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Gerichtshof der Europäischen Union Urteil06.11.2018
Erworbener Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub darf nicht automatisch erlöschenBei willentlichem Verzicht auf Stellung eines Urlaubsantrags steht Unionsrecht dem Verlust des Urlaubsanspruch bzw. dem Anspruch auf finanzielle Vergütung nicht entgegen
Ein Arbeitnehmer darf seine erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub nicht automatisch deshalb verlieren, weil er keinen Urlaub beantragt hat. Weist der Arbeitgeber jedoch nach, dass der Arbeitnehmer aus freien Stücken und in voller Kenntnis der Sachlage darauf verzichtet hat, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, nachdem er in die Lage versetzt worden war, seinen Urlaubsanspruch tatsächlich wahrzunehmen, steht das Unionsrecht dem Verlust dieses Anspruchs und - bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses - dem entsprechenden Wegfall einer finanziellen Vergütung nicht entgegen.
Herr Kreuziger absolvierte als Rechtsreferendar beim Land Berlin seinen juristischen Vorbereitungsdienst. Während der letzten Monate nahm er keinen bezahlten Jahresurlaub. Nach dem Ende des Vorbereitungsdienstes beantragte er eine finanzielle Vergütung für die nicht genommenen Urlaubstage. Das Land lehnte den Antrag ab. Herr Kreuziger focht daraufhin die Ablehnung vor den deutschen Verwaltungsgerichten an.
Herr Shimizu war bei der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften beschäftigt. Etwa zwei Monate vor dem Ende des Arbeitsverhältnisses bat die Max-Planck-Gesellschaft Herrn Shimizu, seinen Resturlaub zu nehmen (ohne ihn jedoch zu verpflichten, den Urlaub zu einem von ihr festgelegten Termin zu nehmen). Herr Shimizu nahm nur zwei Urlaubstage und beantragte die Zahlung einer Vergütung für die nicht genommenen Urlaubstage, was die Max-Planck-Gesellschaft ablehnte. Herr Shimizu wandte sich daraufhin an die deutschen Arbeitsgerichte.
Nationale Gerichte erbitten Auslegung der EU-Richtlinie durch den EuGH
Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg und das Bundesarbeitsgericht legten dem Gerichtshof der Europäischen Union die Frage vor, ob das Unionsrecht einer nationalen Regelung* entgegensteht, die den Verlust des nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs und den Verlust der finanziellen Vergütung für diesen Urlaub vorsieht, wenn der Arbeitnehmer den Urlaub nicht vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses beantragt hat. Sie ersuchten daher den Gerichtshof, in diesem Kontext das Unionsrecht**auszulegen, wonach der Anspruch jedes Arbeitnehmers auf einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden darf.
Urlaubsanspruch kann nicht automatisch verloren gehen
Mit seinen Urteilen entschied der Gerichtshof, dass das Unionsrecht es nicht zulässt, dass ein Arbeitnehmer die ihm gemäß dem Unionsrecht zustehenden Urlaubstage und entsprechend seinen Anspruch auf eine finanzielle Vergütung für den nicht genommenen Urlaub automatisch schon allein deshalb verliert, weil er vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses (oder im Bezugszeitraum) keinen Urlaub beantragt hat.
Arbeitgeber muss gegebene Möglichkeiten zur Urlaubsnahme nachweisen können
Diese Ansprüche können nur untergehen, wenn der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber z.B. durch angemessene Aufklärung tatsächlich in die Lage versetzt wurde, die fraglichen Urlaubstage rechtzeitig zu nehmen, was der Arbeitgeber zu beweisen hat. Der Arbeitnehmer ist nämlich als die schwächere Partei des Arbeitsverhältnisses anzusehen. Er könnte daher davon abgeschreckt werden, seine Rechte gegenüber seinem Arbeitgeber ausdrücklich geltend zu machen, da insbesondere die Einforderung dieser Rechte ihn Maßnahmen des Arbeitgebers aussetzen kann, die sich zu seinem Nachteil auf das Arbeitsverhältnis auswirken können.
Bei vorliegenden Beweisen des Arbeitgebers steht Unionsrecht dem Verlust des Urlaubsanspruchs nicht entgegen
Ist der Arbeitgeber hingegen in der Lage, den ihm insoweit obliegenden Beweis zu erbringen, dass der Arbeitnehmer aus freien Stücken und in voller Kenntnis der Sachlage darauf verzichtet hat, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, nachdem er in die Lage versetzt worden war, seinen Urlaubsanspruch tatsächlich wahrzunehmen, steht das Unionsrecht dem Verlust dieses Anspruchs und - bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses - dem entsprechenden Wegfall der finanziellen Vergütung für den nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub nicht entgegen.
Bewusster Verzicht auf Urlaub zur Erhöhung der Vergütung mit Zielen der Unionsvorschrift unvereinbar
Jede Auslegung der fraglichen Unionsvorschriften, die den Arbeitnehmer dazu veranlassen könnte, aus freien Stücken in den betreffenden Bezugs- oder zulässigen Übertragungszeiträumen keinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, um seine Vergütung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu erhöhen, wäre nämlich mit den durch die Schaffung des Rechts auf bezahlten Jahresurlaub verfolgten Zielen unvereinbar. Diese bestehen u.a. darin, zu gewährleisten, dass der Arbeitnehmer zum wirksamen Schutz seiner Sicherheit und seiner Gesundheit über eine tatsächliche Ruhezeit verfügt.
Der Gerichtshof stellt weiter fest, dass die vorstehenden Grundsätze unabhängig davon gelten, ob es sich um einen öffentlichen Arbeitgeber (wie das Land Berlin) oder einen privaten Arbeitgeber (wie die Max-Planck-Gesellschaft) handelt.
Erläuterungen
§ 9 der Verordnung über den Erholungsurlaub der Beamten und Richter vom 26. April 1988 (GVBl. 1988, S. 846) bzw. § 7 des Bundesurlaubsgesetzes vom 8. Januar 1963 (BGBl. 1963, S. 2) in der Fassung vom 7. Mai 2002 (BGBl. 2002 I S. 1529).
** Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9) sowie die Charta der Grundrechte der Europäischen Union.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 07.11.2018
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Union/ra-online
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