23.11.2024
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Dokument-Nr. 26398

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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil04.09.2018

Nicht offiziell stillgelegtes Fahrzeug benötigt weiterhin Kraftfahrzeug-Haft­pflicht­versicherungBei fehlender Versicherung können Fahrzeuginhaber bei Unfällen auch als Unfal­lun­be­teiligte haftbar gemacht werden

Für ein nicht offiziell stillgelegtes Fahrzeug, das fahrbereit ist, muss auch dann eine Kraftfahrzeug-Haft­pflicht­versicherung bestehen, wenn sein Eigentümer, der nicht mehr damit fahren will, es auf einem Privat­grundstück abgestellt hat. Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass die nationale Entschädigungs­stelle in Fällen, in denen die Person, die verpflichtet war, für ein an einem Unfall beteiligtes Fahrzeug eine Kraftfahrzeug-Haft­pflicht­versicherung abzuschließen, ihrer Verpflichtung nicht nachgekommen ist, auch dann Rückgriff auf sie nehmen kann, wenn sie zivilrechtlich nicht für den Unfall verantwortlich war.

Frau Alina Antónia Juliana war Eigentümerin eines in Portugal zugelassenen Kraftfahrzeugs. Wegen gesund­heit­licher Probleme hatte sie die Nutzung dieses Fahrzeugs eingestellt und es im Hof ihres Hauses geparkt, ohne jedoch Schritte zu seiner offiziellen Stilllegung zu unternehmen. Im November 2006 bemächtigte sich der Sohn von Frau Juliana ohne deren Erlaubnis und Wissen des Fahrzeugs. Das Fahrzeug kam von der Straße ab, was zum Tod des Sohnes von Frau Juliana und zweier weiterer Fahrzeug­in­sassen führte. Frau Juliana hatte zum Zeitpunkt des Unfalls keine Kraftfahrzeug-Haftpflicht­ver­si­cherung für das Fahrzeug abgeschlossen. Der Fundo de Garantia Automóvel (Automobil-Garantiefonds, Portugal) leistete den Rechts­nach­folgern der Insassen Ersatz für die durch den Unfall entstandenen Schäden. Anschließend nahm er im Einklang mit der insoweit im portugiesischen Recht vorgesehenen Möglichkeit u.a. Frau Juliana gerichtlich in Anspruch, da sie ihrer Verpflichtung zum Abschluss einer Haftpflichtversicherung für ihr Kraftfahrzeug nicht nachgekommen sei, und verlangte von ihr die Erstattung des Betrags von 437.345,85 Euro, den er an die Rechts­nach­folger der Insassen gezahlt hatte. Frau Juliana machte geltend, dass sie für den Schadensfall nicht verantwortlich sei und, da sie ihr Fahrzeug im Hof ihres Hauses abgestellt habe und es nicht habe nutzen wollen, nicht zum Abschluss eines Kraftfahrzeug-Haftpflicht­ver­si­che­rungs­vertrags verpflichtet gewesen sei.

Die Erste Richtlinie über die Kraftfahrzeug-Haftpflicht­ver­si­cherung* bestimmt, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten durch eine Versicherung gedeckt sein muss. Die Zweite Richtlinie über die Kraftfahrzeug-Haftpflicht­ver­si­che­rung** sieht die Schaffung einer Stelle vor, die u.a. für die durch ein nicht versichertes Fahrzeug verursachten Sach- oder Personenschäden Ersatz zu leisten hat. Die Mitgliedstaaten können Bestimmungen erlassen, durch die der Rückgriff dieser Stelle auf den für den Unfall Verant­wort­lichen sowie auf andere zur Schadens­re­gu­lierung verpflichtete Versicherer oder Einrichtungen der sozialen Sicherheit geregelt wird.

Nationales Gericht erbittet Vorab­ent­scheidung des EuGH zur möglichen Haftbarkeit der Fahrzeug­be­sitzerin

In diesem Kontext hat das vom Fundo de Garantia Automóvel angerufene Supremo Tribunal de Justiça (Oberster Gerichtshof, Portugal) beschlossen, dem Gerichtshof Fragen vorzulegen. Es möchte zunächst wissen, ob eine Kraftfahrzeug-Haftpflicht­ver­si­cherung abgeschlossen werden muss, wenn das betreffende Fahrzeug nur deshalb, weil sein Eigentümer es nicht mehr nutzen will, auf einem Privat­grundstück abgestellt wurde. Sodann möchte es wissen, ob die Zweite Richtlinie inner­staat­lichen Rechts­vor­schriften entgegensteht, die vorsehen, dass die Entschä­di­gungs­stelle gegen die Person, die eine Haftpflicht­ver­si­cherung für das Fahrzeug, das die von dieser Stelle übernommenen Schäden verursacht hat, hätte abschließen müssen, dies aber unterlassen hat, auch dann ein Rückgriffsrecht hat, wenn diese Person zivilrechtlich nicht für den Unfall verantwortlich ist, bei dem die Schäden entstanden sind.

EuGH bejaht Haftpflicht­ver­si­che­rungs­pflicht

Mit seinem Urteil stellt der Gerichtshof fest, dass nach der Ersten Richtlinie eine Kraftfahrzeug-Haftpflicht­ver­si­cherung abgeschlossen werden muss, wenn das betreffende Fahrzeug weiterhin in einem Mitgliedstaat zugelassen und fahrbereit ist und nur deshalb auf einem Privat­grundstück abgestellt wurde, weil sein Eigentümer es nicht mehr nutzen will.

Auch auf Privat­grundstück abgestelltes Fahrzeug unterliegt Versi­che­rungs­pflicht

Der Gerichtshof führt zunächst aus, dass ein Fahrzeug, das nicht ordnungsgemäß stillgelegt wurde und fahrbereit ist, unter den Begriff "Fahrzeug" im Sinne der Ersten Richtlinie fällt und nicht allein deshalb, weil sein Eigentümer es nicht mehr nutzen will und es auf einem Privat­grundstück abgestellt hat, nicht mehr der in der Richtlinie aufgestellten Versi­che­rungs­pflicht unterliegt. Das Fahrzeug von Frau Juliana hatte seinen gewöhnlichen Standort im Gebiet eines Mitgliedstaats (Portugal) und war dort nach wie vor zugelassen. Es war auch fahrbereit. Daraus schließt der Gerichtshof, dass das Fahrzeug der in der Ersten Richtlinie aufgestellten Versi­che­rungs­pflicht unterlag. Dabei spielt es keine Rolle, dass Frau Juliana das Fahrzeug auf einem Privat­grundstück, nämlich im Hof ihres Hauses, abgestellt hatte, bevor ihr Sohn Besitz von ihm ergriff, und dass sie es nicht mehr nutzen wollte.

Rückgriffsrecht der Entschä­di­gungs­stelle gilt auch für nicht für den Unfall verantwortliche Personen

Sodann stellt der Gerichtshof fest, dass die Zweite Richtlinie einer gesetzlichen Regelung nicht entgegensteht, die - wie die portugiesischen Rechts­vor­schriften - vorsieht, dass die Entschä­di­gungs­stelle (im vorliegenden Fall der Fundo de Garantia Automóvel) ein Rückgriffsrecht nicht nur gegen den oder die für den Unfall Verant­wort­lichen hat, sondern auch gegen die Person, die eine Haftpflicht­ver­si­cherung für das Fahrzeug, das den Schaden verursacht hat, hätte abschließen müssen, dies aber unterlassen hat; dies gilt auch dann, wenn sie zivilrechtlich nicht für den Unfall­ver­ant­wortlich ist.

Mitgliedsstaat können eigene innerstaatliche Rechts­vor­schriften für Entschä­di­gungs­stellen vorsehen

Der Unions­ge­setzgeber wollte zwar das Recht der Mitgliedstaaten unberührt lassen, den Rückgriff der Entschä­di­gungs­stelle (im vorliegenden Fall des Fundo de Garantia Automóvel) u.a. auf "den oder die für den Unfall Verant­wort­lichen" zu regeln, hat jedoch die verschiedenen Aspekte des Rückgriffs dieser Stelle (insbesondere die Bestimmung der übrigen Personen, bei denen ein solcher Rückgriff erfolgen kann) nicht harmonisiert, so dass diese Aspekte dem inner­staat­lichen Recht jedes Mitgliedstaats unterliegen. Folglich können innerstaatliche Rechts­vor­schriften vorsehen, dass die Entschä­di­gungs­stelle, wenn der Eigentümer des am Unfall beteiligten Fahrzeugs seiner Pflicht, es zu versichern, nicht genügt hat, nicht nur den oder die für den Unfall Verant­wort­lichen in Anspruch nehmen kann, sondern auch den Eigentümer des Fahrzeugs, unabhängig von dessen zivil­recht­licher Verant­wort­lichkeit für den Unfall.

Erläuterungen

* Richtlinie 72/166/EWG des Rates vom 24. April 1972 betreffend die Angleichung der Rechts­vor­schriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflicht­ver­si­cherung und der Kontrolle der entsprechenden Versi­che­rungs­pflicht (ABl. 1972, L 103, S.1) in der durch die Richtlinie 2005/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 (ABl. 2005, 149, S. 14) geänderten Fassung ("Erste Richtlinie").

** Zweite Richtlinie 84/5/EWG des Rates vom 30. Dezember 1983 betreffend die Angleichung der Rechts­vor­schriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflicht­ver­si­cherung (ABl. 1984, L 8, S. 17) in der durch die Richtlinie 2005/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 (ABl. 2005, L 149, S.14) geänderten Fassung. Durch die Richtlinie 2009/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflicht­ver­si­cherung und die Kontrolle der entsprechenden Versi­che­rungs­pflicht ABl. 2009, L 263, S. 11) wurden u.a. die Erste und die Zweite Richtlinie aufgehoben. Auf den Sachverhalt des Ausgangs­ver­fahrens sind Letztere jedoch in zeitlicher Hinsicht anwendbar.

Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online

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