch nicht nachgekommen waren, so dass die Verfahren bei der Kommission noch liefen und eine erneute Befassung des Gerichtshofs nicht ausgeschlossen werden konnte. Eine Verweigerung des Zugangs zu Dokumenten, solange nicht alle im Anschluss an diese Verfahren zu ergreifenden Maßnahmen erlassen sind, selbst wenn eine neue Untersuchung erforderlich ist, die eventuell zu einer zweiten Klage führt, liefe nämlich darauf hinaus, den Zugang zu diesen Dokumenten von zukünftigen und ungewissen Ereignissen abhängig zu machen, für deren Eintritt es auf die Schnelligkeit und die Sorgfalt der verschiedenen beteiligten Behörden ankäme. Dieses Ergebnis stünde im Widerspruch zu dem Ziel, den größtmöglichen Zugang der Öffentlichkeit zu den Dokumenten der Organe zu gewährleisten. Das Gericht kommt zu dem Ergebnis, dass die Kommission dadurch einen Beurtei­lungs­fehler begangen hat, dass sie den Zugang zu den Schriftsätzen verweigerte, die sie in den "Open-Skies"-Rechtssachen eingereicht hatte. Die Entscheidung wird daher insoweit für nichtig erklärt.

Quelle: ra-online, Pressemitteilung Nr. 60/07 des EuGH vom 12.09.2007

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