21.11.2024
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Dokument-Nr. 20959

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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil23.04.2015

Missbräuchliche Klauseln im Versicherungs­vertrag: Verbraucher muss wirtschaftliche Folgen bei Vertrags­ab­schluss einschätzen könnenVertrag muss konkrete Funktionsweise der Versicherung transparent und verständlich darstellen

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat entschieden, dass ein Versicherungs­vertrag die Funktionsweise der Versicherung transparent, genau und nachvollziehbar darstellen muss, damit der Verbraucher die wirtschaft­lichen Folgen einschätzen kann. Die Tatsache, dass der Versicherungs­vertrag mit gleichzeitig abgeschlossenen Darle­hens­ver­trägen verbunden ist, kann bei der Prüfung der Einhaltung des Transparenz­erfordernisses der Vertrags­klauseln eine Rolle spielen, da davon auszugehen ist, dass der Verbraucher nicht die gleiche Aufmerksamkeit hinsichtlich des Umfangs der abgedeckten Risiken walten lassen wird.

Die Richtlinie über missbräuchliche Klauseln* sieht vor, dass missbräuchliche Klauseln, die in einem mit einem Gewer­be­trei­benden geschlossenen Vertrag enthalten sind, für die Verbraucher nicht verbindlich sind. Nach der Richtlinie betrifft die Beurteilung der Missbräuch­lichkeit der Klauseln jedoch weder den Hauptgegenstand des Vertrags noch die Angemessenheit des Verhältnisses zwischen Preis und Entgelt einerseits und den die Gegenleistung bildenden Dienst­leis­tungen oder Waren andererseits, sofern diese Klauseln klar und verständlich abgefasst sind.

Sachverhalt

Im zugrunde liegenden Verfahren schloss Herr Jean-Claude Van Hove im Jahr 1998 mit einem Kreditinstitut zwei Hypothe­ka­r­da­r­le­hens­verträge über einen Betrag von etwa 68.000 Euro ab. Bei Abschluss dieser Darlehen trat er einem "Gruppen­ver­si­che­rungs­vertrag" der CNP Assurances bei, der u. a. die Übernahme von 75 % der Zahlungs­ver­pflich­tungen im Fall der vollständigen Arbeits­un­fä­higkeit gewährleisten sollte. Infolge eines Arbeitsunfalls wurde Herr Van Hove zu einem Grad von 72 % dauerhaft teilweise arbeitsunfähig im Sinne des französischen Sozia­l­ver­si­che­rungs­rechts. Der vom Versi­che­rungs­un­ter­nehmen beauftragte Arzt kam zu dem Schluss, dass der Gesund­heits­zustand von Herrn Van Hove ihm zwar nicht die Wiederaufnahme seines früheren Berufs, wohl aber die Ausübung einer angepassten Teilzeit­be­rufs­tä­tigkeit ermögliche. Das Unternehmen lehnte es daher ab, weiterhin die Zahlungs­ver­pflich­tungen aus dem Darlehen wegen der Arbeits­un­fä­higkeit von Herrn Van Hove zu übernehmen.

Kunde hält Vertrags­klauseln in Bezug auf Definition der vollständigen Arbeits­un­fä­higkeit für unverständlich und missbräuchlich

Herr Van Hove hat Klage auf Feststellung erhoben, dass die Vertrags­klauseln in Bezug auf die Definition der vollständigen Arbeits­un­fä­higkeit und die Bedingungen, unter denen die Zahlungs­ver­pflich­tungen von der Versicherung übernommen werden, missbräuchlich sind. Nach Ansicht von Herrn Van Hove schafft die Klausel über die vollständige Arbeits­un­fä­higkeit ein erhebliches Ungleichgewicht zum Nachteil des Verbrauchers, zumal ihre Definition für einen normalen Verbraucher unverständlich sei.

Versicherung verneint Missbräuch­lichkeit der Vertrags­klauseln

Die CNP Assurances ist der Ansicht, dass die betreffende Klausel nicht missbräuchlich sein könne, weil sie den Gegenstand des Vertrags betreffe. Zudem sei die Definition der vollständigen Arbeits­un­fä­higkeit klar und eindeutig, auch wenn sich die zur Feststellung des Grades der Arbeits­un­fä­higkeit herangezogenen Kriterien von den im Bereich der Sozia­l­ver­si­cherung geltenden unterschieden. Unter diesen Umständen möchte das mit dem Rechtsstreit befasste französische Gericht (Tribunal de grande instance de Nîmes) wissen, ob die betreffende Klausel möglicherweise als missbräuchlich einzustufen ist.

Streitige Klausel kann auch eigentlichen Gegenstand des Vertrags betreffen

In seinem Urteil stellt der Gerichtshof unter Hinweis auf den 19. Erwägungsgrund der Richtlinie fest, dass Klauseln in Versi­che­rungs­ver­trägen, die das versicherte Risiko und die Verpflichtung des Versicherers klar festlegen oder abgrenzen, nicht Gegenstand einer Beurteilung der Missbräuch­lichkeit sind, sofern diese Einschränkungen bei der Berechnung der vom Verbraucher gezahlten Prämie Berück­sich­tigung finden. Daher ist es nicht ausgeschlossen, dass die streitige Klausel den eigentlichen Gegenstand des Vertrags betrifft, da sie offenbar das versicherte Risiko und die Verpflichtung des Versicherers begrenzt und zugleich die Hauptleistung des Versi­che­rungs­vertrags festlegt. Der Gerichtshof überlässt es dem nationalen Gericht, dies zu prüfen, weist aber darauf hin, dass es ihm obliegt, unter Berück­sich­tigung der Natur, der Systematik und sämtlicher Vertrags­be­stim­mungen sowie des rechtlichen und tatsächlichen Kontexts festzustellen, ob die Klausel eine Hauptleistung des Vertragswerks festlegt, zu dem sie gehört.

Wirtschaftliche Folgen waren für Kunden mangels transparenter Erläuterung möglicherweise nicht ersichtlich

Hinsichtlich der Frage, ob die streitige Klausel klar und verständlich abgefasst ist, weist der Gerichtshof darauf hin, dass das von der Richtlinie aufgestellte Erfordernis der Transparenz von Vertrags­klauseln nicht auf deren bloße Verständ­lichkeit in formeller und gramm­a­ti­ka­lischer Hinsicht beschränkt werden kann, sondern dass dieses Erfordernis umfassend verstanden werden muss. Im vorliegenden Fall schließt der Gerichtshof nicht aus, dass die Tragweite der Klausel, die den Begriff der vollständigen Arbeits­un­fä­higkeit definiert, vom Verbraucher nicht erfasst wurde. So kann es sein, dass Herr Van Hove mangels einer transparenten Erläuterung der konkreten Funktionsweise der die Übernahme der Zahlungs­ver­pflich­tungen des Darlehens im Rahmen des Vertragswerks betreffenden Versicherung nicht in der Lage war, die sich daraus für ihn ergebenden wirtschaft­lichen Folgen auf der Grundlage genauer und nachvoll­ziehbarer Kriterien einzuschätzen. Auch dies hat das nationale Gericht zu prüfen.

Verbraucher muss wirtschaftliche Folgen auf Grundlage genauer und nachvoll­ziehbarer Kriterien einschätzen können

Nach Ansicht des Gerichtshofs könnte auch der Umstand, dass der Versi­che­rungs­vertrag zusammen mit den Darle­hens­ver­trägen Teil eines Vertragswerks ist, in diesem Kontext relevant sein. Daher kann vom Verbraucher nicht verlangt werden, die gleiche Aufmerksamkeit hinsichtlich des Umfangs der vom Versi­che­rungs­vertrag abgedeckten Risiken walten zu lassen, wie wenn er den Versi­che­rungs­vertrag und die Darle­hens­verträge getrennt abgeschlossen hätte. Der Gerichtshof stellt daher fest, dass die Klauseln, die den Hauptgegenstand eines Versi­che­rungs­vertrags betreffen, als klar und verständlich abgefasst angesehen werden können, wenn sie für den Verbraucher nicht nur grammatikalisch nachvollziehbar sind, sondern auch die konkrete Funktionsweise der Versicherung unter Berück­sich­tigung des Vertragswerks, zu dem sie gehören, transparent darstellen, so dass der Verbraucher in der Lage ist, die sich daraus für ihn ergebenden wirtschaft­lichen Folgen auf der Grundlage genauer und nachvoll­ziehbarer Kriterien einzuschätzen. Andernfalls kann sich das nationale Gericht mit der etwaigen Missbräuch­lichkeit der betreffenden Klausel befassen.

Erläuterungen

* Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbrau­cher­ver­trägen (ABl. L 95, S. 29).

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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